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Document 52011AE0795

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen“ KOM(2010) 748 endg./2 — 2010/0383 (COD)

ABl. C 218 vom 23.7.2011, p. 78–81 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

23.7.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 218/78


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen“

KOM(2010) 748 endg./2 — 2010/0383 (COD)

2011/C 218/14

Hauptberichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Der Rat beschloss am 15. Februar 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 67 Absatz 4 und Artikel 81 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

KOM(2010) 748 endg./2 — 2010/0383 (COD).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch am 1. Februar 2011 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 471. Plenartagung am 4./5. Mai 2011 (Sitzung vom 5. Mai) Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 162 gegen 1 Stimme bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission, da er diesen für geeignet hält, die angestrebte Beseitigung rechtlicher Hindernisse zu erreichen, somit den Bürgerinnen und Bürgern und den Unternehmen das Leben leichter zu machen und den wirksamen Rechtsschutz zu verbessern.

1.2   Der Ausschuss fordert die Kommission auf, ihre Bemühungen um Beseitigung der rechtlichen Hindernisse in der Europäischen Union fortzusetzen, um einen echten europäischen Rechtsraum zu verwirklichen, und dabei die vom EWSA in seinen einschlägigen Stellungnahmen vorgebrachten Anmerkungen im vollen Umfang zu berücksichtigen.

2.   Einführung

2.1   Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 ersetzt seit dem 1. März 2002 das Brüsseler Übereinkommen und ganz allgemein sämtliche einschlägigen bilateralen Abkommen zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten. Diese Verordnung („Brüssel I“) ist die bislang wichtigste Rechtsvorschrift der EU für die gerichtliche Zusammenarbeit in Zivilsachen.

2.2   Im Wesentlichen wurde es durch die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 möglich, in bestimmten Fällen natürliche oder juristische Personen im Rahmen eines grenzüberschreitenden Rechtsstreits in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Wohnsitz-Mitgliedstaat zu verklagen, wobei das Kriterium des am nächsten liegenden Anknüpfungspunkts gefördert wurde.

2.2.1   Andererseits ist in Artikel 5 der Verordnung vorgesehen, dass bei Verträgen und insbesondere beim Verkauf beweglicher Sachen ein Unternehmen in dem Mitgliedstaat verklagt werden kann, in dem die Ware geliefert wurde oder hätte geliefert werden müssen.

2.2.2   Die Bereiche, auf die die neue Bestimmung Anwendung findet, werden in Artikel 5 aufgezählt (vertragliche und außervertragliche Haftung, Schadenersatzklagen, Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung usw.).

2.2.3   Der Zuständigkeit in Versicherungssachen ist in der Verordnung ein ganzer Abschnitt (Abschnitt 3) gewidmet. Danach kann der Versicherungsnehmer an seinem Wohnsitz eine Klage gegen den Versicherer einreichen, und zwar auch dann, wenn dieser seinen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat. Will jedoch der Versicherer den Versicherungsnehmer, den Versicherten oder den Begünstigten verklagen, muss er dies an dem Ort tun, an dem diese ihren Wohnsitz haben.

2.3   Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 ist an sich eine Abfolge von ausdrücklichen Zuständigkeitsregelungen, in der mitunter dem Schutz bestimmter Zielgruppen (Verbrauchersachen, individuelle Arbeitsverträge) besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bezieht sich der Rechtsstreit auf Immobilien, die Auflösung von Gesellschaften oder juristischen Personen, Eintragungen in öffentliche Register oder auf die Zwangsvollstreckung gerichtlicher Entscheidungen, gelten für die gerichtliche Zuständigkeit jedoch weiter die herkömmlichen Vorschriften.

2.4   Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 enthält zunächst zwei umfangreiche Abschnitte zur Regelung der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen und der Anerkennung öffentlicher Urkunden anderer Mitgliedstaaten und am Ende eine Reihe von Schluss- und Übergangsbestimmungen, insbesondere zu der Frage, wie sich dieses neue Instrument der gerichtlichen Zusammenarbeit zu den anderen spezifischen Abkommen verhält, die die einzelnen Mitgliedstaaten geschlossen haben.

2.5   Am 21. April 2009 nahm die Kommission einen Bericht über die Anwendung der Verordnung an sowie ein Grünbuch, zu dem sich der Ausschuss hinsichtlich einiger Änderungsvorschläge der Kommission bereits zustimmend geäußert hat (1).

