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Document 52011AE0799

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorschlägen: „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euroraum“ KOM(2010) 525 endg. — 2010/0279 (COD) und „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“ KOM(2010) 527 endg. — 2010/0281 (COD)

ABl. C 218 vom 23.7.2011, p. 53–60 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

23.7.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 218/53


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorschlägen: „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euroraum“

KOM(2010) 525 endg. — 2010/0279 (COD)

und „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“

KOM(2010) 527 endg. — 2010/0281 (COD)

2011/C 218/09

Berichterstatter: Stefano PALMIERI

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 1. Dezember 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 136 und Artikel 121 Absatz 6 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euroraum

KOM(2010) 525 endg. — 2010/0279 (COD)

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte

KOM(2010) 527 endg. — 2010/0281 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 8. April 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 471. Plenartagung am 4./5. Mai 2011 (Sitzung vom 5. Mai) mit 189 gegen 2 Stimmen bei 11 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt, dass es die Europäische Kommission im Rahmen der Verbesserung der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU für notwendig hält, den makroökonomischen Ungleichgewichten größere Beachtung zu schenken und sie - ebenso wie die öffentlichen Haushaltsdefizite - als Faktoren für die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Instabilität der Volkswirtschaften der EU-Mitgliedstaaten anzusehen.

1.2   Der EWSA anerkennt, dass die derzeitige Wirtschaftskrise die wirtschaftliche, soziale und auch die politische Verfassung der EU im Allgemeinen und der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) im Besonderen auf eine harte Probe stellt. Zur Vermeidung der Krise war es nicht ausreichend, nur die quantitative Dimension des Wirtschaftswachstums eines Landes zu betrachten; es hätten auch die Qualität dieses Wachstum bewertet, d.h. die makroökonomischen Faktoren ermittelt werden müssen, die für oder gegen seine Nachhaltigkeit sprechen.

1.3   Der EWSA fordert, bei der Verbesserung der wirtschaftspolitischen Steuerung den Erfordernissen der Stabilität und eines neue Arbeitsplätze schaffenden Wachstums gleichermaßen Beachtung zu schenken.

1.4   Aus diesem Grunde hofft der EWSA, dass die Verbesserung der wirtschaftspolitischen Steuerung als Eckpfeiler der Wirtschafts-, Sozial- und Kohäsionspolitik der EU tatsächlich zum Erreichen der Ziele der Europa-2020-Strategie und der neuen europäischen Kohäsionspolitik beiträgt.

1.5   Der EWSA will dazu beitragen, den für eine stärkere wirtschaftspolitische Steuerung erforderlichen breiten Konsens zu erzielen, indem er einige dem Ansatz der Kommission innewohnende Nachteile und Risiken, aber auch die sich daraus ergebenden bedeutenden Möglichkeiten hervorhebt.

1.6   Die Kommission hat betont (1), dass das Auftreten und Andauern von makroökonomischen Ungleichgewichten in den Mitgliedstaaten auf Wettbewerbsfähigkeitsfaktoren zurückzuführen ist, wobei die Kommission selbst Wettbewerbsfähigkeit als „die Fähigkeit der Wirtschaft, der Bevölkerung nachhaltig einen hohen und wachsenden Lebensstandard und eine hohe Beschäftigung zu sichern (2) definiert hat. Wenn dem so ist, ergibt sich ausgehend von dieser Feststellung und Definition, dass für die Bewertung solcher Ungleichgewichte ein umfassenderes Spektrum von wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Faktoren betrachtet werden muss, was auch der EWSA für notwendig hält.

1.7   Aus diesem Grund sollte der Referenzrahmen (Scoreboard) für die Bewertung makroökonomischer Ungleichgewichte nach Ansicht des Ausschusses wirtschaftliche, finanzielle und soziale Indikatoren umfassen. In diesem Zusammenhang weist der EWSA darauf hin, dass jenen Ungleichgewichten Rechnung zu tragen ist, die sich aus den großen und zunehmenden Ungleichheiten bei der Einkommensverteilung innerhalb der Mitgliedstaaten ergeben, welche zu den Ursachen der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise gehören (3).

1.8   Makroökonomische Unterschiede sind nicht nur die Folge der Währungsunion, sondern auch Ergebnis der Eröffnung des gemeinsamen Binnenmarktes. Die grenzüberschreitende Arbeitsteilung beruht auf unterschiedlichen wettbewerblichen Vorteilen und Nachteilen in den jeweiligen Märkten. Die beabsichtigten Maßnahmen sollten deshalb nicht eine Nivellierung jeglicher Unterschiede zum Ziel haben, wenn diese aus der Dynamik des Binnenmarktes resultieren und keine negativen Auswirkungen haben.

