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Document 52009DC0313

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat - Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten

/* KOM/2009/0313 endg. */

52009DC0313

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten /* KOM/2009/0313 endg. */


[pic] | KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN |

Brüssel, den 2.7.2009

KOM(2009) 313 endgültig

MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT

Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten

MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT

Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Text von Bedeutung für den EWR)

1. EINLEITUNG

Am 10. Dezember 2008 nahm die Kommission ihren Bericht[1] über die Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG[2] an, der einen umfassenden Überblick über die Umsetzung der Richtlinie in innerstaatliches Recht und deren Anwendung im Alltag gibt.

Die Umsetzung der Richtlinie fällt dem Bericht zufolge insgesamt eher enttäuschend aus, insbesondere was Kapitel VI angeht (in dem das Recht der Mitgliedstaaten geregelt wird, das Einreise- und Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zu beschränken) und Artikel 35 (dem zufolge die Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Verhinderung von Rechtsmissbrauch und Betrug – z. B. Scheinehen – treffen können) .

Die Kommission kündigte in dem Bericht an, dass sie beabsichtige, sowohl den Mitgliedstaaten als auch den Unionsbürgern Informationen und Unterstützung zu bieten und zu diesem Zweck im ersten Halbjahr 2009 Leitlinien zu mehreren Punkten herauszugeben, deren Umsetzung oder Anwendung als problematisch erkannt wurde. Rat[3] und Europäisches Parlament[4] begrüßten diese Absicht. Die nachstehenden Erläuterungen geben den Standpunkt der Kommission wieder. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und deren Weiterentwicklung bleiben hiervon unberührt.

Diese Mitteilung soll den Mitgliedstaaten bei der korrekten Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, helfen mit dem Ziel, allen EU-Bürgern konkrete Erleichterungen zu verschaffen und aus der EU einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu machen.

Probleme traten dem Bericht zufolge häufig im Zusammenhang mit dem Recht auf Einreise und Aufenthalt von Familienangehörigen aus Drittstaaten auf sowie mit dem Erfordernis, zusammen mit dem Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung zusätzliche Dokumente einzureichen, die in der Richtlinie nicht vorgesehen sind. Die Kommission kündigte in dem Bericht an, dass sie sich stärker dafür einsetzen wird, dass die Richtlinie korrekt umgesetzt und angewandt wird. So wird die Kommission ihre Bemühungen fortsetzen, um die Bürger unter anderem mit Hilfe des Internet über ihre Rechte aus der Richtlinie zu informieren, und einen vereinfachten Leitfaden für EU-Bürger herausgeben. Darüber hinaus wird die Kommission in bilateralen Gesprächen mit den Mitgliedstaaten Fragen im Zusammenhang mit der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie erörtern. Sie wird die ihr durch den EG-Vertrag übertragenen Befugnissen voll ausschöpfen.

Mehr als 8 Millionen Unionsbürger haben bislang von ihrem Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt Gebrauch gemacht und leben inzwischen in einem anderen EU-Mitgliedstaat. Die Freizügigkeit gehört zu den Grundfreiheiten des Binnenmarkts und ist zentraler Bestandteil des europäischen Aufbauwerks. In der Richtlinie 2004/38/EG wurden die geltenden Gemeinschaftsvorschriften überarbeitet und kodifiziert, um die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt für Unionsbürger und ihre Familienangehörige zu erleichtern und zu stärken. Die Kommission schickt als allgemeine Bemerkung voraus, dass die Richtlinie im Einklang mit den Grundrechten auszulegen und anzuwenden ist[5]. Dies gilt insbesondere für das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das Diskriminierungsverbot, die Rechte des Kindes und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, wie sie durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert werden und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt sind.

Die Freizügigkeit gehört zu den Grundpfeilern der EU. Ausnahmen hiervon müssen folglich eng ausgelegt werden[6]. Das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU gilt jedoch nicht unbeschränkt. Es begründet für die Begünstigten auch Pflichten, zu denen unter anderem die Pflicht gehört, die Gesetze des Aufnahmelands zu befolgen.

2. EU-BÜRGER UND IHRE FAMILIENANGEHÖRIGEN AUS DRITTSTAATEN – EINREISE UND AUFENTHALT

Die Richtlinie[7] gilt nur für EU-Bürger, die sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, begeben oder sich dort aufhalten, sowie für ihre Familienangehörigen, die sie begleiten oder ihnen nachziehen.

T. ist Angehörige eines Drittstaats und wohnt für eine Zeitlang in einem EU-Mitgliedstaat. Sie möchte, dass ihr Ehemann, der ebenfalls Drittstaatsangehöriger ist, ihr nachzieht. Da keiner der beiden die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats besitzt, können sie sich nicht auf die Richtlinie berufen. Die Regelung des Nachzugsrechts bei Ehegatten, die beide Angehörige eines Drittstaats sind, obliegt allein dem betreffenden Mitgliedstaat unter Beachtung – sofern anwendbar – anderer einschlägiger EG-Vorschriften.

EU-Bürger, die in dem Mitgliedstaat wohnen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, können die gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsbestimmungen normalerweise nicht in Anspruch nehmen; ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten unterliegen weiterhin dem einzelstaatlichen Einwanderungsrecht. Dies gilt jedoch nicht für EU-Bürger, die in ihren Heimatmitgliedstaat zurückkehren, nachdem sie eine Zeitlang in einem anderen Mitgliedstaat gewohnt haben[8], sowie unter bestimmten Voraussetzungen auch für EU-Bürger, die ihr Recht auf Freizügigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt haben, ohne sich dort länger aufzuhalten[9] ( beispielsweise durch Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat, ohne dort Aufenthalt genommen zu haben ).

P. wohnt in dem Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit. Es gefällt ihm dort. Er hat noch nie in einem anderen Mitgliedstaat gewohnt. Er hat eine Drittstaatsangehörige geheiratet und will, dass sie zu ihm zieht. Die Richtlinie ist in diesem Fall nicht anwendbar. Die Regelung des Nachzugsrechts von Ehegatten aus Drittstaaten ist allein Sache des betreffenden Mitgliedstaats.

Für Grenzgänger gilt das Gemeinschaftsrecht in beiden Ländern (als Wanderarbeitnehmer im Mitgliedstaat der Beschäftigung und als wirtschaftlich unabhängige Person im Wohnsitzmitgliedstaat) .

2.1. Familienangehörige und andere Begünstigte

2.1.1. Ehegatten und Lebenspartner

Rechtsgültig geschlossene Ehen sind grundsätzlich unabhängig vom Ort der Eheschließung für die Zwecke der Richtlinie anzuerkennen. Zwangsehen , die gegen den Willen oder ohne Zustimmung eines oder beider Ehegatten geschlossen worden sind, sind weder völkerrechtlich[10] noch gemeinschaftsrechtlich geschützt. Zwangsehen sind weder mit arrangierten Ehen gleichzusetzen, wo beide Parteien der Ehe uneingeschränkt und aus freien Stücken zustimmen, obwohl der Ehepartner von einer dritten Person ausgesucht worden ist, noch mit Scheinehen, auf die unter 4.2 näher eingegangen wird.

Die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, in einem Drittland rechtmäßig geschlossene Vielehen anzuerkennen, die im Widerspruch zu ihrer eigenen Rechtsordnung stehen [11] . Die Pflicht, dem Wohl der Kinder aus solchen Ehen Rechnung zu tragen, bleibt hiervon unberührt .

Die Richtlinie muss im Einklang mit dem Diskriminierungsverbot gemäß Artikel 21 der EU-Grundrechtecharta angewandt werden.

Die Richtlinie gilt gemäß Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe b für einen Lebenspartner, mit dem ein Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist. Von Personen, die ihre Rechte aus der Richtlinie von einer dauerhaften Beziehung zu einem EU-Bürger ableiten, kann ein schriftlicher Nachweis verlangt werden, dass sie Lebenspartner eines EU-Bürgers sind und dass es sich um eine dauerhafte Beziehung handelt. Der Nachweis kann in jeder geeigneten Form erfolgen.