3.   Vorschlag für eine Verordnung

3.1   Die Überarbeitung erfolgt mit dem Ziel der Weiterentwicklung des europäischen Rechtsraums und dient die Beseitigung der noch verbleibenden Hindernisse für den freien Verkehr gerichtlicher Entscheidungen nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Mit dem vom Europäischen Rat 2009 auf den Weg gebrachten Stockholmer Programm (2) wurde diesem Ziel erneut Nachdruck verliehen. Das konkrete Ziel des Vorschlags besteht darin, die Beschreitung des Rechtswegs und den freien Verkehr von gerichtlichen Entscheidungen in der Europäischen Union über die Ländergrenzen hinweg zu erleichtern. Ferner soll die Neufassung durch Schaffung der entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen einen Beitrag zur Gesundung der europäischen Wirtschaft leisten.

3.2   Bei der Neufassung wird Folgendes vorgeschlagen:

Abschaffung des Zwischenverfahrens für die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen (Exequatur) außer bei Entscheidungen über Verleumdungsklagen und kollektiven Schadenersatzklagen; mit mehreren Rechtsbehelfen, um im Notfall zu verhindern, dass ein in einem Mitgliedstaat ergangenes Gerichtsurteil in einem anderen Mitgliedstaat rechtswirksam wird;

der Vorschlag beinhaltet auch eine Reihe von Formblättern, die die Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Gerichtsentscheidungen bei Wegfall des Exequaturverfahrens sowie den Antrag auf Nachprüfung im Rahmen des Verfahrens zum Schutz der Verteidigungsrechte erleichtern sollen;

Ausweitung der Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung auf Streitsachen, bei denen der Beklagte ein Drittstaatsangehöriger ist; hierzu gehört auch die Regelung von Sachverhalten, bei denen dieselbe Sache vor einem Gericht innerhalb und außerhalb der EU anhängig ist. Konkret wird mit der Änderung sichergestellt, dass die Zuständigkeitsvorschriften zum Schutz von Verbrauchern, Arbeitnehmern und Versicherten auch dann greifen, wenn die beklagte Partei ihren Wohnsitz außerhalb der EU hat;

Verbesserung der Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen, wozu zwei Änderungen vorgesehen werden:

Treffen die Parteien für den Streitfall ein Gerichtsstandsvereinbarung, soll dem Vorschlag zufolge zunächst das vereinbarte Gericht die Möglichkeit haben, sich für zuständig zu erklären, gleich, ob es zuerst oder später angerufen wurde.

Außerdem ist die Einführung einer harmonisierten Kollisionsnorm zur materiellen Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarungen vorgesehen, um sicherzustellen, dass diesbezüglich unabhängig vom angerufenen Gericht überall annährend gleich entschieden wird.

bessere Verzahnung von Verordnung und Schiedsgerichtsbarkeit;

Erleichterung des gerichtlichen Rechtsschutzes bei bestimmten Arten von Rechtsstreitigkeiten und

Klärung der Voraussetzungen, unter denen einstweilige Maßnahmen in der EU ohne Weiteres länderübergreifend anerkannt und vollstreckt werden können.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag sehr und befürwortet den Erlass einer Neufassung der geltenden Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel I).

4.2   Wie aus dem Kommissionsvorschlag klar hervorgeht, handelt es sich um eine notwendige Initiative zur Verbesserung der Funktionsweise des Raumes der Freiheit, die Sicherheit und des Rechts sowie des Binnenmarktes, die zudem nur auf supranationaler Ebene vorangebracht werden kann. Sie stellt überdies in einer globalisierten Welt ein wertvolles Rechtsinstrument dar, mit dem der internationale Geschäftsverkehr erleichtert und eine Verbesserung der Lage hinsichtlich der die EU-Grenzen überschreitenden Streitigkeiten erreicht werden kann.

4.2.1   In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die wichtigen vorgeschlagenen Neuerungen auf rechtlichem Gebiet sowie die Festschreibung bestimmter Regeln und Grundsätze auf diesem Gebiet, die in der EU bereits Anwendung finden, auf den Erfahrungen basieren, die die grenzüberschreitend arbeitenden Juristen, Fachleute und zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Kommission im Zuge der öffentlichen Konsultation übermittelt haben.

