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Document 62016CJ0565

Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 19. April 2018.
Verfahren auf Betreiben von Alessandro Saponaro und Kalliopi-Chloi Xylina.
Vorabentscheidungsersuchen des Eirinodikeio Lerou.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem im Namen eines minderjährigen Kindes ein Antrag auf richterliche Genehmigung zur Ausschlagung einer Erbschaft gestellt wurde – Zuständigkeit in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Zuständigkeitsvereinbarung – Art. 12 Abs. 3 Buchst. b – Anerkennung der Zuständigkeit – Voraussetzungen.
Rechtssache C-565/16.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2018:265

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

19. April 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem im Namen eines minderjährigen Kindes ein Antrag auf richterliche Genehmigung zur Ausschlagung einer Erbschaft gestellt wurde – Zuständigkeit in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Zuständigkeitsvereinbarung – Art. 12 Abs. 3 Buchst. b – Anerkennung der Zuständigkeit – Voraussetzungen“

In der Rechtssache C‑565/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Eirinodikeio Lerou (Friedensgericht Leros, Griechenland) mit Entscheidung vom 25. Oktober 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 9. November 2016, in dem Verfahren

Alessandro Saponaro,

Kalliopi‑Chloi Xylina

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. G. Fernlund (Berichterstatter) sowie der Richter A. Arabadjiev und E. Regan,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou, G. Papadaki und E. Tsaousi als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und A. Katsimerou als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Dezember 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens über einen Antrag, den Herr Alessandro Saponaro und Frau Kalliopi‑Chloi Xylina im Namen ihres minderjährigen Kindes gestellt haben und mit dem sie die richterliche Genehmigung zur Ausschlagung einer Erbschaft für dieses Kind begehren.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Der zwölfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.“

4

Art. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„(1)   Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

b)

die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.

(2)   Die in Absatz 1 Buchstabe b) genannten Zivilsachen betreffen insbesondere:

e)

die Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung und Erhaltung seines Vermögens oder der Verfügung darüber.

(3)   Diese Verordnung gilt nicht für

f)

Trusts und Erbschaften,

…“

5

Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung bestimmt:

„(1)   Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)   Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.“

6

Art. 12 („Vereinbarung über die Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt in seinen Abs. 1 bis 3:

„(1)   Die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem nach Artikel 3 über einen Antrag auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe zu entscheiden ist, sind für alle Entscheidungen zuständig, die die mit diesem Antrag verbundene elterliche Verantwortung betreffen, wenn

b)

die Zuständigkeit der betreffenden Gerichte von den Ehegatten oder von den Trägern der elterlichen Verantwortung zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt wurde und im Einklang mit dem Wohl des Kindes steht.

(2)   Die Zuständigkeit gemäß Absatz 1 endet,

a)

sobald die stattgebende oder abweisende Entscheidung über den Antrag auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe rechtskräftig geworden ist,

b)

oder in den Fällen, in denen zu dem unter Buchstabe a) genannten Zeitpunkt noch ein Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung anhängig ist, sobald die Entscheidung in diesem Verfahren rechtskräftig geworden ist,

c)

oder sobald die unter den Buchstaben a) und b) genannten Verfahren aus einem anderen Grund beendet worden sind.

(3)   Die Gerichte eines Mitgliedstaats sind ebenfalls zuständig in Bezug auf die elterliche Verantwortung in anderen als den in Absatz 1 genannten Verfahren, wenn

a)

eine wesentliche Bindung des Kindes zu diesem Mitgliedstaat besteht, insbesondere weil einer der Träger der elterlichen Verantwortung in diesem Mitgliedstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt

und

b)

alle Parteien des Verfahrens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts die Zuständigkeit ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt haben und die Zuständigkeit in Einklang mit dem Wohl des Kindes steht.“

Griechisches Recht

7

Nach Art. 797 des Kodikas Politikis Dikonomias (Zivilprozessgesetzbuch) ist im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit für den Genehmigungsantrag, den ein Träger der elterlichen Verantwortung für einen Minderjährigen stellt, das Friedensgericht des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Minderjährigen zuständig.

8

Aus Art. 748 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 750 des Zivilprozessgesetzbuchs ergibt sich, dass eine Abschrift des Antrags mit einem Aktenvermerk über die Anberaumung des Sitzungstermins an den für den Gerichtsbezirk zuständigen Eisangeleas Protodikon (Staatsanwalt) zu übermitteln ist, der befugt ist, an der mündlichen Verhandlung vor dem Friedensgericht teilzunehmen.