Das Erfordernis der Dauerhaftigkeit der Beziehung muss im Hinblick auf die Zielsetzung der Richtlinie, die Einheit der Familie im weiteren Sinne zu wahren, beurteilt werden[12]. Das einzelstaatliche Recht kann als Kriterium für die Dauerhaftigkeit einer Beziehung eine bestimmte Mindestdauer festlegen. In diesem Fall müssen jedoch gleichzeitig auch andere Aspekte in Betracht gezogen werden ( z. B. die Aufnahme einer gemeinsamen Hypothek für den Kauf eines Hauses) . Jede Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts muss schriftlich und rechtsmittelfähig begründet werden.

2.1.2. Direkte Verwandte

Unabhängig von Fragen im Zusammenhang mit der Anerkennung von Entscheidungen einzelstaatlicher Behörden umfasst der Begriff der Verwandten in gerader absteigender und aufsteigender Linie auch Adoptivverhältnisse[13] oder Minderjährige, die auf Dauer der Obhut eines gesetzlichen Vormunds unterstellt sind. Pflegekinder und Pflegeeltern, denen vorübergehend das Sorgerecht erteilt wurde, können je nach der Stärke der Bindung im Einzelfall Rechte aus der Richtlinie geltend machen. Hinsichtlich des Verwandtschaftsgrads gibt es keine Beschränkung. Die einzelstaatlichen Behörden können einen Nachweis des Familienverhältnisses verlangen.

Die Mitgliedstaaten müssen bei der Umsetzung der Richtlinie stets das Wohl des Kindes im Sinne des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes im Auge behalten.

2.1.3. Sonstige Familienangehörige

Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe a enthält keinerlei Beschränkungen in Bezug auf den Verwandtschaftsgrad, wenn von anderen Familienangehörigen die Rede ist.

2.1.4. Familienangehörige, denen Unterhalt gewährt wird

Nach der Rechtsprechung[14] des EuGH ergibt sich die Eigenschaft als Familienangehöriger, dem „ Unterhalt gewährt “ wird, aus einer tatsächlichen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der erforderliche Unterhalt des Familienangehörigen vom Gemeinschaftsangehörigen, der von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, oder seinem Ehegatten materiell sichergestellt [15] wird. Die Eigenschaft als Familienangehöriger, dem Unterhalt gewährt wird, setzt keinen Unterhaltsanspruch voraus. Es braucht nicht geprüft zu werden, ob der Betroffene theoretisch in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt durch Ausübung einer entgeltlichen Tätigkeit zu bestreiten.

Um zu ermitteln, ob einem Familienangehörigen Unterhalt gewährt wird, muss im Einzelfall geprüft werden, ob die Person in Anbetracht ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht in der Lage ist, ihre Grundbedürfnisse im Heimatstaat oder in dem Staat, von dem aus sie den Antrag auf Zusammenführung mit dem EU-Bürger gestellt hat (d. h. nicht im Aufnahmemitgliedstaat, in dem der EU-Bürger wohnt) , selbst zu decken. In seinen Urteilen zum Begriff des Unterhaltsbedarfs nahm der EuGH zur Bestimmung des Bedarfs an finanzieller Unterstützung durch den Unionsbürger nicht auf einen bestimmten Lebensstandard Bezug[16].

Die Richtlinie schreibt weder eine Mindestdauer für die Gewährung des Unterhalts noch eine Mindesthöhe für die geleistete materielle Unterstützung vor. Es muss sich lediglich um einen echten, strukturbedingten Unterstützungsbedarf handeln.

Auf Unterstützung angewiesene Familienangehörige müssen einen schriftlichen Nachweis beibringen, dass sie unterhaltsbedürftig sind. Der Nachweis kann laut EuGH mit jedem geeigneten Mittel geführt werden[17]. Ist der betreffende Familienangehörige in der Lage, das Unterstützungsverhältnis mit anderen Mitteln als einer Bescheinigung der zuständigen Behörde des Heimat- oder Herkunftsstaats nachzuweisen, darf der Aufnahmemitgliedstaat die Anerkennung seiner Rechte nicht verweigern. Dagegen reicht die bloße Verpflichtungserklärung des EU-Bürgers, dem betroffenen Familienangehörigen Unterhalt zu gewähren, nicht als Nachweis dafür aus, dass dieser tatsächlich unterhaltsbedürftig ist.

Nach Artikel 3 Absatz 2 verfügen die Mitgliedstaaten über ein gewisses Ermessen, um Kriterien festzulegen, die bei der Entscheidung über die Vorzugsbehandlung anderer auf Unterstützung angewiesener Familienangehöriger nach Maßgabe der Richtlinie zu berücksichtigen sind. Die Mitgliedstaaten sind bei der Festlegung solcher Kriterien jedoch nicht völlig frei. Um die Einheit der Familie im weiteren Sinn zu wahren, muss im innerstaatlichen Recht eine eingehende Prüfung der persönlichen Umstände des Antragstellers vorgesehen sein, wobei nach Erwägungsgrund 6 der Richtlinie dessen Beziehung zu dem Unionsbürger sowie anderen Aspekten, wie seiner finanziellen oder physischen Abhängigkeit von dem Unionsbürger, Rechnung zu tragen ist.

Eine ablehnende Entscheidung unterliegt den in der Richtlinie vorgesehenen materiell- und verfahrensrechtlichen Garantien. Die Entscheidung muss schriftlich und rechtsmittelfähig begründet werden.

2.2. Einreise und Aufenthalt von Familienangehörigen aus Drittstaaten

2.2.1. Einreisevisum

Nach Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten von Familienangehörigen aus Drittstaaten, die einen EU-Bürger, auf den die Richtlinie Anwendung findet, begleiten oder ihm nachziehen, ein Einreisevisum fordern. Diese Familienangehörigen haben nicht nur das Recht auf Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, sondern auch das Recht auf ein Einreisevisum [18]. Dies unterscheidet sie von anderen Drittstaatsangehörigen, die dieses Recht nicht haben.

Einreisevisa für Kurzaufenthalte sollten Familienangehörigen aus Drittstaaten so bald wie möglich in einem beschleunigten Verfahren unentgeltlich erteilt werden. Analog zu Artikel 23 des Visakodexes[19] sind Verzögerungen von mehr als vier Wochen nach Ansicht der Kommission nicht tragbar. Die Behörden der Mitgliedstaaten sollten die Familienangehörigen beraten, welche Art von Visum sie beantragen sollen. Sie dürfen von ihnen nicht verlangen, dass sie ein Langzeitvisum, eine Aufenthaltskarte oder ein Visum zur Familienzusammenführung beantragen. Die Mitgliedstaaten müssen alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um diesen Personen die Beschaffung der erforderlichen Visa zu erleichtern. Sie können Servicerufnummern einrichten oder die Leistungen eines externen Unternehmens zur Vereinbarung von Terminen in Anspruch nehmen. Sie müssen Familienangehörigen aus Drittstaaten aber auch die Möglichkeit bieten, sich direkt an das Konsulat zu wenden.

Da sich der Anspruch auf Ausstellung eines Einreisevisums aus dem Familienverhältnis zum EU-Bürger ableitet, dürfen die Mitgliedstaaten nur die Vorlage eines gültigen Reisepasses und den Nachweis des Bestehens einer familiären Beziehung[20] verlangen (gegebenenfalls kann auch verlangt werden, dass ein Unterhaltsverhältnis, schwerwiegende gesundheitliche Gründe oder die Dauerhaftigkeit der Partnerschaft nachgewiesen wird) . Die Vorlage weiterer Dokumente wie Wohnungsnachweis, Bescheinigung über ausreichende Mittel zum Lebensunterhalt, Einladungsschreiben oder Rückfahrkarte/Rückflugticket dürfen nicht verlangt werden.