1.9   Der EWSA betont, dass bei der Bewertung der makroökonomischen Ungleichgewichte eine angemessene und ausgewogene Evaluierung sowohl der preislichen als auch der nicht-preislichen Wettbewerbsfähigkeitsfaktoren erreicht werden muss.

1.10   Der EWSA spricht sich dafür aus, die von der Kommission geplanten Überlegungen darüber, welche Indikatoren in das Scoreboard aufgenommen werden sollen, dergestalt auszuweiten, dass auf europäischer und nationaler Ebene eine umfassende Zahl institutioneller Akteure und die Zivilgesellschaft vertretender Gremien, darunter der EWSA selbst und der Ausschuss der Regionen, darin einbezogen werden.

1.11   Nach Auffassung des EWSA sollte das von der Kommission im Rahmen des Warnmechanismus vorgeschlagene Scoreboard wegen der diesem Ansatz inhärenten technischen Probleme (Festlegung der Alarmschwellen, Gewichtung der verschiedenen Ursachen der Ungleichgewichte, zu berücksichtigender Übergangszeitraum) im Wesentlichen als Instrument für eine erste Bewertung angesehen werden. Daran muss sich jedoch eine umfassendere und eingehende wirtschaftliche Evaluierung der Ungleichgewichte des jeweiligen Mitgliedstaats anschließen.

1.12   Der EWSA warnt vor der Gefahr, den Zusammenhang zwischen Ermittlung der Ungleichgewichte, Durchführung der Abhilfemaßnahmen und Korrektur dieser Ungleichgewichte innerhalb eines angemessenen Zeitraums als gegeben vorauszusetzen. In diesem Kontext kommen weitere Faktoren ins Spiel, die zu einer noch größeren Zeitverzögerung führen könnten: a) die komplizierten Zusammenhänge zwischen makroökonomischen Zielen und Instrumenten; b) die indirekte Kontrolle der Instrumente durch die Politik und c) die mögliche Unwirksamkeit des für die WWU-Länder vorgeschlagenen Systems von Sanktionen.

1.13   Der EWSA weist auf die Gefahr hin, dass mögliche restriktive Ausgleichsmaßnahmen eine prozyklische Politik begünstigen könnten, die die derzeitige Phase der wirtschaftlichen Rezession verstärkt und verlängert. Es ist sogar möglich, dass die den einzelnen Mitgliedstaaten verordnete Mischung wirtschaftspolitischer Maßnahmen zwar für die internen Ungleichgewichte notwendig, für die EU in ihrer Gesamtheit aber nicht die richtige Mischung ist.

1.14   Nach Ansicht des EWSA wurde bei den Maßnahmen zur Vermeidung makroökonomischer Ungleichgewichte, die im Wesentlichen mit der Verschuldung des privaten Sektors zusammenhängen, die Aufsichts- und Kontrollrolle unterschätzt, die die Europäische Zentralbank (EZB), das Europäische Zentralbankensystem, der Europäische Ausschuss für Systemrisiken und die Europäische Bankaufsichtsbehörde spielen könnten. Aus diesem Grund fordert der EWSA, dass im Rahmen einer Koordinierung zwischen den genannten Institutionen die Bedingungen für die Gewährleistung einer wirksamen direkten oder indirekten Beaufsichtigung des Bankensystems und für geeignete Regulierungsmaßnahmen für die Kreditvergabe (deren Regulierungskriterien entsprechend festzulegen sind) geschaffen werden.

1.15   Der EWSA betont, dass in dem Paket von Rechtsvorschriften zur Prävention und Korrektur von makroökonomischen Ungleichgewichten entsprechende Überlegungen zum EU-Haushalt fehlen. Asymmetrische Schocks in den Mitgliedstaaten des Euroraums machen den Einsatz von Instrumenten zur Herstellung eines makroökonomischen Gleichgewichts erforderlich. In diesem Zusammenhang hält es der EWSA für zweckmäßig, das Potenzial eines flexibleren und mit mehr Mitteln als bisher ausgestatteten Haushaltssystems zu bewerten. Dies würde die notwendigen Mittelübertragungen von Bereichen, die von den Schocks profitiert haben, auf geschädigte Bereiche ermöglichen, entweder durch automatische Stabilisierungsmechanismen oder durch die Finanzierung von gesamteuropäischen Investitionsvorhaben (z.B. durch die Ausgabe von Euro-Anleihen) (4).

