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Document 62015CJ0294

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 13. Oktober 2016.
Edyta Mikołajczyk gegen Marie Louise Czarnecka und Stefan Czarnecki.
Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Apelacyjny w Warszawie.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 1 Abs. 1 Buchst. a – Sachlicher Anwendungsbereich – Von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Verfahren zur Ungültigerklärung einer Ehe – Art. 3 Abs. 1 – Zuständigkeit der Gerichte des Aufenthaltsmitgliedstaats des ‚Antragstellers‘ – Reichweite.
Rechtssache C-294/15.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:772

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

13. Oktober 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen — Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung — Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 — Art. 1 Abs. 1 Buchst. a — Sachlicher Anwendungsbereich — Von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Verfahren zur Ungültigerklärung einer Ehe — Art. 3 Abs. 1 — Zuständigkeit der Gerichte des Aufenthaltsmitgliedstaats des ‚Antragstellers‘ — Reichweite“

In der Rechtssache C‑294/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 20. März 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juni 2015, in dem Verfahren

Edyta Mikołajczyk

gegen

Marie Louise Czarnecka und

Stefan Czarnecki

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richterin A. Prechal, des Richters A. Rosas, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) sowie des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: A. Calot Escobar,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Pucciariello, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und A. Stobiecka-Kuik als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Mai 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Edyta Mikołajczyk einerseits sowie dem verstorbenen Stefan Czarnecki, im Ausgangsverfahren vertreten durch einen Kurator, und Marie Louise Czarnecka andererseits betreffend eine Klage auf Ungültigerklärung der zwischen den letzteren beiden geschlossenen Ehe.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 1 und 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 lauten wie folgt:

„(1)

Die Europäische Gemeinschaft hat sich die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Hierzu erlässt die Gemeinschaft unter anderem die Maßnahmen, die im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich sind.

(8)

Bezüglich Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe sollte diese Verordnung nur für die Auflösung einer Ehe und nicht für Fragen wie die Scheidungsgründe, das Ehegüterrecht oder sonstige mögliche Nebenaspekte gelten.“

4

Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„(1)   Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

a)

die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und die Ungültigerklärung einer Ehe,

(3)   Diese Verordnung gilt nicht für

a)

die Feststellung und die Anfechtung des Eltern-Kind-Verhältnisses,

b)

Adoptionsentscheidungen und Maßnahmen zur Vorbereitung einer Adoption sowie die Ungültigerklärung und den Widerruf der Adoption,

c)

Namen und Vornamen des Kindes,

d)

die Volljährigkeitserklärung,

e)

Unterhaltspflichten,

f)

Trusts und Erbschaften,

g)

Maßnahmen infolge von Straftaten, die von Kindern begangen wurden.“

5

Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung sieht Folgendes vor:

„Für Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig,

a)

in dessen Hoheitsgebiet

beide Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben oder

die Ehegatten zuletzt beide ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, sofern einer von ihnen dort noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder

der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder

im Fall eines gemeinsamen Antrags einer der Ehegatten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder

der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens einem Jahr unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat, oder

der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat und entweder Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist oder, im Fall des Vereinigten Königreichs und Irlands, dort sein ‚domicile‘ hat;

…“

6

Art. 17 („Prüfung der Zuständigkeit“) dieser Verordnung lautet:

„Das Gericht eines Mitgliedstaats hat sich von Amts wegen für unzuständig zu erklären, wenn es in einer Sache angerufen wird, für die es nach dieser Verordnung keine Zuständigkeit hat und für die das Gericht eines anderen Mitgliedstaats aufgrund dieser Verordnung zuständig ist.“

Polnisches Recht

7

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass gemäß Art. 13 § 1 des Kodeks rodzinny i opiekuńczy (Gesetz vom 25. Februar 1964 über das Familien- und Pflegschaftsgesetzbuch) (Dz. U. Nr. 9, Pos. 59, mit späteren Änderungen) die Ehe nicht eingehen darf, wer bereits verheiratet ist.

8

Art. 13 § 2 dieses Gesetzbuchs bestimmt, dass jeder die Ungültigerklärung der Ehe wegen des Weiterbestehens einer früheren Ehe eines der Ehegatten fordern kann, der daran ein rechtliches Interesse hat.