Die Mitgliedstaaten können die Integration der EU-Bürger und ihrer Familienangehörigen aus Drittstaaten durch das Angebot von Sprachkursen oder anderen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Kursen fördern[21]. Die Ablehnung, an solchen Kursen teilzunehmen, darf für den Betroffenen keine nachteiligen Konsequenzen haben.

Aufenthaltskarten, die nach Artikel 10 den Familienangehörigen eines Unionsbürgers ausgestellt werden, der sich im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, einschließlich der von anderen Mitgliedstaaten ausgestellten Aufenthaltskarten, befreien den Inhaber dieser Karte von der Visumpflicht, wenn er in Begleitung des EU-Bürgers reist oder ihm in den Aufnahmemitgliedstaat nachzieht.

Aufenthaltskarten, die nicht auf der Grundlage der Richtlinie ausgestellt werden, können den Inhaber von der Visumpflicht aufgrund der Schengen-Vorschriften befreien[22].

2.2.2. Aufenthaltskarten

Zum Nachweis des Aufenthaltsrechts von Familienangehörigen aus einem Drittstaat wird gemäß Artikel 10 Absatz 1 der Richtlinie eine so genannte „ Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers “ ausgestellt. Die Bezeichnung dieser Aufenthaltskarte darf nicht von dem in der Richtlinie vorgegebenen Wortlaut abweichen, da unterschiedliche Bezeichnungen die Anerkennung der Aufenthaltskarte in anderen Mitgliedstaaten als Befreiung des Inhabers dieser Karte von der Visumpflicht gemäß Artikel 5 Absatz 2 materiell unmöglich machen würden.

Das Format der Aufenthaltskarte ist nicht festgelegt. Die Mitgliedstaaten können das Format selbst bestimmen[23]. Die Aufenthaltskarte darf jedoch nicht in Form eines Passaufklebers ausgestellt werden, sondern muss ein eigenständiges Dokument sein, da andernfalls die Gültigkeit der Karte beschränkt werden könnte, was im Widerspruch zu Artikel 11 Absatz 1 stünde.

Die Aufenthaltskarte muss innerhalb von sechs Monaten nach Antragstellung ausgestellt werden . Die Frist muss mit Blick auf Artikel 10 EG-Vertrag ausgelegt werden. Die Frist von sechs Monaten darf nur in Fällen ausgeschöpft werden, in denen bei der Prüfung des Antrags Aspekte der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu berücksichtigen sind[24].

Die Liste der Dokumente [25], die zusammen mit dem Antrag auf Ausstellung der Aufenthaltskarte vorzulegen sind, ist, wie in Erwägungsgrund 14 bestätigt wird, abschließend festgelegt. Es dürfen keine weiteren Dokumente verlangt werden.

Ist die zuständige nationale Behörde nicht der Sprache mächtig, in der ein Dokument abgefasst ist, oder bestehen Zweifel an der Echtheit eines Dokuments, können die Mitgliedstaaten eine Übersetzung, notarielle Beglaubigung oder Legalisation des betreffenden Dokuments verlangen.

2.3. Recht der EU-Bürger auf Aufenthalt für mehr als drei Monate

Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, wenn er in diesem Staat als Arbeitnehmer oder Selbstständiger tätig ist. Studenten und nicht erwerbstätige EU-Bürger müssen für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen.

Die Liste der Dokumente , die zusammen mit dem Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung vorzulegen sind, ist erschöpfend. Es dürfen keine weiteren Dokumente verlangt werden.

2.3.1. Ausreichende Existenzmittel

Der Begriff ‚ausreichende Existenzmittel ’ muss im Hinblick auf das Ziel der Richtlinie, d. h. die Erleichterung der Freizügigkeit, ausgelegt werden, solange die Aufenthaltsberechtigten die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.

Als erstes Kriterium für das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel ist zu prüfen, ob der Unionsbürger (und Familienangehörige, die ihr Aufenthaltsrecht von ihm ableiten) im Aufnahmemitgliedstaat die Voraussetzungen für die Gewährung von Sozialhilfe erfüllt.

EU-Bürger verfügen über ausreichende Existenzmittel, wenn diese über der im Aufnahmemitgliedstaat geltenden Sozialhilfegrenze liegen. Ist dieses Kriterium nicht anwendbar, sollte die Mindestrente der Sozialversicherung herangezogen werden.

Die Mitgliedstaaten dürfen nach Artikel 8 Absatz 4 weder direkt noch indirekt für die Existenzmittel, die sie als „ausreichend“ betrachten, einen festen Betrag festlegen, bei dessen Unterschreiten das Aufenthaltsrecht automatisch versagt werden darf. Die Behörden der Mitgliedstaaten müssen die persönliche Situation des Betroffenen berücksichtigen. Von einem Dritten stammende Mittel zum Lebensunterhalt müssen anerkannt werden[26].

Die einzelstaatlichen Behörden können erforderlichenfalls prüfen, ob reguläre, ausreichende Existenzmittel vorhanden sind. Diese Mittel brauchen nicht in Form einer regelmäßigen Zahlung vorzuliegen. Es kann sich auch um angespartes Kapital handeln. Die für den Nachweis ausreichender Existenzmittel zulässigen Beweismittel dürfen nicht begrenzt werden[27].

Bei der Prüfung, ob eine Person, deren Existenzmittel nicht länger als ausreichend angesehen werden können und der Mittel zur Sicherung des Mindestlebensunterhalts gewährt wurden, die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nimmt , müssen die Behörden der Mitgliedstaaten das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachten. Hierzu können die Mitgliedstaaten beispielsweise eine Punkte-Skala als Indikator entwickeln. In Erwägungsgrund 16 der Richtlinie 2004/38/EG sind drei Prüfkategorien vorgesehen:

(1) Dauer

- Wie lange werden die Leistungen schon gewährt?

- Prognose: Ist damit zu rechnen, dass der EU-Bürger in nächster Zeit keine Sozialhilfeleistungen mehr benötigen wird?

- Wie lange hält sich der EU-Bürger bereits im Aufnahmemitgliedstaat auf?

(2) Persönliche Situation

- Inwieweit sind der EU-Bürger und seine Familienangehörigen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats integriert?

- Gibt es andere Aspekte wie Alter, Gesundheitszustand, familiäre und wirtschaftliche Situation, denen Rechnung zu tragen ist?

(3) Höhe der Sozialhilfe

- Wie hoch ist der Betrag der insgesamt gewährten Sozialhilfe?

- Hat der EU-Bürger Sozialhilfeleistungen in der Vergangenheit bereits in hohem Maß in Anspruch genommen?

- Hat der EU-Bürger in der Vergangenheit Sozialversicherungsbeiträge im Aufnahmemitgliedstaat gezahlt?

Solange die Aufenthaltsberechtigten die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen, dürfen sie nicht allein deshalb ausgewiesen werden, weil sie Sozialhilfe erhalten[28].

Für die Beurteilung, ob eine Person Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch nimmt, sind nur die Mittel relevant, die zur Sicherung des Existenzminimums gewährt werden.

2.3.2. Krankenversicherungsschutz

Jede bei einer öffentlichen oder privaten Einrichtung im Aufnahmemitgliedstaat oder anderswo abgeschlossene Versicherung ist grundsätzlich anzuerkennen, sofern sie einen umfassenden Schutz bietet und die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats nicht belastet. Die Mitgliedstaaten müssen den Umfang des Krankenversicherungsschutzes im Interesse des Schutzes ihrer öffentlichen Finanzen innerhalb der durch das Gemeinschaftsrecht gesetzten Grenzen und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips prüfen[29].

Rentner erfüllen die Anforderungen, wenn sie nach dem Recht des Mitgliedstaats, der ihre Rente zahlt, Anspruch auf medizinische Versorgung haben[30].