1.16   Der EWSA bekräftigt seinen Standpunkt, dass eine wirksame Koordinierung der europäischen Wirtschaftspolitik, aus der sich eine starke demokratische Legitimierung gegenüber den Unionsbürgern schöpfen lässt, eine stärkere Stellung des Europäischen Parlaments, des EWSA und des Ausschusses der Regionen 6 d.h. der die Bürger, die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft vertretenden Institutionen 6 voraussetzt (5).

1.17   Das EP kann nach Ansicht des EWSA entscheidend dazu beitragen, dass der makroökonomische Referenzrahmen, die Prioritäten bei der Problemlösung und die Ermittlung der zu ergreifenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen mitgetragen werden. Das Parlament könnte in diesem Zusammenhang das Forum sein, in dem zusammen mit den anderen Organen eine gemeinsame Strategie vereinbart wird, die sich nicht nur auf Vorschriften und formale Verfahren beschränkt, sondern im Einzelnen auf konkrete Maßnahmen zur Stärkung des Vertrauens und zur Erfüllung der Erwartungen der europäischen Bürger eingeht.

1.18   Der EWSA begrüßt die Schlussfolgerung des Europäischen Rates vom 24./25.3.2011, wonach der EWSA in eine „enge Zusammenarbeit“ bei der Durchführung des europäischen Semesters einbezogen werden soll, „um sicherzustellen, dass diese Maßnahmen von vielen Seiten mitgetragen werden.“ Er erklärt seine Bereitschaft zu einer umfassenden Mitwirkung und hofft, dass der Rat mit dem EWSA alsbald in entsprechende Gespräche eintritt.

1.19   Als Forum für den zivilgesellschaftlichen Dialog könnte der EWSA eine jährliche Sondersitzung (im Herbst) organisieren, um die Empfehlungen an die Mitgliedstaaten zu diskutieren und sich mit den jeweiligen nationalen Wirtschafts- und Sozialräten, den nationalen Parlamenten und dem EP darüber auszutauschen. Die verabschiedeten Strategien könnten so einer Bewertung unterzogen und auf nationaler Ebene entsprechend verbreitet und propagiert werden.

1.20   Der EWSA spricht sich für einen stärkeren und zielgerichteteren Einsatz des makroökonomischen Dialogs aus, um die Vermeidung und Korrektur der Ungleichgewichte nicht der Kommission und den einzelstaatlichen Regierungen allein zu überlassen. Dieser Dialog könnte zu einem Instrument werden, mit dem die Regierungen und die Sozialpartner die Wirtschaftslage auf EU-Ebene und die zu ergreifenden Maßnahmen gemeinsam bewerten, und zwar in enger Verbindung mit dem sozialen Dialog und der Konzertierung auf nationaler Ebene, um die Entwicklungen in der EU insgesamt und in den einzelnen Mitgliedstaaten miteinander in Einklang zu bringen.

2.   Maßnahmen zur Korrektur interner makroökonomischer Ungleichgewichte gemäß den Vorschlägen der Europäischen Kommission in den Dokumenten KOM(2010) 525 und 527 endg.

2.1   Die Europäische Kommission hat am 30. Juni 2010 die Mitteilung „Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung für Stabilität, Wachstum und Beschäftigung – Instrumente für bessere wirtschaftspolitische Steuerung der EU“ vorgelegt (6). Mit dieser Mitteilung setzt die Kommission ihre in der Mitteilung „Verstärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung“ (7) bereits angekündigten Bemühungen fort.

2.2   Die Kommission und die vom Präsidenten des Europäischen Rates Herman VAN ROMPUY geleitete Arbeitsgruppe erkennen angesichts der internationalen Finanzkrise an, dass die Einhaltung der im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegten Kriterien, die durch die Reform der Überwachung weiter verschärft wurden, nicht ausreicht, um die Stabilität der WWU zu gewährleisten. Auch makroökonomische Ungleichgewichte innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gefährden das europäische Wirtschaftssystem in seiner Gesamtheit, da sie zur Verschlechterung der öffentlichen Finanzen beitragen und Spannungen auf den Finanzmärkten hervorrufen.

2.3   

Davon ausgehend hat die Kommission am 29. September 2010 ein Paket von sechs Vorschlägen für Rechtsvorschriften (8) vorgelegt, mit denen der Rechtsrahmen zur Prävention und Korrektur von nationalen Haushaltsungleichgewichten (gem. Stabilitäts- und Wachstumspakt) (9) und von makroökonomischen Ungleichgewichten in den Mitgliedstaaten abgesteckt werden soll. Gegenstand dieser Stellungnahme ist der Vorschlag der Kommission zur Überwachung der makroökonomischen Ungleichgewichte, der sich auf die Vorlagen KOM(2010) 525 endg. (Verfahren wegen übermäßigen Ungleichgewichts mit Strafen nur für die WWU-Länder) und KOM(2010) 527 endg. (Warnmechanismus für alle Mitgliedstaaten) stützt.