9

Der Staatsanwalt ist „Partei“ in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit und befugt, jede Verfahrenshandlung vorzunehmen, wie die Einlegung eines Rechtsbehelfs, und zwar unabhängig davon, ob er zur mündlichen Verhandlung geladen wurde und ob er daran teilgenommen hat.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

10

Herr Saponaro und Frau Xylina beantragen im Namen ihres minderjährigen Kindes griechischer Staatsangehörigkeit beim Eirinodikeio Lerou (Friedensgericht Leros, Griechenland) die Genehmigung, das Erbe nach dem Großvater mütterlicherseits (im Folgenden: Erblasser) dieses Kindes auszuschlagen.

11

Der Erblasser verstarb am 10. Mai 2015, ohne ein Testament hinterlassen zu haben. Zum Zeitpunkt seines Todes wohnte er in Griechenland. Sein Nachlass bestand aus einem Auto und einem Boot im Gesamtwert von 900 Euro, die sich beide in diesem Mitgliedstaat befinden. Der Erblasser war wegen versuchten Betrugs strafrechtlich verurteilt worden, und für seine Erben besteht die Gefahr, dass die Geschädigte eine zivile Schadensersatzklage gegen sie erhebt.

12

Aus diesem Grund haben die Ehefrau und die Töchter des Erblassers – oder die Großmutter, die Mutter und die Tante des minderjährigen Kindes – die Erbschaft bereits ausgeschlagen, und der Vater und die Mutter dieses Kindes beantragten in seinem Namen die Genehmigung zur Ausschlagung der Erbschaft, die bei ihm anfiel.

13

Herr Saponaro und Frau Xylina sowie ihr minderjähriges Kind haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Rom (Italien).

14

Das Eirinodikeio Lerou (Friedensgericht Leros) stellt sich die Frage nach der Zuständigkeit der griechischen Gerichte für die Entscheidung über den Antrag der Eltern und insbesondere nach der Möglichkeit einer Zuständigkeitsvereinbarung auf der Grundlage des Art. 12 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003.

15

Unter diesen Umständen hat das Eirinodikeio Lerou (Friedensgericht Leros) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist in dem Fall, dass die Eltern eines minderjährigen Kindes, das seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Italien hat, bei einem griechischen Gericht eine Genehmigung zur Ausschlagung einer Erbschaft beantragen, im Hinblick darauf, ob eine wirksame Vereinbarung über die Zuständigkeit nach Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 vorliegt, davon auszugehen, dass

a)

in der bloßen Antragstellung bei dem griechischen Gericht eine eindeutige Vereinbarung über die Zuständigkeit seitens der Eltern liegt,

b)

der Staatsanwalt, der nach griechischem Recht kraft Gesetzes Partei des betreffenden Verfahrens ist, eine der Parteien ist, die zum Zeitpunkt der Antragstellung die Zuständigkeit anerkennen müssen,

c)

die Zuständigkeitsvereinbarung im Einklang mit dem Wohl des Kindes steht, wenn dieses und seine antragstellenden Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Italien haben, der Erblasser seinen letzten Wohnsitz aber in Griechenland hatte und der Nachlass dort belegen ist?

Vorbemerkungen

16

Vorab ist zu prüfen, ob die Verordnung Nr. 2201/2003 zur Bestimmung des zuständigen Gerichts in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens anwendbar ist. Den Rahmen dafür bildet nämlich eine Erbschaft, und in Art. 1 Abs. 3 Buchst. f der Verordnung Nr. 2201/2003 ist geregelt, dass sie nicht für Erbschaften gilt.

17

Der Gerichtshof hat insoweit im Urteil vom 6. Oktober 2015, Matoušková (C‑404/14, EU:C:2015:653, Rn. 31), bereits entschieden, dass die Tatsache, dass eine Maßnahme – wie die Genehmigung einer für minderjährige Kinder geschlossenen Erbauseinandersetzungsvereinbarung durch das Vormundschaftsgericht – im Rahmen eines Nachlassverfahrens beantragt worden ist, nicht als entscheidend dafür angesehen werden kann, dass diese Maßnahme unter das Erbrecht fällt. Die Notwendigkeit, eine Genehmigung des Vormundschaftsgerichts einzuholen, ist eine unmittelbare Folge des Personenstands und der Rechts‑, Geschäfts‑ und Handlungsfähigkeit der minderjährigen Kinder und stellt eine Maßnahme zum Schutz des Kindes dar, die mit der Verwaltung und Erhaltung seines Vermögens oder der Verfügung darüber im Rahmen der Ausübung der elterlichen Verantwortung im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 2201/2003 in Zusammenhang steht.