4.2.2   Hervorzuheben gilt es nicht nur die grundsätzliche Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips, das ein Tätigwerden auf EU-Ebene rechtfertigt, da die einzelnen Mitgliedstaaten nicht befugt sind, einseitig bestimmte Aspekte der geltenden Brüssel-I-Verordnung zu ändern, wie zum Beispiel das Exequaturverfahren und die Bestimmungen über die Zuständigkeit und die Koordinierung der einzelnen Verfahren vor den Gerichten der Mitgliedstaaten sowie die Verzahnung dieser Verfahren mit Schiedsverfahren. Bedeutung kommt hier auch der funktionalen Subsidiarität zu, die ein fester Bestandteil des im EU-Vertrag und im Vertrag von Lissabon verankerten Prinzips der partizipativen Demokratie ist. Der EWSA hat sich seinerzeit bereits für zahlreiche der jetzt von der Kommission vorgebrachten Vorschläge ausgesprochen (3).

4.3   In dem Vorschlag werden realistische, wohl überlegte und flexible rechtstechnische Lösungen für Probleme vorgeschlagen, die in den Jahren der Anwendung der Brüssel-I-Verordnung festgestellt wurden. Diese Vorschläge beinhalten zusammenfassend folgendes: die Abschaffung des Exequaturverfahrens außer bei Entscheidungen über Verleumdungsklagen und kollektiven Schadenersatzklagen, die Anwendung der Verordnung auf Streitsachen, bei denen der Beklagte ein Drittstaatsangehöriger ist; die Verbesserung der Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen; eine bessere Verzahnung von Verordnung und Schiedsgerichtsbarkeit; die Klärung der Voraussetzungen, unter denen einstweilige und Sicherungsmaßnahmen in der EU ohne Weiteres länderübergreifend anerkannt und vollstreckt werden können, kurz die Verbesserung des gerichtlichen Rechtsschutzes und der Funktionsweise und Verfahren vor den Gerichten der Mitgliedstaaten.

4.3.1   Es gibt keinen wichtigen Grund dafür, warum in dem Vorschlag Kollektivklagen hinsichtlich der Abschaffung des Exequaturverfahrens ausgenommen werden; der Ausschuss hält Artikel 37 im derzeitigen Wortlaut daher für nicht zufrieden stellend. Der EWSA hat sich bereits mehrfach für eine EU-Regelung für kollektive bzw. Sammelklagen ausgesprochen. Die Kommission sollte eine eventuelle Änderung von Artikel 6 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 in Erwägung ziehen, um die Bündelung von Klagen mehrerer Kläger im Rahmen eines Verfahrens zuzulassen, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.

4.3.2   Im Hinblick auf die Ausnahme von Verleumdungsklagen ist festzustellen, dass Artikel 37 Absatz 3 Buchstabe a in Wirklichkeit viel weiter gefasst ist, da dort Entscheidungen eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats genannt werden, die sich auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus der Verletzung der Privatsphäre oder der Persönlichkeitsrechte beziehen. Die Kommission sollte überdenken, ob diese Ausnahme wirklich so weit gefasst sein muss oder ob sie nicht eingegrenzt werden könnte, damit gewöhnliche Fälle, wie sie im Alltag der Bürger auftreten, nicht herausfallen.

4.3.3   Im Hinblick auf weiterführende Überlegungen über die notwendigen Änderungen an den rechtlichen Mechanismen und Verfahren, die in dem Vorschlag behandelt werden, sind jedoch einige Bemerkungen angebracht, die die Kommission künftig berücksichtigen sollte.

4.3.4   So bezüglich Artikel 58 Absatz 3 der Neufassung der Verordnung, in dem festgelegt ist, dass das Gericht bei Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen über Anträge auf Vollstreckbarerklärung „seine Entscheidung unverzüglich [erlässt]“. Hier könnte präzisiert werden, innerhalb welcher Frist diese Entscheidung ergehen muss, um im Interesse der Rechtssuchenden unbegründete Verzögerungen oder eine Verschleppung des Verfahrens zu verhindern.