2.3.1   Der Warnmechanismus für alle Mitgliedstaaten umfasst:

die regelmäßige Bewertung der Risiken, die sich aus makroökonomischen Ungleichgewichten in den einzelnen Mitgliedstaaten ergeben, anhand eines Referenzrahmens (Scoreboard) mit wirtschaftlichen Indikatoren und Schwellen-Richtwerten;

die Ermittlung der Mitgliedstaaten, bei denen die Kommission die Gefahr eines Ungleichgewichts sieht, um die tatsächliche Schwere der Situation zu beurteilen, und zwar durch eine wirtschaftliche und nicht nur rein mechanische Auswertung des Scoreboard;

eine ausführliche Analyse der gesamtwirtschaftlichen Lage derjenigen Mitgliedstaaten, die beim Scoreboard besonders schlecht punkten;

bei tatsächlichem Vorliegen eines Risikos ggf. eine Empfehlung der Kommission an den betreffenden Mitgliedstaat, das Ungleichgewicht zu korrigieren, neben den anderen im „Europäischen Semester“ vorgesehenen Empfehlungen (Art. 121 Abs. 2 AEUV);

ggf. Einleitung eines Verfahrens bei einem übermäßigen Ungleichgewicht (Excessive Imbalance Procedure - EIP) oder 6 im Euroraum 6 bei Gefährdung des ordnungsgemäßen Funktionierens der WWU durch ein ernstes Ungleichgewichtsrisiko oder die Gefahr des Übergreifens auf andere Mitgliedstaaten (Art. 121 Abs. 4 AEUV).

2.3.2   Bei einem Verfahren wegen übermäßigen Ungleichgewichts muss der Mitgliedstaat dem Rat der EU einen Korrekturmaßnahmenplan vorlegen. Wird festgestellt, dass der betreffende Mitgliedstaat angemessene Maßnahmen ergriffen hat, ruht das Verfahren, bis der Korrekturmaßnahmenplan zur Anwendung kommt; der Mitgliedstaat muss aber dem Rat ECOFIN regelmäßig über seine Fortschritte berichten. Das EIP-Verfahren wird endgültig eingestellt, sobald der Rat auf Empfehlung der Kommission zu dem Schluss gelangt, dass das Ungleichgewicht soweit abgebaut wurde, dass es nicht mehr übermäßig ist.

2.3.3   Wenn ein WWU-Mitgliedstaat mit übermäßigen Ungleichgewichten untätig bleibt und zweimal hintereinander nicht fristgemäß einen geeigneten Korrekturmaßnahmenplan vorlegt oder die vorgesehenen Maßnahmen nicht umsetzt, können Geldbußen wegen Untätigkeit (in Höhe von bis zu 0,1 % des BIP) verhängt werden.

2.4   Das wichtigste Instrument zur Auslösung des Warnmechanismus für makroökonomische Ungleichgewichte ist das von der Kommission vorgeschlagene Scoreboard in Verbindung mit einer länderspezifischen Prüfung der Wirtschaftslage des Mitgliedstaats. Das Scoreboard weist folgende Merkmale auf:

i)

ein begrenzter Satz von Indikatoren für die Erkennung der wichtigsten Ungleichgewichte und Probleme bei der Wettbewerbsfähigkeit;

ii)

Warnschwellen, deren Überschreiten den Beobachtungsstatus auslöst;

iii)

die Möglichkeit differenzierter Schwellenwerte je nachdem, ob der Mitgliedstaat dem Euroraum angehört oder nicht;

iv)

die Möglichkeit der Anpassung, denn die Zusammensetzung der Indikatoren muss mit der Zeit ggf. geändert werden, um sie an die Änderungen bei den verschiedenen Ursachen der Ungleichgewichte anzupassen.