18

In gleicher Weise ist davon auszugehen, dass ein von Eltern im Namen ihres minderjährigen Kindes gestellter Antrag auf Genehmigung der Ausschlagung einer Erbschaft den Personenstand und die Rechts‑, Geschäfts‑ und Handlungsfähigkeit der Person betrifft und nicht dem Erbrecht unterfällt.

19

Folglich fällt ein solcher Antrag nicht unter das Erbrecht, sondern gehört zur elterlichen Verantwortung, weshalb die vorgelegte Frage anhand der Verordnung Nr. 2201/2003 zu prüfen ist.

Zur Vorlagefrage

20

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Eltern eines minderjährigen Kindes, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt mit diesem Kind in einem Mitgliedstaat haben, bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats im Namen dieses Kindes eine Genehmigung zur Ausschlagung einer Erbschaft beantragt haben, Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass die Vereinbarung über die Zuständigkeit des Gerichts dieses anderen Mitgliedstaats dem Wortlaut dieser Bestimmung und insbesondere dem Kindeswohl gerecht wird, wenn der Antrag von den Eltern dieses Kindes gemeinsam bei dem genannten Gericht gestellt wurde, der Staatsanwalt, der nach dem anwendbaren nationalen Recht kraft Gesetzes Partei des betreffenden Verfahrens ist, keine Einwände gegen diese Zuständigkeitsvereinbarung erhoben hat, der Erblasser seinen letzten Wohnsitz in diesem anderen Mitgliedstaat hatte und auch der Nachlass dort belegen ist.

21

Diese Frage betrifft somit erstens den Begriff der „ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannten“ Zuständigkeit, zweitens die Wendung „alle Parteien des Verfahrens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts“ und drittens den Begriff „Wohl des Kindes“ in Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003.

Zum Begriff „ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt“

22

Gemäß Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 muss die Zuständigkeit eines Gerichts im Sinne dieser Bestimmung ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt werden.

23

Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 12. November 2014, L (C‑656/13, EU:C:2014:2364, Rn. 56), befunden hat, muss nach dieser Bestimmung das Bestehen einer ausdrücklichen oder zumindest eindeutigen Vereinbarung über die Zuständigkeit zwischen allen Parteien des Verfahrens nachgewiesen werden.

24

Eine solche Vereinbarung besteht nicht, wenn nur eine Partei ein Gericht anruft und eine andere Partei sich später vor demselben Gericht einlässt, aber um dessen Zuständigkeit zu bestreiten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. November 2014, L,C‑656/13, EU:C:2014:2364, Rn. 57).

25

Wenn dagegen beide Eltern eines minderjährigen Kindes einen gemeinsamen Antrag bei demselben Gericht stellen, ist festzustellen, dass sie den gleichen Willen zur Anrufung dieses Gerichts und damit ihr Einverständnis mit der Wahl des zuständigen Gerichts zum Ausdruck bringen. In Ermangelung sonstiger, dieser Feststellung widersprechender Fakten ist die Anerkennung als „eindeutig“ im Sinne des Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 zu betrachten.

Zur Wendung „alle Parteien des Verfahrens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts“

26

Was die Wendung „alle Parteien des Verfahrens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts“ betrifft, ist zu prüfen, ob der Staatsanwalt, der nach dem nationalen Recht kraft Gesetzes Partei des Verfahrens ist, auch eine „Partei“ im Sinne des Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 ist. Das vorlegende Gericht stellt fest, dass der Staatsanwalt als Vertreter des Staates und im Allgemeininteresse handelt und dass im Fall eines Antrags auf Genehmigung der Ausschlagung einer Erbschaft im Namen eines minderjährigen Kindes das Allgemeininteresse dem Interesse des Kindes entspricht.

27

Hierzu ist in Ansehung des zwölften Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 2201/2003 darauf hinzuweisen, dass die in Art. 12 Abs. 3 dieser Verordnung vorgesehene Zuständigkeit eine Ausnahme zu dem in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung zum Ausdruck kommenden Kriterium der räumlichen Nähe bildet, wonach es vorzugsweise Sache der Gerichte des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes ist, über die dieses Kind betreffenden Klagen auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung zu entscheiden. Diese Ausnahme zielt darauf ab, den Parteien auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung eine gewisse Autonomie einzuräumen, wobei hervorgehoben wird, dass die Voraussetzung, dass sämtliche Parteien des Verfahrens die Zuständigkeit der befassten Gerichte auf eindeutige Weise anerkennen müssen, eng auszulegen ist (Urteil vom 21. Oktober 2015, Gogova, C‑215/15, EU:C:2015:710, Rn. 41).