Die Europäische Krankenversicherungskarte bietet einen umfassenden Versicherungsschutz, solange der betreffende Unionsbürger seinen Wohnort im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 nicht in den Aufnahmemitgliedstaat verlegt und solange er die Absicht hat zurückzukehren (z. B. Studium oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat).

3. BESCHRÄNKUNGEN DES EINREISE- UND AUFENTHALTSRECHTS AUS GRÜNDEN DER ÖFFENTLICHEN ORDNUNG ODER SICHERHEIT

Der nachfolgende Abschnitt stützt sich auf die Mitteilung von 1999[31] zu den Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Unionsbürgern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind. Die Mitteilung von 1999 ist inhaltlich durchaus noch relevant, obwohl sie sich auf die Richtlinie 64/221/EWG bezieht, die durch die Richtlinie 2004/38/EG ersetzt wurde. Im Folgenden wird die Mitteilung von 1999 aus der Sicht der neueren Rechtsprechung des EuGH dargestellt, und es wird einer Reihe von Fragen nachgegangen, die bei der Umsetzung der Richtlinie aufgetreten sind.

Die Freizügigkeit gehört zu den Grundpfeilern der EU. Hieraus folgt, dass die Bestimmungen, auf deren Grundlage die Freizügigkeit gewährt wird, weit auszulegen sind , während Ausnahmen davon eng ausgelegt werden müssen[32].

3.1. Öffentliche Ordnung und Sicherheit

Die Mitgliedstaaten können die Freizügigkeit von EU-Bürgern aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einschränken. Kapitel VI der Richtlinie gilt für jede aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit getroffene Maßnahme , die das Recht der unter die Richtlinie fallenden Personen berührt, unter den gleichen Bedingungen wie die Angehörigen des Aufnahmemitgliedstaats in diesen Mitgliedstaat frei einzureisen und sich dort frei aufzuhalten[33].

Es steht den Mitgliedstaaten frei, nach ihren Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern. Diese Anforderungen müssen jedoch bei der Anwendung der Richtlinie eng ausgelegt werden[34].

Die Mitgliedstaaten müssen genau festlegen, welche Interessen der Gesellschaft es zu schützen gilt, und dabei deutlich zwischen öffentlicher Ordnung und öffentlicher Sicherheit unterscheiden. Die öffentliche Sicherheit kann nicht für Maßnahmen in Anspruch genommen werden, die mit Anforderungen der öffentlichen Ordnung begründet werden müssten.

Öffentliche Sicherheit wird allgemein so verstanden, dass damit sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit[35] im Sinne der Wahrung der territorialen Integrität der Mitgliedstaaten und ihrer Institutionen gemeint ist. Öffentliche Ordnung meint demgegenüber die gesellschaftliche Ordnung, deren Störung es zu verhindern gilt.

Unionsbürger können dem EuGH[36] zufolge nur wegen eines Verhaltens ausgewiesen werden, das im Aufnahmemitgliedstaat unter Strafe steht oder dem gegenüber andere tatsächliche und effektive Maßnahmen zur Bekämpfung dieses Verhaltens ergriffen worden sind.

Ein Verstoß gegen Meldepflichten kann für sich genommen kein die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdendes Verhalten darstellen und vermag daher für sich allein keine Ausweisung der betreffenden Person rechtfertigen[37].

3.2. Persönliches Verhalten und Gefährdung

Restriktive Maßnahmen können nur nach einer Einzelfallprüfung getroffen werden, in der festgestellt wird, dass das persönliche Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats berührt[38]. Restriktive Maßnahmen dürfen nicht allein auf Erwägungen gestützt werden, die ein anderer Mitgliedstaat in Bezug auf den Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit geltend macht[39].

Das Gemeinschaftsrecht schließt restriktive Maßnahmen aus generalpräventiven Gründen aus[40]. Restriktiven Maßnahmen muss eine tatsächliche Gefährdung zugrunde liegen. Eine allgemeine Gefahrenlage reicht hierzu nicht aus[41]. Restriktive Maßnahmen im Anschluss an eine strafrechtliche Verurteilung dürfen nicht automatisch erfolgen, sondern müssen dem persönlichen Verhalten des Straftäters und der Gefahr Rechnung tragen, die von diesem Verhalten für die öffentliche Ordnung ausgeht[42]. Gründe, die nichts mit dem persönlichen Verhalten der Person zu tun haben, dürfen nicht angeführt werden. Eine automatische Ausweisung ist nach der Richtlinie nicht zulässig[43].

Die Rechte einer Person dürfen nur dann eingeschränkt werden, wenn ihr persönliches Verhalten eine Gefahr darstellt, d. h. wenn das Verhalten die Wahrscheinlichkeit einer ernsten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erkennen lässt.

Eine Gefährdung, die auf einer bloßen Vermutung beruht, stellt keine tatsächliche Gefahr dar. Es muss sich um eine gegenwärtige Gefährdung handeln. Ein Verhalten in der Vergangenheit darf nur dann berücksichtigt werden, wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, dass die betreffende Person erneut straffällig wird[44]. Die Gefahr muss zu dem Zeitpunkt existieren, zu dem die restriktiven Maßnahmen von den nationalen Behörden getroffen oder von einem Gericht nachgeprüft werden[45]. Eine Strafaussetzung spielt für die Beurteilung der Gefahrenlage eine wichtige Rolle, da die Strafaussetzung nahe legt, dass von der betreffenden Person keine konkrete Gefahr mehr ausgeht.

Einer bestehenden Mitgliedschaft in einer Organisation kann Rechnung getragen werden, wenn die betreffende Person an den Aktivitäten der Organisation teilnimmt und sich mit deren Zielen oder Absichten identifiziert[46]. Die Mitgliedstaaten brauchen die Aktivitäten einer Organisation nicht unter Strafe zu stellen oder zu verbieten, um die auf der Grundlage der Richtlinie gewährten Rechte einschränken zu können, solange verwaltungsrechtliche Maßnahmen vorhanden sind, um den Aktivitäten dieser Organisation Einhalt zu gebieten. Von einer früheren Mitgliedschaft in solchen Vereinigungen[47] kann im Allgemeinen keine Gefahr ausgehen.

Einer früheren strafrechtlichen Verurteilung kann Rechnung getragen werden, sofern die Umstände, die zu der Verurteilung führten, ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt[48]. Die Behörden müssen ihre Entscheidung auf eine Einschätzung des künftigen Verhaltens der betreffenden Person stützen. Dabei sind Art und Anzahl bisheriger Verurteilungen ein entscheidendes Kriterium. Besonders zu berücksichtigen sind darüber hinaus Schwere und Häufigkeit der begangenen Straftaten. Ferner kommt es maßgeblich auf die Wiederholungsgefahr an, wobei die entfernte Möglichkeit neuer Störungen nicht ausreicht[49].

A. und I. wurden wegen Raub zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die sie jetzt verbüßt haben. Die Behörden prüfen, ob das persönliche Verhalten der beiden Schwestern eine Gefährdung darstellt, d. h. ob die Wahrscheinlichkeit einer neuen, schwerwiegenden Störung der öffentlichen Ordnung besteht.

Bei A. handelte es sich um ihre erste Verurteilung. Sie hat sich in der Haftanstalt gut geführt. Nach ihrer Entlassung hat sie eine Stelle gefunden. Die Behörden können an ihrem Verhalten nichts feststellen, was eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefahr darstellt.

Bei I. hingegen handelte es sich bereits um die vierte Verurteilung. Ihre Straftaten wurden im Laufe der Zeit immer gravierender. Ihr Verhalten in der Haftanstalt war alles andere als vorbildlich und ihre beiden Anträge auf Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung wurden abgelehnt. Nicht einmal zwei Wochen nach ihrer Entlassung wird sie bei der Planung eines neuen Raubüberfalls festgenommen. Die Behörden kommen zu dem Schluss, dass I.s Verhalten eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt.