9

Art. 13 § 3 dieses Gesetzbuchs bestimmt wiederum, dass die Ehe nicht wegen des Weiterbestehens einer früheren Ehe eines der Ehegatten für ungültig erklärt werden kann, wenn die frühere Ehe nicht mehr besteht oder für ungültig erklärt worden ist, es sei denn, dass diese Ehe durch den Tod der Person endete, die trotz des Weiterbestehens der früheren Ehe eine neue Ehe eingegangen ist.

10

Gemäß Art. 1099 des Kodeks postępowania cywilnego (Gesetz vom 17. November 1964 über die polnische Zivilprozessordnung) (Dz. U. Nr. 43, Pos. 296, mit späteren Änderungen) berücksichtigt das angerufene Gericht die fehlende Zuständigkeit der nationalen Gerichte in jedem Verfahrensstadium von Amts wegen; wenn es feststellt, dass die nationalen Gerichte nicht zuständig sind, weist es die Klage als unzulässig ab. Die fehlende Zuständigkeit der nationalen Gerichte ist ein Grund für die Ungültigkeit des Verfahrens.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11

Am 20. November 2012 erhob Edyta Mikołajczyk beim Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau, Polen) Klage auf Ungültigerklärung der am 4. Juli 1956 in Paris (Frankreich) zwischen Stefan Czarnecki und Marie Louise Czarnecka, geborene Cuenin, geschlossenen Ehe. Sie brachte dazu vor, die testamentarische Erbin der am 15. Juni 1999 verstorbenen ersten Ehegattin von Stefan Czarnecki, Zdzisława Czarnecka, zu sein.

12

Nach Ansicht der Klägerin bestand die am 13. Juli 1937 in Posen (Polen) zwischen Stefan Czarnecki und Zdzisława Czarnecka geschlossene Ehe zum Zeitpunkt der Eheschließung zwischen Stefan Czarnecki und Marie Louise Czarnecka noch, so dass es sich bei der zuletzt genannten Ehe um eine bigamische Verbindung gehandelt habe, die aus diesem Grund für ungültig erklärt werden müsse.

13

Die Beklagte Marie Louise Czarnecka beantragte ihrerseits, die Eheungültigkeitsklage wegen Unzuständigkeit der polnischen Gerichte als unzulässig abzuweisen. Ihrer Auffassung nach hätte diese Klage gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. a zweiter und dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 entweder vor einem Gericht des Mitgliedstaats, in dem die Ehegatten zuletzt beide ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, sofern einer von ihnen dort noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, oder vor einem Gericht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Beklagten erhoben werden müssen, d. h. in beiden Fällen vor einem französischen Gericht. Der zur Vertretung des am 3. März 1971 in Frankreich verstorbenen Stefan Czarnecki im Ausgangsverfahren bestellte Kurator schloss sich den Anträgen der Beklagten Marie Louise Czarnecka an.

14

Mit mangels Anfechtung durch die Parteien rechtskräftig gewordenem Beschluss vom 9. September 2013 wies der Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau) diese Einrede der Unzulässigkeit zurück und führte dazu auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 aus, dass er für die Entscheidung über die Eheungültigkeitsklage zuständig sei.

15

In der Sache selbst wies dieses Gericht mit Urteil vom 13. Februar 2014 die Klage als unbegründet ab, da die Klägerin nicht bewiesen habe, dass die erste Ehe von Stefan Czarnecki zum Zeitpunkt seiner Eheschließung mit Marie Louise Czarnecka noch bestanden habe, und der vom Gericht festgestellte Sachverhalt vielmehr den Schluss zulasse, dass die erste Ehe durch Scheidung am 29. Mai 1940 aufgelöst worden sei.

16

Die Klägerin legte gegen dieses Urteil Berufung beim vorlegenden Gericht, dem Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau), ein.

17

Dieses Gericht hält sich gemäß Art. 17 der Verordnung Nr. 2201/2003 und Art. 1099 der polnischen Zivilprozessordnung für verpflichtet, von Amts wegen die Frage seiner internationalen Zuständigkeit für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens zu prüfen, und zwar ungeachtet des Umstands, dass sich das erstinstanzliche Gericht bereits dazu geäußert hat.