4.3.5   In diesem Sinne könnte als Höchstfrist entweder die in Artikel 58 Absatz 2 für Entscheidungen über Anträge auf Vollstreckbarerklärung selbst vorgesehene Frist von 90 Tagen vorgesehen werden oder aber eine Frist mittlerer Dauer, die zwischen der Frist von sechs Wochen gem. Artikel 11 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung) und der genannten Frist von 90 Tagen liegt.

4.3.6   Ebenso könnte eine Umformulierung des neuen Verfahrens der gerichtlichen Zusammenarbeit nach Artikel 31 der Neufassung ins Auge gefasst werden, um die Rolle des in der Hauptsache zuständigen Gerichts zu stärken und zu verhindern, dass die Entscheidung in einem Rechtsstreit bewusst hinausgezögert oder verschleppt wird.

4.3.7   Die Pflicht zur Abstimmung zwischen dem in der Hauptsache zuständigen Gericht und dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats, bei dem einstweilige Maßnahmen beantragt werden, bleibt relativ unbestimmt und wird in dem Vorschlag nur dadurch umschrieben, dass letzteres bei ersterem Informationen über alle relevanten Umstände des Falles einholen soll (u.a. über die Dringlichkeit der beantragten Maßnahme oder die etwaige Ablehnung einer ähnlichen Maßnahme durch das mit der Hauptsache befasste Gericht). Diese Pflicht könnte daher durch eine weitere Bestimmung ergänzt werden, wonach solche Anträge auf einstweilige Maßnahmen überhaupt nur in Ausnahmefällen zuzulassen sind oder für diesen Fall sogar grundsätzlich eine Unzuständigkeitserklärung zu Gunsten des in der Hauptsache entscheidenden Gerichts vorgesehen wird.

4.3.8   Die entspräche zudem voll der Auffassung des Gerichtshofs bei der Auslegung der diesbezüglichen Rechtsvorschriften wie der hier angeführten Verordnung 2201/2003, wonach dem in der Hauptsache zuständigen Gericht im Hinblick auf ein schnelles Verfahren und die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung eine zentrale Rolle zukommt.

4.4   Besonders eingegangen werden soll hier auf die Beibehaltung der Klausel bezüglich der öffentlichen Ordnung (ordre public) nur in den Fällen, in denen das Exequaturverfahren abgeschafft wird (Artikel 34 Absatz 1 der geltenden Brüssel-I-Verordnung), und auf Artikel 48 Absatz 1 der vorgeschlagene Neufassung, wonach die angerufenen Gerichte der Mitgliedstaaten befugt sind Entscheidungen nicht anzuerkennen, die der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würden.

4.4.1   Sicherlich handelt es sich dabei um eine Befugnis, die auch Spielraum für Auslegungen und Ermessensentscheidungen der jeweils angerufenen Gerichte bietet, doch dieses Risiko ist derzeit sehr gering, wie sich während der jahrelangen Anwendung der Brüssel-I-Verordnung gezeigt hat, da es durch drei rechtliche Faktoren eingeschränkt wird: die diesbezüglich vom EuGH festgelegten Kriterien (4), die verbindliche Geltung der EU-Grundrechtecharta und eine umfassende und konsolidierte Rechtsprechung des Gerichtshofs, die die Ordre-public-Klausel durch das Kriterium der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts systematisch einengt.

4.4.2   Dessen ungeachtet fordert der Ausschuss die Europäische Kommission auf, die Praxis der Gerichte der Mitgliedstaaten bei Entscheidungen über die gerichtliche Zuständigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung sorgfältig zu beobachten, um eine korrekte Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen sicherzustellen.

4.5   Der Vorschlag für eine Neufassung der Verordnung enthält eine besondere Vorschrift, zwar am Rande, aber doch als Neuerung, wonach Schiedsgerichtsvereinbarungen über die Zuständigkeit eines Schiedsgerichts in einem Mitgliedstaat der EU anerkannt werden, wodurch die Gefahr des „forum shopping“ (Wahl des günstigsten Gerichtsstands) etwas eingedämmt wird, was der Ausschuss allerdings nicht als ausreichend erachtet.