2.4.1   Ausgehend von den ersten Vorschlägen der Kommission zur Auswahl der Indikatoren soll das Scoreboard (10) u.a. offenbar folgende Indikatoren umfassen, von denen sich die ersten drei auf die Zahlungsbilanzposition und die anderen vier auf die binnenwirtschaftliche Situation beziehen:

Leistungsbilanzsaldo bezogen auf das BIP, aus dem sich eine Defizit- oder Überschussposition gegenüber dem Ausland ergibt;

Nettoauslandsposition bezogen auf das BIP, d.h. die Gegenseite der Leistungsbilanz in Form der Bestände;

Veränderung des realen effektiven Wechselkurses auf der Grundlage der Lohnstückkosten, die die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes zum Ausdruck bringt (mit unterschiedlichen Schwellenwerte für den Euroraum);

Veränderung der realen Hauspreise, um die Bildung von spekulativen Immobilienblasen zu erkennen, oder alternativ dazu die Veränderung des Anteils des Immobiliensektors an der Gesamtwertschöpfung;

private Verschuldung bezogen auf das BIP, um die Anfälligkeit des privaten Sektors gegenüber Veränderungen im Wirtschaftszyklus, bei der Inflation und bei den Zinssätzen abzuschätzen;

Veränderung der Kreditvergabe an den privaten Sektor, d.h. die Gegenseite in Form der Ströme des Bestands an privater Verschuldung.

die öffentliche Verschuldung bezogen auf das BIP als traditioneller Indikator für den Zustand der öffentlichen Finanzen in den Mitgliedstaaten.

3.   Anhaltende Unterschiede bei der Wettbewerbsfähigkeit im Euroraum

3.1   Das Vorhandensein interner makroökonomischer Ungleichgewichte in den Mitgliedstaaten hängt mit anhaltenden Unterschiede zwischen Gesamtangebot und Gesamtnachfrage in einem Mitgliedstaat zusammen, die zu systembedingten Überschüssen oder Defiziten bei der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis einer Volkswirtschaft führen. Dies geht auf eine Vielzahl Faktoren (die die Gesamtnachfrage und das Gesamtangebot beeinflussen) zurück und beeinträchtigt tendenziell die Funktionsweise der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten, der WWU und der EU in ihrer Gesamtheit.

3.2   Die Tatsache, dass die Kommission den Ungleichgewichten makroökonomischer Art in den Mitgliedstaaten - ebenso wie öffentlichen Haushaltsdefiziten - nunmehr große Beachtung schenkt und sie als Faktoren für wirtschaftliche und finanzielle Instabilität der EU in ihrer Gesamtheit ansieht, ist daher zu begrüßen.

3.3   Nachdem die Kommission mehr als ein Jahrzehnt lang ihre Überwachung im Rahmen der WWU ausschließlich auf die Ausgeglichenheit der öffentlichen Haushalte ausgerichtet hatte, führt sie nun einen Ansatz ein, der eine umfassendere Bewertung der nationalen Ergebnisse ermöglicht und sich auf alle Mitgliedstaaten erstreckt. Es wird immer deutlicher, dass die bloße Betrachtung der quantitativen Dimension des Wirtschaftswachstums eines Landes nicht ausreicht, sondern auch die Qualität dieses Wachstum bewertet und dazu die makroökonomischen Faktoren ermittelt werden müssen, die für oder gegen seine Nachhaltigkeit sprechen.

3.4   In der Geburtsstunde der WWU gab es den Irrglauben, dass die Unterschiede bei der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Mitgliedstaaten nur vorübergehend bestehen würden. Die Erfahrungen mit dem Euro haben nicht nur deutlich gemacht, dass solche Unterschiede andauern, sondern dass sie sogar das Fundament der WWU gefährden, indem sie unhaltbare Positionen herbeiführen, wie die Finanzkrise der letzten Monate zeigte.

3.4.1   Insbesondere sind in den zehn Jahren vor der Wirtschaftskrise anhaltende Divergenzen bei der Produktivität zwischen den verschiedenen Ländern des Euroraums aufgetreten, die im realen effektiven Wechselkurs und in der Wettbewerbsfähigkeit (Entwicklung der Ausfuhren) zum Ausdruck kommen (Abbildungen 1 und 2 im Anhang) (11). Was die jetzige Lage besonders auszeichnet, ist nicht so sehr ihr Auftreten, sondern ihr Andauern, im Unterschied zu früheren Fällen (70er und 80er Jahre), als die Divergenzen durch Wechselkursanpassungen der betreffenden Länder relativ schnell wieder abgebaut wurden.

3.4.2   Diese Unterschiede haben sich auf die Handelsbilanzen der Mitgliedstaaten ausgewirkt. Die Handelsbilanz Deutschlands und die der aus Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien bestehenden „peripheren“ Staatengruppe weisen gegenläufige Entwicklungen aus, und die Handelsbilanzdefizite und -überschüsse auf beiden Seiten entsprechen offenbar einander (12) (Abbildungen 3 und 4 im Anhang). Dies ist keine vorübergehende Erscheinung, sondern die Divergenzen nehmen seit der Bildung der WWU tendenziell zu, obgleich die Krise von 2008 sie etwas verringert zu haben scheint.