In manchen Fällen kann eine Vielzahl kleinerer Straftaten , die für sich allein genommen nicht geeignet sind, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung im oben genannten Sinn zu begründen, eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellen. Die nationalen Behörden müssen darlegen, dass das persönliche Verhalten des Betreffenden eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt[50]. Dabei müssen sie insbesondere folgenden Faktoren Rechnung tragen:

- Art der Straftaten

- Rückfallhäufigkeit

- Art und Umfang des Schadens.

Die Tatsache, dass die Person bereits mehrfach verurteilt worden ist, reicht als solche nicht aus.

3.3. Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips

Kapitel VI der Richtlinie kann nicht als eine Bedingung für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Einreise - und Aufenthaltsrechts verstanden werden, sondern als eine Möglichkeit, in begründeten Fällen die Ausübung eines unmittelbar aus dem EG-Vertrag abgeleiteten Rechts zu beschränken[51].

Haben die Behörden festgestellt, dass das persönliche Verhalten der Person eine Gefahr darstellt, die ernst genug ist, um restriktive Maßnahmen zu rechtfertigen, müssen sie die Verhältnismäßigkeit solcher Maßnahmen prüfen, um zu entscheiden, ob der Person aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit die Einreise verweigert oder ob sie ausgewiesen werden kann.

Die nationalen Behörden müssen prüfen, ob geschützte Interessen zu berücksichtigen sind. Im Hinblick auf diese Interessen müssen sie feststellen, woraus die Gefährdung im Einzelnen besteht. Folgende Faktoren können dabei berücksichtigt werden:

- Grad der gesellschaftlichen Gefährdung, die von der Anwesenheit der betreffenden Person im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ausgeht

- Art der strafbaren Handlungen, Häufigkeit, durch die Häufigkeit bedingte Gefährdung und Schaden

- time elapsed since acts committed and behaviour of the person concerned (NB: also good behaviour in prison and possible release on parole could be taken into account) .

Die persönliche und familiäre Situation der Person muss sorgfältig geprüft werden, um festzustellen, ob die beabsichtigte Maßnahme geeignet ist, nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des angestrebten Ziels unbedingt erforderlich ist, und ob es weniger einschneidende Mittel gibt, um dieses Ziel zu erreichen. Dabei sollten die nachstehenden Faktoren , die in Artikel 28 Absatz 1 Beispiel halber aufgeführt sind, berücksichtigt werden[52]:

- Auswirkung der Ausweisung auf die wirtschaftliche, persönliche und familiäre Lage des Betroffenen (sowie auf andere Familienangehörige, die zum Verbleib im Aufnahmemitgliedstaat berechtigt wären)

- Grad der Schwierigkeiten, denen der Lebens-/Ehepartner des Betroffenen und dessen Kinder im Herkunftsstaat ausgesetzt wären

- Stärke der Bindung (Verwandte, Besuche, Sprachkenntnisse) – bzw. mangelnde Bindung – zum Herkunfts- und zum Aufnahmemitgliedstaat (z. B. der Betroffene ist im Aufnahmemitgliedstaat geboren oder lebt dort seit frühester Kindheit)

- Dauer des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat (bei einem Tourist ist die Lage anders als bei einer Person, die seit vielen Jahren im Aufnahmemitgliedstaat lebt)

- Alter und Gesundheitszustand.

3.4. Erhöhter Schutz vor Ausweisung

EU-Bürger und deren Familienangehörige, die im Aufnahmemitgliedstaat das Recht auf Daueraufenthalt genießen (nach fünf Jahren) , dürfen nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausgewiesen werden. Gegen Unionsbürger, die ihren Aufenthalt seit mehr als zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat haben, und Kinder darf eine Ausweisung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ( d. h. nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung ) verfügt werden. Es muss klar zwischen ‚normalen’, ‚schwerwiegenden’ und ‚zwingenden’ Ausweisungsgründen unterschieden werden.

Die Mitgliedstaaten sind grundsätzlich nicht verpflichtet, bei der Berechnung der Aufenthaltsdauer nach Artikel 28 die tatsächlich im Gefängnis verbrachte Zeit anzurechnen, wenn keine Bindung zum Aufnahmemitgliedstaat besteht.

3.5. Dringlichkeit

Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets gemäß Artikel 30 Absatz 3 mindestens einen Monat betragen. Die Ausweisung muss dringend geboten und verhältnismäßig sein[53]. Wenn die Behörden in dringenden Fällen prüfen, ob die Frist zu verkürzen ist, müssen sie den Auswirkungen einer umgehenden oder dringend gebotenen Abschiebung auf die persönlichen und familiären Umstände des Betroffenen Rechnung tragen (z. B. Notwendigkeit, den Arbeitgeber zu unterrichten, die Wohnung zu kündigen, den Umzug zu organisieren, eine Schule für die Kinder zu finden) . Der Erlass einer Ausweisungsverfügung aus zwingenden oder schwerwiegenden Gründen bedeutet nicht unbedingt, dass Eile geboten ist. Die Dringlichkeit muss gesondert und konkret begründet werden.

3.6. Verfahrensgarantien

Der Betroffene ist gemäß Artikel 30 von jeder Maßnahme zu unterrichten, die gegen ihn aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erlassen worden ist.

Entscheidungen müssen ausführlich begründet werden. In der Begründung ist auf alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände einzugehen, so dass der Betroffene konkrete Schritte zu seiner Verteidigung unternehmen kann[54] und die Entscheidung von einem nationalen Gericht entsprechend dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, das als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts in Artikel 47 der EU-Grundrechtecharta verankert ist, nachgeprüft werden kann. Zur Unterrichtung des Betroffenen über die Entscheidung können Vordrucke verwendet werden, die jedoch so beschaffen sein müssen, dass eine ausführliche Begründung der Entscheidung möglich ist (das Ankreuzen einer oder mehrerer Alternativen auf dem Vordruck reicht nicht aus) .

4. RECHTSMISSBRAUCH UND BETRUG

Bei Rechtsmissbrauch kann das Gemeinschaftsrecht nicht in Anspruch genommen werden [55]. Die Mitgliedstaaten können nach Artikel 35 die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um wirksam gegen Rechtsmissbrauch und Betrug in den Bereichen vorzugehen, für die das Freizügigkeitsrecht der Gemeinschaft maßgebend ist, und können die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug - wie z. B. durch Eingehung von Scheinehen - verweigern, aufheben oder widerrufen. Solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein und unterliegen den Verfahrensgarantien der Richtlinie[56].

Das Gemeinschaftsrecht unterstützt die Mobilität der EU-Bürger und schützt all jene, die von der Mobilität Gebrauch machen [57]. Wenn ein Unionsbürger und seine Familienangehörigen auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts ein Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat erwerben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, nutzen sie einen Rechtsvorteil, der Bestandteil des durch den EG-Vertrag geschützten Rechts auf Freizügigkeit ist[58]; hier liegt unabhängig vom Beweggrund ihres Umzugs kein Rechtsmissbrauch vor[59]. In gleicher Weise schützt das Gemeinschaftsrecht Unionsbürger, die nach Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit in den Heimatstaat zurückkehren.

4.1. Rechtsmissbrauch und Betrug: Begrifflichkeit

4.1.1. Betrug

Im Sinne der Richtlinie lässt sich Betrug als arglistige Täuschung oder sonstiges manipulatives Verhalten definieren mit dem Ziel, in den Genuss des Rechts auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt auf der Grundlage der Richtlinie zu gelangen. Im Richtlinienkontext dürfte sich Betrug auf die Fälschung von Dokumenten oder die Vorspiegelung falscher Tatsachen in Bezug auf die an das Aufenthaltsrecht geknüpften Bedingungen beschränken. Die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte können verweigert, aufgehoben oder widerrufen werden, wenn Personen eine Aufenthaltsberechtigung allein durch eine Täuschung erwirkt haben, wegen der sie bestraft worden sind[60].