4.5.1   Da vermehrt und immer häufiger auf diese Möglichkeit der Streitbeilegung – insbesondere bei handelsrechtlichen Sachen - zurückgegriffen wird und diese Form der Konfliktlösung auch auf andere, für die Belange der Bürger wesentliche Bereiche ausgedehnt werden sollte (u.a. Verbraucherrecht und das Arbeitsrecht), fordert der Ausschuss die Kommission auf, kurzfristig die Schaffung eines Instruments des Gemeinschaftsrechts für die Anerkennung und Vollstreckung von Schiedssprüchen ins Auge zu fassen. Die Verordnung (Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe d) schließt zwar eine gerichtliche Überprüfung nicht aus, nimmt die Schiedsgerichtsbarkeit aber ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich der Verordnung aus.

4.6   In ähnlicher Weise könnte die Kommission zur inhaltlichen Klärung und zur Beschleunigung von gerichtlichen Entscheidungen die Erarbeitung einer Mitteilung oder von Leitlinien zur Auslegung von Artikel 5 der Neufassung in Erwägung ziehen, da in dem Vorschlag die bisherigen Bestimmungen des entsprechenden Artikels der Brüssel-I-Verordnung nahezu unverändert übernommen werden.

4.6.1   Den Bestimmungen beider Rechtsvorschriften zufolge ist in Handelssachen das Gericht des Ortes zuständig, an dem die strittige Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre. Dieser Ort ist, sofern nichts anderes vereinbart wurde, beim Verkauf beweglicher Sachen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie geliefert worden sind oder hätten geliefert werden müssen, und bei der Erbringung von Dienstleistungen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen.

4.6.2   Die Rechtsprechung des Gerichtshofes, in der die Begriffe „Dienstleistung“ und „bewegliche Sachen“ im Zusammenhang mit den Freiheiten des Binnenmarktes ausgelegt werden, kann nicht auf den Geltungsbereich der Brüssel-I-Verordnung angewandt werden, weshalb der Gerichtshof bislang alle Auslegungsfragen bezüglich des Geltungsbereichs von Artikel 5 durch Verweise auf bestimmte internationale Vorschriften entschieden hat, die aber weder für die EU noch für all ihre Mitgliedstaaten verbindlich gelten und deshalb auch nicht als allgemeines Recht auf innergemeinschaftliche Verträge angewandt werden können.

4.7   Paradoxerweise steht hinter der Neuformulierung von Artikel 24 Absatz 2 der Neufassung der Verordnung offenbar das Streben nach einer Beschleunigung der Verfahren, da lediglich eine Voraussetzung für die Anwendung von Artikel 24 Absatz 1 (wonach ein Gericht, vor dem sich der Beklagte auf das Verfahren einlässt, grundsätzlich zuständig wird) eingeführt wird, nämlich dass der Beklagte im verfahrenseinleitenden Schriftstück über sein Recht, die Unzuständigkeit des Gerichts geltend zu machen, und die Folgen der Einlassung auf das Verfahren zu belehren ist. Diese Bestimmung, der durch die Aufnahme von Standardklauseln einfach Genüge getan werden kann, könnte die Rechte der schwächeren Vertragsparteien beeinträchtigen, zumal die Anwendung von Artikel 24 Absatz 2 auf Versicherungsverträge, Verbrauchersachen und individuelle Arbeitsverträge beschränkt bleibt.

4.7.1   Da die Erfüllung dieser Rechtsbelehrung des Beklagten durch das Gericht kontrolliert werden muss, bei dem die Klage eingereicht wird, es allerdings keine vorherigen diesbezüglichen Festlegungen gibt, führt das nach Ansicht des Ausschusses zu Ungewissheit und zu einem großen Ermessensspielraum hinsichtlich der Anwendung dieser Bestimmung in den 27 verschiedenen souveränen Rechtssystemen in der EU. Der Ausschuss fordert daher die Kommission auf, eine Neuformulierung dieser Bestimmung in Erwägung zu ziehen, um die rechtliche Position der Verbraucher und Arbeitnehmer zu stärken und einheitliche Kriterien für die Praxis der zuständigen Gerichte zu gewährleisten.

Brüssel, den 5. Mai 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 48.

(2)  Verabschiedet auf der Tagung des Europäischen Rates am 10./11. Dezember 2009.

(3)  ABl. C 117 vom 26.4.2000, S. 6.

(4)  Urteil des EuGH vom 28. März 2000 in der Rechtssache C-7/98 (Krombach), Sammlung 2000, S. I-01935.


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