3.4.3   Das Anhalten der Divergenzen bei der Wettbewerbsfähigkeit und den Ausfuhren schlägt sich tendenziell in den Leistungsbilanzen und den Nettoauslandspositionen nieder (Abbildungen 5 und 6 im Anhang) und führt Situationen herbei, die für einige Mitgliedstaaten der Eurozone mittelfristig kaum haltbar sind.

4.   Entscheidende Punkte der vorgeschlagenen Maßnahme

4.1   Angesichts eines derart schwierigen Panoramas, das nach entschiedenen Lösungen verlangt, gibt es in Bezug auf den von der Kommission verwendeten Ansatz und die damit verbundenen Risiken jedoch noch eine Reihe von Bedenken.

4.2   Die Kommission hat betont (13), dass das Auftreten und Andauern von internen makroökonomischen Ungleichgewichten auf Wettbewerbsfähigkeitsfaktoren zurückzuführen ist, wobei die Kommission selbst Wettbewerbsfähigkeit als „die Fähigkeit der Wirtschaft, der Bevölkerung nachhaltig einen hohen und wachsenden Lebensstandard und eine hohe Beschäftigung zu sichern (14) definiert hat. Davon ausgehend hält es der EWSA für zweckmäßig, bei der Bewertung der in den EU-Mitgliedstaaten vorhandenen makroökonomischen Ungleichgewichte ein umfassenderes Spektrum von wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Faktoren zu betrachten und dementsprechend zusätzliche Indikatoren in das Scoreboard aufzunehmen, anhand derer sich potenzielle makroökonomische Ungleichgewichte erkennen lassen.

4.2.1   Zu den Faktoren der Wettbewerbsfähigkeit gehören sowohl preisliche Faktoren (die im realen effektiven Wechselkurs zum Ausdruck kommen) als auch ebenso wichtige nicht-preisliche Faktoren. Zu diesem Bereich der nicht-preislichen Faktoren gehören die Differenzierung der Erzeugnisse, der Technologiegehalt der produzierten Güter, die Qualität der angebotenen Erzeugnisse, die Qualität der damit verbundenen Dienstleistungen (Kundendienst) usw. Dies sind eine ganze Reihe von entscheidenden Elementen, die die Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft determinieren. Sie lassen sich nur schwer in einem einzigen Indikator beziffern, weshalb geeignete Messgrößen ermittelt werden sollten, um das Niveau und die Entwicklung dieser Faktoren in den Mitgliedstaaten der WWU feststellen zu können.

4.2.2   Aus den ersten Vorschlägen der Kommission zur Auswahl der Indikatoren ergibt sich offenbar, dass die Auswirkungen der großen und zunehmenden Ungleichheiten beim Entstehen der Ungleichgewichte unterschätzt werden. Diese haben sich nämlich über einen langen Zeitraum (mindestens über die letzten 20 Jahre hinweg) herausgebildet und sind durch starke Einkommens- und Verteilungsunterschiede innerhalb der Mitgliedstaaten gekennzeichnet. Gemeint ist insbesondere ihre Rolle als Auslöser der Wirtschafts- und Finanzkrise aufgrund der Ungleichgewichte zwischen dem weltweit zunehmenden Angebot an Waren und Dienstleistungen und der Verschlechterung der Kaufkraft der Verbraucher (15).

4.2.3   Die in das Scoreboard aufzunehmenden Indikatoren sollten die Erkennung jener Faktoren ermöglichen, die Ungleichgewichte in der Gesamtnachfrage und im Gesamtangebot aufgrund makroökonomischer, finanzieller oder sozialer Erscheinungen herbeiführen können. So könnte es zum Beispiel sinnvoll sein, entweder den Gini-Koeffizienten für die Einkommenskonzentration, der für die Mittelmeerländer und die angelsächsischen Länder besonders hohe Werte ausweist (16), oder den Unterschied zwischen der aktuellen Produktion und dem Produktionspotenzial eines Landes in das Scoreboard aufzunehmen, um so den Konjunkturzyklus eines Landes berücksichtigen zu können.

4.2.4   Der EWSA spricht sich dafür aus, die von der Kommission geplanten Überlegungen darüber, welche Indikatoren in das Scoreboard aufgenommen werden sollen, dergestalt auszuweiten, dass auf europäischer und nationaler Ebene eine umfassende Zahl institutioneller Akteure und die Zivilgesellschaft vertretender Gremien, darunter der EWSA und der Ausschuss der Regionen, darin einbezogen werden.