28

Wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist herauszustellen, dass in dem Ausdruck „alle Parteien des Verfahrens“ das Wort „alle“ verwendet wird, das den genaueren Begriffen „Ehegatten“ oder „Träger der elterlichen Verantwortung“ in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 gegenüberzustellen ist. Der Unionsgesetzgeber hat somit mit Bedacht einen Begriff verwendet, der sämtliche Parteien des Verfahrens im Sinne des nationalen Rechts umfasst.

29

Daher ist ein Staatsanwalt, der nach nationalem Recht in Verfahren wie dem des Ausgangsverfahrens die Eigenschaft einer Partei des Verfahrens hat und für das Kindeswohl eintritt, als Partei des Verfahrens im Sinne des Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 anzusehen. Folglich kann sein Einspruch gegen eine Zuständigkeitsvereinbarung nicht außer Acht gelassen werden.

30

In Bezug auf den Zeitpunkt, zu dem die Anerkennung durch die Parteien des Verfahrens erfolgt sein muss, d. h. den Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts, ergibt sich aus Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003, dass dieser Zeitpunkt grundsätzlich der ist, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde (Urteile vom 1. Oktober 2014, E., C‑436/13, EU:C:2014:2246, Rn. 38, und vom 12. November 2014, L, C‑656/13, EU:C:2014:2364, Rn. 55).

31

Der Eintritt bestimmter Sachverhalte nach dem Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts kann jedoch zeigen, dass es zu diesem Zeitpunkt an der Anerkennung nach Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 gefehlt hat. So hat der Gerichtshof im Urteil vom 12. November 2014, L (C‑656/13, EU:C:2014:2364, Rn. 56 und 57), befunden, dass das Bestehen einer ausdrücklichen oder zumindest eindeutigen Vereinbarung im Sinne dieser Bestimmung offensichtlich nicht erwiesen sein kann, wenn das fragliche Gericht nur von einer der Parteien des Verfahrens angerufen wird und eine andere Partei dieses Verfahrens später ab der ersten ihr in diesem Verfahren obliegenden Handlung die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts bestreitet.

32

Entsprechend verhindert, wenn ein Staatsanwalt nach dem anwendbaren nationalen Recht kraft Gesetzes als Partei eines Verfahrens betreffend die elterliche Verantwortung angesehen wird, sein Einspruch gegen die Wahl des Gerichtsstands durch die Eltern des betroffenen Kindes nach dem Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts, dass die Anerkennung der Zuständigkeit durch alle Parteien des Verfahrens zu diesem Zeitpunkt bejaht werden kann. Ohne einen solchen Einspruch kann hingegen das Einverständnis dieser Partei als stillschweigend gegeben angenommen werden, und die Voraussetzung, wonach die Zuständigkeit durch alle Parteien des Verfahrens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts auf eindeutige Weise anerkannt worden sein muss, kann als erfüllt angesehen werden.

Zum Begriff „Wohl des Kindes“

33

Aus Art. 12 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt sich, dass der Rückgriff auf eine Zuständigkeitsvereinbarung in keinem Fall dem Kindeswohl zuwiderlaufen darf und die Einhaltung dieser Voraussetzung in jedem Einzelfall zu prüfen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. November 2014, L, C‑656/13, EU:C:2014:2364, Rn. 49 und 58).

34

Im Urteil vom 27. Oktober 2016, D. (C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 58), das die Auslegung des Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 betrifft, der die Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann, regelt, hat der Gerichtshof entschieden, dass die Anforderung, dass die Verweisung dem Kindeswohl entsprechen muss, voraussetzt, dass sich das zuständige Gericht anhand der konkreten Umstände des Falles vergewissert, dass die von ihm erwogene Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats nicht die Gefahr nachteiliger Auswirkungen auf die Lage des Kindes birgt.

35

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass im zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003, nach dem die in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohle des Kindes entsprechend ausgestaltet wurden, ausdrücklich die Möglichkeit genannt wird, dass die Zuständigkeit bei einem anderen Mitgliedstaat als dem des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes liegt, wenn die Träger der elterlichen Verantwortung eine entsprechende Vereinbarung geschlossen haben.

36

Im vorliegenden Fall wurde eine solche Vereinbarung zwischen den Eltern des Kindes getroffen. Das vorlegende Gericht stellt zudem fest, dass nicht nur das Kind die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats hat, dessen Gericht angerufen wurde, sondern auch der Erblasser seinen letzten Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat hatte und der Nachlass dort belegen ist. Weiter ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass das Gleiche auch für die Nachlassverbindlichkeiten gilt.