4.1.2. Rechtsmissbrauch

Rechtsmissbrauch im Sinne dieser Richtlinie lässt sich als Verhalten definieren, das allein dem Zweck dient, das gemeinschaftsrechtlich garantierte Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht zu erlangen, und das zwar formal den gemeinschaftsrechtlichen Kriterien genügt, aber nicht mit dem Zweck der Gemeinschaftsvorschriften vereinbar ist[61].

4.2. Scheinehen

Scheinehen werden in Erwägungsgrund 28 der Richtlinie als Ehen definiert, die lediglich zum Zweck der Inanspruchnahme des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts geschlossen wurden, auf das andernfalls kein Anspruch bestanden hätte. Ein Ehe kann nicht als Scheinehe angesehen werden, nur weil mit ihr aus einwanderungsrechtlicher Sicht oder in anderer Hinsicht ein Vorteil verbunden ist. Die Qualität der Beziehung ist für die Anwendung von Artikel 35 unerheblich.

Die Definition der Scheinehe kann analog auf andere Formen von Beziehungen angewandt werden, die allein zwecks Inanspruchnahme des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts begründet worden sind (z. B. (eingetragene) Scheinpartnerschaften, Scheinadoptionen oder Vaterschaftserklärung eines EU-Bürgers zugunsten eines Kinds aus einem Drittstaat, um dem Kind seine Staatsangehörigkeit zu geben und dem Kind und der Mutter ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen, obwohl er weiß, dass er nicht der Vater des Kindes ist, und auch nicht bereit ist, die elterliche Verantwortung zu übernehmen).

Die Maßnahmen der Mitgliedstaaten gegen Scheinehen dürfen nicht über Gebühr in die legitimen Rechte von EU-Bürgern und ihren Familienangehörigen eingreifen und sie dürfen nicht so beschaffen sein, dass sie die Betroffenen davon abhalten, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen. Sie dürfen das Gemeinschaftsrecht weder seiner Wirkung berauben noch eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit bewirken.

Bei der Auslegung des Missbrauchsbegriffs im Richtlinienkontext muss dem Status des EU-Bürgers Rechnung getragen werden. Entsprechend dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts muss die Prüfung, ob Gemeinschaftsrecht missbraucht worden ist, im Rahmen des Gemeinschaftsrechts erfolgen und nicht auf der Grundlage des einzelstaatlichen Einwanderungsrechts. Die Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, im Einzelfall Nachprüfungen anzustellen , wenn ein begründeter Verdacht auf Rechtsmissbrauch besteht. Systematische Überprüfungen lässt das Gemeinschaftsrecht jedoch nicht zu[62]. Die Mitgliedstaaten können sich auf frühere Analysen und Erfahrungen stützen, die einen deutlichen Zusammenhang zwischen erwiesenen Missbrauchsfällen und bestimmten Merkmalen solcher Fälle erkennen lassen.

Um unnötigen Aufwand zu vermeiden, wäre es auch möglich, eine Reihe von Anhaltspunkten festzulegen, die den Schluss zulassen, dass ein Missbrauch des Gemeinschaftsrechts aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vorliegt:

- Der Ehegatte aus einem Drittstaat könnte ohne Weiteres selbst eine Aufenthaltsberechtigung erwerben, oder er hat sich in dem Mitgliedstaat bereits zuvor rechtmäßig aufgehalten.

- Die Paarbeziehung besteht schon seit langem.

- Das Paar hat seit langem einen gemeinsamen Wohnsitz/Haushalt[63].

- Das Paar ist eine langfristige rechtliche/finanzielle Verpflichtung von gewisser Tragweite eingegangen, für die das Paar gemeinsam die Verantwortung trägt (z. B. Aufnahme einer Hypothek für den Kauf eines Hauses).

- Die Ehe besteht schon seit langem.

Die Mitgliedstaaten können eine Reihe von Anhaltspunkten festlegen, die darauf schließen lassen, dass möglicherweise die Absicht besteht, die durch die Richtlinie verliehenen Rechte allein zu dem Zweck zu missbrauchen, einzelstaatliche Einwanderungsvorschriften zu umgehen . Die nationalen Behörden können insbesondere folgende Faktoren berücksichtigen:

- Das Paar ist sich vor der Heirat nie begegnet.

- Das Paar macht widersprüchliche Angaben zur Person, über die Umstände ihrer ersten Begegnung oder über andere wichtige das Paar betreffende Informationen.

- Das Paar verfügt nicht über eine gemeinsame Sprache, die beide verstehen.

- Für die Eheschließung wurde nachweislich ein Geldbetrag gezahlt oder es wurden Geschenke gemacht (hiervon ausgenommen ist eine Mitgift in Form von Geld- oder anderen Geschenken, wie sie in bestimmten Kulturkreisen üblich ist) .

- Ein oder beide Ehegatten sind in der Vergangenheit bereits nachweislich eine Scheinehe eingegangen oder haben sich andere Formen des Rechtsmissbrauchs oder Betrugs zuschulden kommen lassen, um das Recht auf Aufenthalt zu erlangen.

- Anzeichen für ein Familienleben sind erst nach Erlass der Ausweisungsverfügung festzustellen.

- Das Paar trennt sich kurze Zeit, nachdem der betroffene Drittstaatsangehörige das Aufenthaltsrecht erlangt hat.

Die vorstehenden Kriterien sind so zu verstehen, dass sie Nachprüfungen auslösen können, ohne dass jedoch zwingende Schlüsse aus den Ergebnissen oder Untersuchungen zu ziehen wären. Die Mitgliedstaaten dürfen sich nicht auf ein Kriterium allein stützen. Alle Umstände des betreffenden Falles müssen gebührend berücksichtigt werden. Im Rahmen der Nachprüfung können die Ehepartner getrennt befragt werden.

S., eine Bürgerin aus einem Drittstaat, wird aufgefordert, innerhalb von einem Monat auszureisen, da ihr Touristenvisum abgelaufen ist. Zwei Wochen nach dieser Aufforderung heiratet sie O., einen EU-Bürger, der erst kurze Zeit im Aufnahmemitgliedstaat lebt. Die Behörden haben den Verdacht, dass die Ehe nur geschlossen wurde, um die Ausweisung abzuwenden. Sie setzen sich mit den Behörden in O.s Heimatmitgliedstaat in Verbindung und finden heraus, dass der Kleinbetrieb der Familie nach der Eheschließung in der Lage war, 5 000 EUR Schulden zurückzuzahlen, was der Familie zwei Jahre lang nicht möglich war.

Das frisch vermählte Paar wird zu einem Gespräch vorgeladen, bei dem sich herausstellt, dass O. den Aufnahmemitgliedstaat bereits verlassen hat und zu seiner Arbeit im Heimatstaat zurückgekehrt ist, dass das Paar nicht in der Lage ist, sich in einer gemeinsamen Sprache zu verständigen, und dass die erste Begegnung eine Woche vor der Eheschließung stattfand. Es gibt somit deutliche Hinweise darauf, dass das Paar nur deshalb geheiratet hat, um die einzelstaatlichen Einwanderungsvorschriften zu umgehen.

Die Beweislast liegt bei den Behörden des Mitgliedstaats, die die in der Richtlinie verbrieften Rechte beschränken wollen. Die Behörden müssen in der Lage sein, ihren Standpunkt überzeugend unter Beachtung aller oben erläuterten materiellrechtlichen Garantien zu vertreten. Im Falle eines Rechtsbehelfs ist es Sache des einzelstaatlichen Gerichts zu prüfen, ob Rechtsmissbrauch vorliegt, für den der Beweis nach nationalem Recht zu erbringen ist, soweit dies die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigt[64] .