18

In dieser Hinsicht zweifelt das vorlegende Gericht an der Auslegung insbesondere der Art. 1 und 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 und ersucht um Klarstellungen hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs dieser Verordnung. So möchte es erstens wissen, ob ein nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Eheungültigkeitsverfahren unter diese Verordnung fällt. Es weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Letztere die Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten (ABl. 2000, L 160, S. 19) aufgehoben habe, deren Inhalt großteils aus dem mit Rechtsakt des Rates vom 28. Mai 1998 (ABl. 1998, C 221, S. 2) ausgearbeiteten Übereinkommen über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen übernommen worden sei. In dem von Prof. Dr. Alegría Borrás erstellten und vom Rat genehmigten (ABl. 1998, C 221, S. 27) Erläuternden Bericht zu diesem Übereinkommen sei ausgeführt worden, dass dessen Anwendungsbereich keine Verfahren erfasse, in denen die Gültigkeit einer Ehe aufgrund eines Antrags auf Ungültigerklärung nach dem Tod eines oder beider Ehegatten geprüft werde.

19

Zweitens möchte das vorlegende Gericht im Fall der Bejahung der ersten Frage zum Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 noch wissen, ob ein von einer anderen Person als einem der Ehegatten in Gang gesetztes Eheungültigkeitsverfahren unter diese Verordnung fällt.

20

Bei Bejahung dieser zweiten Frage ersucht das vorlegende Gericht um Klarstellungen hinsichtlich der Frage, ob die Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats für die Entscheidung über eine von einem Dritten erhobene Eheungültigkeitsklage auf die Zuständigkeitskriterien des Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 gegründet werden kann, so dass die Gerichte des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts dieses Dritten sich für zuständig erklären könnten, ohne dass eine Verbindung zwischen dem angerufenen Gericht und dem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts eines oder beider Ehegatten bestünde.

21

Unter diesen Umständen hat der Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur zweiten Frage

22

Mit seinen ersten beiden Fragen, die im Folgenden gemeinsam behandelt werden, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob ein von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Eheungültigkeitsverfahren unter den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt.

23

Gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 gilt diese, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen, die die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe zum Gegenstand haben.

24

Um festzustellen, ob eine Klage in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, ist auf ihren Gegenstand abzustellen (Urteil vom 21. Oktober 2015, Gogova, C‑215/15, EU:C:2015:710, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das vorlegende Gericht mittels einer Klage auf Ungültigerklärung der am 4. Juli 1956 in Paris zwischen Marie Louise Czarnecka und Stefan Czarnecki geschlossenen Ehe angerufen wurde, die mit dem angeblichen Bestehen einer zuvor zwischen Stefan Czarnecki und Zdzisława Czarnecka geschlossenen Ehe begründet wurde. Diese Klage hat somit grundsätzlich die „Ungültigerklärung einer Ehe“ im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 zum Gegenstand.

25

Das vorlegende Gericht ist jedoch nicht davon überzeugt, dass ein solches Verfahren unter den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, wenn es von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetzt worden ist.

26

In dieser Hinsicht geht aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 19. September 2013, van Buggenhout und van de Mierop, C‑251/12, EU:C:2013:566, Rn. 26, sowie vom 26. März 2015, Litaksa, C‑556/13, EU:C:2015:202, Rn. 23).

27

Was erstens den Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 betrifft, ist festzuhalten, dass diese Bestimmung zu den Gegenständen, die in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen, insbesondere die Ungültigerklärung einer Ehe zählt, ohne nach dem Zeitpunkt der Einleitung eines solchen Verfahrens in Bezug auf den Tod eines der Ehegatten oder nach der Identität der zur Ingangsetzung eines solchen Gerichtsverfahrens befugten Person zu differenzieren. Demnach scheint unter Berücksichtigung nur des Wortlauts dieser Bestimmung ein von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Eheungültigkeitsverfahren zwingend unter den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 zu fallen.

28

Eine solche Auslegung des Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 wird zweitens auch durch den systematischen Zusammenhang dieser Bestimmung bekräftigt.

29

In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 die vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgeschlossenen Materien abschließend aufzählt, wozu insbesondere Unterhaltspflichten sowie Trusts und Erbschaften gehören. Ebenso stellt der achte Erwägungsgrund der Verordnung klar, dass diese nur für die Auflösung einer Ehe und nicht für Fragen wie das Ehegüterrecht gelten sollte.