4.3   Zudem ist im Ansatz der Kommission die Koppelung zwischen fiskalpolitischer Steuerung und makroökonomischer Steuerung nur schwach ausgeprägt und wissenschaftlich kaum unterfüttert. Es gibt nämlich gute Gründe für eine Kontrolle der Fiskalpolitik der WWU-Mitgliedstaaten (17), während sich in Bezug auf interne makroökonomische Ungleichgewichte das Überwachungsverfahren zwar aus konkreten Erfordernissen ergibt, doch die Gründe und die Umstände für die Koordinierung hier viel umstrittener sind (18).

4.3.1   Aufgrund der Vielzahl möglicher Ursachen für Ungleichgewichte gilt es zahlreiche Faktoren gleichzeitig zu überwachen (Außenhandelsströme, Produktionskosten, Verteilungsunterschiede, preisliche und nicht-preisliche Produktivitätsfaktoren, Immobilien- und Spekulationsblasen usw.), die auch mit kulturellen und sozialen Elementen außerhalb der Wirtschaft zusammenhängen (z.B. mit den Präferenzen und dem Verhalten der Verbraucher und Sparer). Neben der Ermittlung und Auswahl dieser Faktoren stellt sich auch das Problem der Festlegung der Warnschwellen und die Frage, wie die unterschiedlichen Ursachen von Ungleichgewichten zu „gewichten“ sind (19).

4.3.2   Hinzu kommt, dass man den Zusammenhang zwischen Ermittlung der Ungleichgewichte (über die Warnschwellen), Durchführung der Abhilfemaßnahmen und anschließender Korrektur dieser Ungleichgewichte innerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht als gegeben voraussetzen kann. Es ist nicht sicher, dass die Maßnahmen zur Wiederherstellung des makroökonomischer Gleichgewichts die richtigen wirtschaftspolitischen Antworten liefern. Falsche Entscheidungen könnten sogar zu einer prozyklischen Politik führen, die die derzeitige Phase der wirtschaftlichen Rezession durch restriktive Maßnahmen verstärkt und verlängert, statt die notwendigen expansiven Maßnahmen zur Ankurbelung der Nachfrage zu ergreifen. Es ist sogar möglich, dass die den einzelnen Mitgliedstaaten verordnete Mischung wirtschaftspolitischer Maßnahmen zwar für die internen Ungleichgewichte notwendig, für die EU in ihrer Gesamtheit aber nicht die richtige Mischung ist.

4.3.3   Die von der Kommission offenbar favorisierten Indikatoren für die Überwachung – vor allem Preise sowie Löhne und Gehälter, d.h. Wettbewerbsfähigkeit – hängen in erster Linie von nicht-öffentlichen Akteuren (Unternehmen und Gewerkschaften) ab und können damit nur mittelbar und mit einiger Verzögerung durch wirtschaftspolitische Maßnahmen wie Anreize, Wettbewerbsvorschriften oder sozialen Dialog gesteuert werden. Aus diesem Grunde sind diese Messgrößen weitgehend immun gegen automatische und frühzeitige staatliche Interventionen. Nicht ohne Grund weist die Kommission auf die notwendige Flexibilität bei der Anwendung der neuen Vorschriften und auf ihre kontinuierliche Weiterentwicklung hin.

4.4   In dem vorgeschlagenen Paket von Rechtsvorschriften fehlen überdies Überlegungen zur Geld- und Kreditpolitik. Dies ist ein fruchtbareres Terrain für die Suche nach einer stärkeren Koordinierung, so im Bereich der Finanzaufsicht und der Kontrolle der Anhäufung von Schulden (und Kreditforderungen) im Privatsektor (20), und der Ausschuss hat dazu bereits einige Vorschläge (21) unterbreitet. Überhaupt nicht erwähnt wird die Rolle für die wirtschaftliche Stabilität, die die Europäische Zentralbank unter Wahrung ihrer satzungsmäßigen Unabhängigkeit im Zusammenwirken mit dem Zentralbankensystem und dem neu geschaffenen Europäischen Ausschuss für Systemrisiken und der ebenfalls neuen Europäischen Bankaufsichtsbehörde spielen könnte.