37

Diese Gesichtspunkte verstärken die Verbindung zwischen dem Kind und dem Mitgliedstaat, dessen Gericht angerufen wurde, und dieses kann dann, wie der Generalanwalt in Nr. 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, den Kontext der Ausschlagung der Erbschaft im Namen des Kindes gut beurteilen.

38

Zudem hat das vorlegende Gericht keinen Hinweis gegeben, aus dem sich ergäbe, dass die Befassung des von den Eltern gewählten Gerichts zu irgendeiner Beeinträchtigung des Wohls des Kindes führen würde. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich insbesondere, dass der Staatsanwalt selbst, der verpflichtet ist, das Kindeswohl zu schützen, keine Einwände gegen diese Wahl erhoben hat.

39

In einem solchen Zusammenhang erlauben die Angaben des vorlegenden Gerichts, die die Verbindung zwischen dem Kind und dem Mitgliedstaat, zu dem dieses Gericht gehört, unterstreichen, die Annahme, dass die Voraussetzung der Berücksichtigung des Kindeswohls erfüllt ist.

40

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Eltern eines minderjährigen Kindes, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt mit diesem Kind in einem Mitgliedstaat haben, bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats im Namen dieses Kindes eine Genehmigung zur Ausschlagung einer Erbschaft beantragt haben, Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass

in der gemeinsamen Antragstellung der Eltern des Kindes beim Gericht ihrer Wahl ihre eindeutige Anerkennung dieses Gerichts liegt;

ein Staatsanwalt, der nach nationalem Recht kraft Gesetzes Partei des von den Eltern eingeleiteten Verfahrens ist, eine Partei des Verfahrens im Sinne des Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 ist. Der Einspruch dieser Partei gegen die von den Eltern des Kindes getroffene Wahl des Gerichtsstands nach dem Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts steht einer Bejahung der Anerkennung der Zuständigkeit durch alle Parteien des Verfahrens zu diesem Zeitpunkt entgegen. Ohne einen solchen Einspruch kann das Einverständnis dieser Partei als stillschweigend gegeben angenommen werden, und die Voraussetzung, wonach die Zuständigkeit durch alle Parteien des Verfahrens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts auf eindeutige Weise anerkannt worden sein muss, kann als erfüllt angesehen werden;

der Umstand, dass der Erblasser seinen letzten Wohnsitz in dem Mitgliedstaat, dessen Gericht angerufen wurde, hatte, der Nachlass dort belegen ist und die Nachlassverbindlichkeiten dort bestehen, in Ermangelung von Anhaltspunkten dafür, dass die Vereinbarung über die Zuständigkeit die Gefahr nachteiliger Auswirkungen auf die Lage des Kindes birgt, die Annahme erlaubt, dass eine solche Vereinbarung über die Zuständigkeit in Einklang mit dem Wohl des Kindes steht.

Kosten

41

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

 

In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Eltern eines minderjährigen Kindes, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt mit diesem Kind in einem Mitgliedstaat haben, bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats im Namen dieses Kindes eine Genehmigung zur Ausschlagung einer Erbschaft beantragt haben, ist Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 dahin auszulegen, dass

 

in der gemeinsamen Antragstellung der Eltern des Kindes beim Gericht ihrer Wahl ihre eindeutige Anerkennung dieses Gerichts liegt;

ein Staatsanwalt, der nach nationalem Recht kraft Gesetzes Partei des von den Eltern eingeleiteten Verfahrens ist, eine Partei des Verfahrens im Sinne des Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 ist. Der Einspruch dieser Partei gegen die von den Eltern des Kindes getroffene Wahl des Gerichtsstands nach dem Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts steht einer Bejahung der Anerkennung der Zuständigkeit durch alle Parteien des Verfahrens zu diesem Zeitpunkt entgegen. Ohne einen solchen Einspruch kann das Einverständnis dieser Partei als stillschweigend gegeben angenommen werden, und die Voraussetzung, wonach die Zuständigkeit durch alle Parteien des Verfahrens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts auf eindeutige Weise anerkannt worden sein muss, kann als erfüllt angesehen werden;

der Umstand, dass der Erblasser seinen letzten Wohnsitz in dem Mitgliedstaat, dessen Gericht angerufen wurde, hatte, der Nachlass dort belegen ist und die Nachlassverbindlichkeiten dort bestehen, in Ermangelung von Anhaltspunkten dafür, dass die Vereinbarung über die Zuständigkeit die Gefahr nachteiliger Auswirkungen auf die Lage des Kindes birgt, die Annahme erlaubt, dass eine solche Vereinbarung über die Zuständigkeit in Einklang mit dem Wohl des Kindes steht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Griechisch.

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