Ermittlungen müssen unter Wahrung der Grundrechte , insbesondere des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK und Artikel 7 der EU-Charta) und des Rechts auf Eheschließung (Artikel 12 EMRK und Artikel 9 EU-Charta), durchgeführt werden.

Laufende Ermittlungen bei Verdacht auf Scheinehe rechtfertigen keine Ausnahmen von den in der Richtlinie verbrieften Rechten für Familienangehörige aus Drittstaaten wie das Verbot, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, den Einzug des Reisepasses oder die Nichteinhaltung der Sechsmonatsfrist bei Ausstellung der Aufenthaltskarte. Diese Rechte können allerdings jederzeit nach Abschluss der Ermittlungen entzogen werden, wenn sich der Verdacht bestätigt hat.

4.3. Andere Formen des Rechtsmissbrauchs

Ein Missbrauch könnte auch dann vorliegen, wenn Unionsbürger allein in der Absicht , die Einwanderungsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats zu umgehen, die den Nachzug von Drittstaatsfamilienangehörigen verhindern, in einen anderen Mitgliedstaat umziehen, um von dort aus anschließend wieder zurückzuziehen und sich dabei auf ihre gemeinschaftsrechtlich gesicherten Rechte zu berufen.

Die Unterscheidung zwischen einer echten und einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Gemeinschaftsrechts sollte sich darauf stützen, ob die Gemeinschaftsrechte in dem Mitgliedstaat, aus dem der EU-Bürger mit seiner Familie zurückkehrt, tatsächlich und effektiv ausgeübt worden sind. Ist dies der Fall, sind der EU-Bürger und seine Familie durch das Freizügigkeitsrecht der Gemeinschaft geschützt. Diese Feststellung kann nur nach einer Einzelfallprüfung erfolgen. Wenn die Gemeinschaftsrechte tatsächlich und effektiv ausgeübt worden sind, sollte der Herkunftsmitgliedstaat nicht nach den persönlichen Beweggründen fragen, die dem Umzug zugrunde liegen.

Erforderlichenfalls können die Mitgliedstaaten eine Reihe von Anhaltspunkten festlegen, anhand deren sie prüfen können, ob das Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich und effektiv ausgeübt worden ist. Die nationalen Behörden können insbesondere folgende Faktoren berücksichtigen:

- Die Umstände, unter denen der betreffende Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat umgezogen ist (nach erfolglosen Versuchen, für den Ehepartner aus einem Drittstaat ein Aufenthaltsrecht nach den innerstaatlichen Bestimmungen zu erlangen, Stellenangebot im Aufnahmemitgliedstaat, Aufenthaltsstatus des Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat) ;

- Umstände, die Aufschluss darüber geben, wie ernst es dem Unionsbürger war, im Aufnahmemitgliedstaat einen tatsächlichen, effektiven Aufenthalt zu begründen (geplanter und tatsächlicher Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, mit Blick auf die Niederlassung im Aufnahmemitgliedstaat unternommene Anstrengungen wie Erfüllung der nationalen Meldepflichten, gesicherte Wohnverhältnisse, Anmeldung der Kinder in einer Schule) ;

- Umstände, unter denen der betreffende EU-Bürger in seinen Herkunftsstaat zurückgezogen ist (Rückkehr sofort nach der Eheschließung mit einem Drittstaatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat) .

Die vorstehenden Kriterien sind so zu verstehen, dass sie Nachprüfungen auslösen können, ohne dass jedoch zwingende Schlüsse aus den Ergebnissen oder Untersuchungen zu ziehen wären. Bei der Prüfung, ob es sich um eine tatsächliche, effektive Ausübung des gemeinschaftsrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsrechts handelt, dürfen die nationalen Behörden nicht nur ein Kriterium heranziehen, sondern müssen alle Umstände des Einzelfalls gebührend würdigen. Sie müssen das Verhalten der betreffenden Personen unter Berücksichtigung der Ziele des Gemeinschaftsrechts beurteilen und auf der Grundlage objektiver Kriterien handeln[65].

J. zieht mit seiner Frau S., einer Drittstaatsangehörigen, nach Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat in seinen Herkunftsmitgliedstaat zurück. S. bemüht sich zweimal ohne Erfolg um das Aufenthaltsrecht in J.s Heimatmitgliedstaat. In der Zeit, in der J. seinen Aufenthalt angeblich in einem anderen Mitgliedstaat hat, geht er im Herkunftsmitgliedstaat weiter seiner Arbeit nach.

Die Behörden setzen sich mit den Behörden im Aufnahmemitgliedstaat in Verbindung und finden heraus, dass J. bereits nach drei Wochen wieder in seinen Herkunftsmitgliedstaat zurückgekehrt ist. Das Ehepaar verbrachte drei Wochen in einem Hotel, das sie im Voraus bezahlt hatten. Unter Berücksichtigung dieser Umstände können sich J. und S. nicht auf die Richtlinie berufen.

Die bloße Aufrechterhaltung einer Bindung zum Herkunftsmitgliedstaat lässt nicht den Schluss zu, dass der Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nur zum Schein und nicht tatsächlich besteht. Dies gilt auch dann, wenn der betreffende Unionsbürger im Aufnahmestaat keine gesicherte Stellung hat (z. B. bei einem befristeten Arbeitsvertrag) . Der Umstand, dass eine Person bewusst die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Rechts schafft, stellt allein noch keinen ausreichenden Grund für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs dar[66].

Alle relevanten Überlegungen, die oben zu Untersuchungen, materiell- und verfahrensrechtlichen Garantien sowie zur Kooperation der Mitgliedstaaten bei Scheinehen angestellt wurden, gelten hier entsprechend.

4.4. Maßnahmen und Sanktionen gegen Rechtsmissbrauch und Betrug

Nach Artikel 35 sind die Mitgliedstaaten berechtigt, bei Rechtsmissbrauch oder Betrug die notwendigen Maßnahmen zu erlassen. Diese Maßnahmen können jederzeit erlassen werden und können Folgendes zum Gegenstand haben:

- die Verweigerung von Rechten, die sich aus den Gemeinschaftsvorschriften über die Freizügigkeit ergeben (z. B. Ausstellung eines Einreisevisums oder einer Aufenthaltskarte) ;

- Aufhebung oder Widerruf von Rechten, die sich aus den Gemeinschaftsvorschriften über die Freizügigkeit ergeben (z. B. Aufhebung der Gültigkeit einer Aufenthaltskarte und Ausweisung der betroffenen Person, die die Rechte durch Rechtsmissbrauch oder Betrug erlangt hat) .

Das Gemeinschaftsrecht sieht derzeit keine besonderen Sanktionen vor, die Mitgliedstaaten im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug verhängen können. Die Mitgliedstaaten können zivilrechtliche (z. B. Aufhebung der Wirkungen einer nachweislichen Scheinehe auf das Aufenthaltsrecht) , verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe) vorsehen, die wirksam, nichtdiskriminierend und verhältnismäßig sein müssen.

[1] KOM(2008) 840 endg.

[2] Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

[3] Vgl. Schlussfolgerungen des Rats Justiz und Inneres vom November 2008 und Februar 2009.

[4] Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 über die Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG (2008/2184(INI)).

[5] Vgl. verbundene Rechtssachen C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulos und Oliveri , Rdnrn. 97 f., und Rechtssache C-127/08, Metock , Rdnr. 79.

[6] Vgl. Rechtssachen 139/85, Kempf , Rdnr. 13, und C-33/07, Jipa, Rdnr . 23.

[7] Artikel 3 Absatz 1.

[8] Vgl. Rechtssachen C-370/90, Singh , und C-291/05, Eind.

[9] Vgl. Rechtssache C-60/00, Carpenter .

[10] Vgl. u. a. Artikel 16 Absatz 2 der Erklärung der Menschenrechte oder Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe b des Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau.