30

Nun zählt ein von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Eheungültigkeitsverfahren nicht zu den in Art. 1 Abs. 3 dieser Verordnung genannten, vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossenen Materien.

31

Im Übrigen weist das vorlegende Gericht zwar darauf hin, dass das Klageinteresse von Edyta Mikołajczyk im Ausgangsverfahren mit ihrer Eigenschaft als testamentarische Erbin von Zdzisława Czarnecka verbunden sei, doch stellt dieses Gericht auch klar, dass dieser Rechtsstreit nur die Frage der Ungültigerklärung der zwischen Marie Louise Czarnecka und Stefan Czarnecki geschlossenen Ehe zum Gegenstand habe und demnach nicht unter die in Art. 1 Abs. 3 Buchst. f der Verordnung Nr. 2201/2003 normierte Ausschlussbestimmung für Trusts und Erbschaften fallen könne.

32

Drittens wird die Auslegung des Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003, nach der ein von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Eheungültigkeitsverfahren unter den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, auch durch das mit ihr verfolgte Ziel bestätigt.

33

In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 laut ihrem ersten Erwägungsgrund zur Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beiträgt, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Zu diesem Zweck legt sie in ihren Kapiteln II und III u. a. Regeln über die Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidungen im Bereich der Auflösung einer Ehe fest, wobei diese Regeln die Rechtssicherheit gewährleisten sollen (Urteil vom 16. Juli 2009, Hadadi, C‑168/08, EU:C:2009:474, Rn. 47 und 48).

34

Ein Ausschluss eines Verfahrens wie des Ausgangsverfahrens vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 wäre hingegen der Verfolgung dieses Ziels insofern abträglich, als dieser Ausschluss die mit dem Fehlen eines einheitlichen Regelungsrahmens in diesem Bereich verbundene Rechtsunsicherheit verstärken könnte, und zwar umso mehr, als die Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (ABl. 2012, L 201, S. 107) weder Personenstandsfragen noch Familienverhältnisse abdeckt.

35

Wie der Generalanwalt in Nr. 27 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, impliziert im Übrigen der Umstand, dass sich die Ungültigkeitsklage im Ausgangsverfahren gegen eine durch den Tod eines der Ehegatten bereits aufgelöste Ehe richtet, nicht, dass diese Klage nicht unter den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fallen würde. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass jemand ein rechtliches Interesse daran haben kann, eine Ehe auch nach dem Tod eines der Ehegatten noch für ungültig erklären zu lassen.

36

Zwar ist ein solches Interesse nach Maßgabe der anwendbaren innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu beurteilen, doch besteht kein Grund, einem Dritten, der nach dem Tod eines der Ehegatten ein Eheungültigkeitsverfahren in Gang gesetzt hat, die Inanspruchnahme der von der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen einheitlichen Kollisionsnormen zu versagen.

37

Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen ist auf die ersten beiden Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass ein von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt.

Zur dritten Vorlagefrage

38

Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass eine andere Person als einer der Ehegatten, die ein Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe in Gang setzt, sich auf die in diesen Bestimmungen vorgesehenen Zuständigkeitsgrundlagen stützen kann.

39

Das vorlegende Gericht hegt insofern Zweifel über die auf diese Frage zu gebende Antwort, als im Fall ihrer Bejahung ein Gericht ohne jegliche Verbindung mit dem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts eines oder beider Ehegatten über eine von einem Dritten erhobene Eheungültigkeitsklage entscheiden könnte.

40

Dazu ist festzuhalten, dass Art. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 allgemeine Zuständigkeitskriterien im Bereich der Ehescheidung, der Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und der Ungültigerklärung einer Ehe festlegt. Diese objektiven, alternativen und abschließenden Kriterien beruhen auf der Notwendigkeit einer auf die spezifischen kollisionsrechtlichen Bedürfnisse im Bereich der Auflösung einer Ehe angepassten Regelung.

41

Während Art. 3 Abs. 1 Buchst. a erster bis vierter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 ausdrücklich auf die Kriterien des gewöhnlichen Aufenthalts der Ehegatten bzw. des Antragsgegners Bezug nimmt, erlauben Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter Gedankenstrich sowie Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich dieser Verordnung die Anwendung der Zuständigkeitsregel des Klägergerichtsstands.