[11] Vgl. EGMR, Rechtssache Alilouch El Abasse/Niederlande , 6. Januar 1992 .

[12] Vgl. Erwägungsgrund 6.

[13] Adoptivkinder sind durch Artikel 8 EMRK umfassend geschützt (EGMR, Rechtssachen X gegen Belgien und die Niederlande, 10. Juli 1975, X gegen Frankreich, 5. Oktober 1982 sowie X, Y und Z gegen das Vereinigte Königreich, 22. April 1997).

[14] Vgl. Rechtssachen 316/85, Lebon , Rdnr. 22, und C-1/05, Jia, Rdnrn. 36 f.

[15] Emotionale Abhängigkeit wird nicht berücksichtigt; vgl. die Schlussanträge von Generalanwalt Tizzano in der Rechtssache C-200/02, Zhu und Chen , Rdnr. 84.

[16] Als Kriterium für den Unterhaltsbedarf sollte in erster Linie gelten, ob der betreffende Familienangehörige angesichts seiner persönlichen Umstände über die finanziellen Mittel verfügt, um in dem Land seines ständigen Wohnsitzes das Existenzminimum zu erreichen (Vgl. Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed in der Rechtssache C-1/05, Jia , Rdnr. 96).

[17] Vgl. Rechtssachen C-215/03, Oulane , Rdnr. 53, und C-1/05, Jia, Rdnr. 41.

[18] Vgl. Rechtssache C-503/03, Kommission/Spanien, Rdnr. 42.

[19] KOM(2006) 403 endg/2.

[20] Artikel 8 Absatz 5 und Artikel 10 Absatz 2.

[21] Vgl. die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Mehrsprachigkeit: Trumpfkarte Europas, aber auch gemeinsame Verpflichtung (KOM(2008) 566).

[22] Artikel 5 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex).

[23] Die Verordnung (EG) Nr. 1030/2002 des Rates zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatenangehörige gilt nicht für die Familienangehörigen von EU-Bürgern, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben (Artikel 5) .

[24] KOM(1999) 372 (Ziff. 3.2).

[25] Artikel 10 Absatz 2.

[26] Vgl. Rechtssache C-408/03, Kommission/Belgien (Rdnrn. 40 ff.).

[27] Vgl. Rechtssache C-424/98, Kommission/Italien, Rdnr. 37.

[28] Artikel 14 Absatz 3.

[29] Vgl. Rechtssache C-413/99, Baumbast, Rdnrn. 89-94.

[30] Vgl. Artikel 27, 28 und 28a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu– und abwandern. Ab dem 1. März 2010 wird diese Verordnung durch die Verordnung (EG) Nr. 883/04 ersetzt; an den Grundsätzen ändert sich jedoch nichts.

[31] KOM(1999) 372.

[32] Vgl. Rechtssachen 139/85, Kempf , Rdnr. 13, und C-33/07, Jipa, Rdnr . 23.

[33] Vgl. Rechtssachen 36/75, Rutili, Rdnrn. 8-21, und 30/77, Bouchereau, Rdnrn. 6-24.

[34] Vgl. Rechtssachen 36/75, Rutili , Rdnr. 27, 30/77, Bouchereau, Rdnr. 33, und C-33/07, Jipa, Rdnr. 23 .

[35] Vgl. Rechtssachen C-423/98, Albore , Rdnrn. 18 ff., und C-285/98, Kreil, Rdnr. 15 .

[36] Vgl. Rechtssachen 115/81, Adoui und Cornuaille, Rdnrn. 5-9, und C-268/99, Jany, Rdnr. 61 .

[37] Vgl. Rechtssache 48/75, Royer , Rdnr. 51.

[38] Alle Kriterien müssen kumulativ vorliegen.

[39] Vgl. Rechtssachen C-33/07, Jipa, Rdnr. 25, und C-503/03, Kommission/Spanien, Rdnr. 62.

[40] Vgl. Rechtssache 67/74, Bonsignore, Rdnrn. 5-7.

[41] Auf generalpräventive Maßnahmen in besonderen Fällen, z. B. bei Sportveranstaltungen, wird in der Mitteilung von 1999 eingegangen (vgl. Ziff. 3.3).

[42] Vgl. Rechtssachen C-348/96, Calfa, Rdnrn. 17-27, und 67/74, Bonsignore , Rdnrn. 5-7.

[43] Vgl. Rechtssache C-408/03, Kommission/Belgien (Rdnrn. 68 ff.).

[44] Vgl. Rechtssache 30/77, Bouchereau, Rdnrn. 25-30.

[45] Vgl. verbundene Rechtssachen C-482/01 und 493/01, Orfanopoulos und Oliveri, Rdnr. 82 .

[46] Vgl. Rechtssache 41/74, van Duyn, Rdnrn . 17 ff.

[47] Ebenda.

[48] Vgl. verbundene Rechtssachen C-482/01 und 493/01, Orfanopoulos und Oliveri, Rdnrn. 82 und 100, und Rechtssache C-50/06, Kommission/Niederlande, Rdnrn. 42-45.

[49] So wird z. B. die Wiederholungsgefahr bei Drogenabhängigkeit eher größer sein, wenn die Gefahr besteht, dass zur Finanzierung des Drogenkonsums weitere Straftaten begangen werden: vgl. Generalanwalt Stix-Hackl, in den verbundenen Rechtssachen C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulos und Oliveri.

[50] Vgl. Rechtssache C-349/06, Polat, Rdnr. 35.

[51] Vgl. Rechtssache C-321/87, Kommission/Belgien, Rdnr. 10.

[52] Vgl. in Bezug auf die Grundrechte die Rechtsprechung des EGMR in den Rechtssachen Berrehab, Moustaquim, Beldjoudi, Boujlifa, El Boujaidi und Dalia .

[53] Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Stix-Hackl in der Rechtssache C-441/02, Kommission/Deutschland.

[54] Vgl. Rechtssache 36/75, Rutili, Rdnrn. 37-39 .

[55] Vgl. Rechtssachen 33/74, van Binsbergen, Rdnr. 13 , C-370/90 , Singh , Rdnr. 24, und C-212/97, Centros , Rdnrn. 24 f.

[56] Vgl. Rechtssache C-127/08, Metock , Rdnrn. 74 f.

[57] Vgl. Rechtssachen C-370/90, Singh , C-291/05, Eind, und C-60/00, Carpenter.

[58] Vgl. Rechtssachen C-212/97, Centros, Rdnr. 27, und C-147/03, Kommission/Österreich, Rdnrn. 67 f.

[59] Vgl. Rechtssachen C-109/01, Akrich , Rdnr. 55, und C-1/05, Jia , Rdnr. 31.

[60] Vgl. Rechtssachen C-285/95, Kol, Rdnr. 29, und C-63/99, Gloszczuk , Rdnr. 75.

[61] Vgl. Rechtssachen C-110/99, Emsland-Stärke , Rdnrn. 52 ff., und C-212/97, Centros , Rdnr. 25.

[62] Verboten ist nicht nur eine Überprüfung der Migranten insgesamt, sondern auch eine Überprüfung, die sich auf eine bestimmte Gruppe von Migranten beschränkt (z. B. Migranten, die einer bestimmten Ethnie angehören).

[63] Familienangehörige aus Drittstaaten sind nach dem Gemeinschaftsrecht nicht verpflichtet, im Haushalt des EU-Bürgers zu leben, um das Aufenthaltsrecht in Anspruch nehmen zu können; vgl. Rechtssache 267/83, Diatta, Rdnrn. 15 ff.).

[64] Vgl. Rechtssachen C-110/99, Emsland-Stärke , Rdnr. 54, und C-215/03, Oulane , Rdnr. 56.

[65] Vgl. Rechtssache C-206/94, Brennet AG/Paletta , Rdnr. 25.

[66] Vgl. Rechtssache C-212/97, Centros , Rdnr. 27.

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