42

Die zuletzt genannten Bestimmungen verleihen den Gerichten des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, unter bestimmten Bedingungen die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Auflösung einer Ehe. So schreibt Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 eine solche Zuständigkeit fest, wenn der Antragsteller sich dort seit mindestens einem Jahr unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat, während Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich dieser Verordnung ebenfalls diese Zuständigkeit vorsieht, wenn der Antragsteller sich dort seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat und wenn er Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist oder, in bestimmten Fällen, dort sein „domicile“ hat.

43

Unter diesen Umständen ist zwecks Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage die genaue Reichweite des Begriffs des „Antragstellers“ im Sinne dieser Vorschriften zu bestimmen, um zu beurteilen, ob dieser Begriff auf die Ehegatten beschränkt ist oder ob er auch Dritte umfasst.

44

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus den Erfordernissen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitssatzes, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontextes der Vorschrift und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. April 2009, A, C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 34, und vom 16. Juli 2009, Hadadi, C‑168/08, EU:C:2009:474, Rn. 38).

45

Da Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 für die Bestimmung der Reichweite des Begriffs des „Antragstellers“ keinen ausdrücklichen Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten enthält, muss diese Bestimmung im Hinblick auf den Kontext dieser Vorschriften und das Ziel dieser Verordnung vorgenommen werden.

46

Hinsichtlich des Kontextes des Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 ist der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entnehmen, dass dieser Artikel mehrere Gerichtsstände vorsieht, die nicht in eine Rangordnung gestellt worden sind, da alle in diesem Artikel aufgeführten objektiven Kriterien alternativ nebeneinander bestehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2009, Hadadi, C‑168/08, EU:C:2009:474, Rn. 48).

47

Somit sollen mit dem durch die Verordnung Nr. 2201/2003 eingeführten System der Zuständigkeitsverteilung im Bereich der Auflösung einer Ehe mehrfache Zuständigkeiten nicht ausgeschlossen werden. Vielmehr ist das Nebeneinander mehrerer gleichrangiger Gerichtsstände ausdrücklich vorgesehen (Urteil vom 16. Juli 2009, Hadadi, C‑168/08, EU:C:2009:474, Rn. 49).

48

Betreffend die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung aufgeführten Kriterien hat der Gerichtshof entschieden, dass diese in verschiedener Hinsicht an den gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegatten anknüpfen (Urteil vom 16. Juli 2009, Hadadi, C‑168/08, EU:C:2009:474, Rn. 50).

49

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die in Art. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 festgelegten Zuständigkeitsregeln einschließlich der in seinem Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich vorgesehenen zur Wahrung der Interessen der Ehegatten konzipiert worden sind.

50

Eine solche Auslegung entspricht auch dem Ziel dieser Verordnung, da diese flexible Kollisionsregeln eingeführt hat, um auf die Freizügigkeit der Personen Rücksicht zu nehmen und auch die Rechte des Ehegatten zu schützen, der den Staat des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts verlassen hat, gleichzeitig aber auch das Bestehen einer tatsächlichen Beziehung zwischen dem Verfahrensbeteiligten und dem Mitgliedstaat, der die Zuständigkeit wahrnimmt, zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2007, Sundelind Lopez, C‑68/07, EU:C:2007:740, Rn. 26).

51

Daraus folgt, dass ein von einem Dritten in Gang gesetztes Eheungültigkeitsverfahren zwar in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt, dieser Dritte aber an die zugunsten der Ehegatten festgelegten Zuständigkeitsregeln gebunden bleiben muss. Diese Auslegung nimmt dem Dritten im Übrigen nicht den Zugang zu Gericht, da er sich auf andere in Art. 3 dieser Verordnung vorgesehene Zuständigkeitskriterien stützen kann.

52

Aus diesem Grund erfasst der Begriff des „Antragstellers“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 keine anderen Personen als die Ehegatten.

53

Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen ist auf die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass eine andere Person als einer der Ehegatten, die ein Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe in Gang setzt, sich nicht auf die in diesen Bestimmungen vorgesehenen Zuständigkeitsgrundlagen stützen kann.

Kosten

54

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass ein von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetztes Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt.

 

2.

Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter und sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass eine andere Person als einer der Ehegatten, die ein Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe in Gang setzt, sich nicht auf die in diesen Bestimmungen vorgesehenen Zuständigkeitsgrundlagen stützen kann.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

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