4.4.1   Die zuletzt genannten Einrichtungen scheinen zumindest potenziell in der Lage, eine vorsichtigere und wachsamere europäische Kreditaufsicht zu gewährleisten als in der Vergangenheit, als unangemessene Vorschriften und Praktiken Auswüchse ermöglichten, einige Mitgliedstaaten in die Krise stürzten und damit die Stabilität der gesamten WWU gefährdeten. Es muss daran erinnert werden, dass Länder wie Irland und Spanien, die sich heute in Schwierigkeiten befinden, bis 2007 die Auflagen des Stabilitätspakts - ausgeglichene Haushalte und geringe Staatsverschuldung - einhielten, bei der Kreditvergabe aber das Angebot deutlich vergrößerten und damit den Bauboom anheizten, ohne dass sich die Währungsbehörden der EU um dieses exzessive Kreditwachstum kümmerten. Diese Probleme hängen auch mit der Rolle der Ratingagenturen und insbesondere mit den Auswirkungen der Entscheidungen dieser Agenturen auf die öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten zusammen, hinsichtlich derer der EWSA bereits seine Bedenken zum Ausdruck gebracht hat (22).

4.4.2   Aus diesem Grund sollten nach Ansicht des Ausschusses auf EU-Ebene spezifische Aufsichts- und Regulierungsbefugnisse erteilt werden, um ein exzessives Kreditwachstum in den Mitgliedstaaten - vor allem bei der Vergabe von Hypothekendarlehen - zu verhindern (23). In einem integrierten Finanzraum wie der WWU sollten die Aufsichts- und Regulierungsbefugnisse nicht den nationalen Behörden, sondern einer Drittstelle übertragen werden. Gerade die neuen europäischen Finanzbehörden könnten mit Zuständigkeiten und Befugnissen für eine wirksame direkte oder indirekte Beaufsichtigung des Bankensystems und für geeignete Regulierungsmaßnahmen im Kreditwesen (deren Regulierungskriterien entsprechend festzulegen sind) ausgestattet werden.

4.5   In dem vorgeschlagenen Paket von Rechtsvorschriften fehlen auch Überlegungen zum EU-Haushalt. Das mögliche Auftreten asymmetrischer Schocks in den Mitgliedstaaten des Euroraums, d.h. Änderungen der Nachfrage oder des Angebots, die in einigen Ländern positiv und in andern negativ zu Buche schlagen, ohne dass Spielraum für Änderungen des Wechselkurses oder des Zinssatzes (24) besteht, erfordert den Einsatz anderer wirtschaftspolitischer Anpassungsinstrumente. Abgesehen von den Preisen und Löhnen und Gehältern, die im Allgemeinen wenig flexibel sind, ist laut Volkswirtschaftslehre ein flexibles und mit mehr Mitteln als bisher ausgestattetes Haushaltssystem das einzige wirksame Instrument. Dies würde Mittelübertragungen von Bereichen, die von den Schocks profitiert haben, auf geschädigte Bereiche ermöglichen, entweder durch automatische Stabilisierungsmechanismen oder durch die Finanzierung von gesamteuropäischen Investitionsvorhaben (z.B. durch die Ausgabe von Euro-Anleihen) (25).

4.6   Zur Herstellung eines Gleichgewichts zwischen anreiz- und sanktionsbasierten Ansätzen zum Ausgleich übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte in der Eurozone spricht sich der EWSA dafür aus, dass die Geldbußen nicht, wie es die Kommission vorschlägt, nach der Höhe ihres jeweiligen BNE unter die Mitgliedstaaten verteilt werden, sondern in den Europäischen Stabilitätsmechanismus fließen.

4.7   Auch in dieser Stellungnahme möchte der EWSA bekräftigen (26), dass bei Vorschriften und Automatismen immer die Gefahr besteht, dass sie im Hinblick auf die Prävention von schweren Krisen, die ja fast immer von außerordentlichen und nicht vorhersehbaren Ereignissen ausgelöst werden, nicht nur unwirksam bleiben, sondern dass sie die Situation sogar verschärfen können. Dies könnte zum einen das Vertrauen in die EU-Institutionen schmälern, die aus der Sicht der europäischen Bürger vor politischen Entscheidungen zurückschrecken und sich lieber auf die Brüsseler Eurokraten verlassen, wie die Eurobarometer-Umfragen zeigen (27). Zum anderen führen diese Vorschriften und Automatismen zu einem traditionellen Lösungsansatz, der die Bereiche Wachstum, soziale Gerechtigkeit und Umwelt vernachlässigt, wodurch die ehrgeizigen Ziele der Europa-2020-Strategie bereits im Keim erstickt werden könnten.

4.8   Der gleiche kurzfristige Ansatz, der das Finanzgeschäft bestimmt und als latenter Krisenfaktor ausgemacht zu sein schien, wird nunmehr offenbar zum Leitprinzip der europäischen Politik (28). Ad-hoc-Maßnahmen sowohl der EU-Institionen als auch auf zwischenstaatlicher Ebene (29) sind die vorherrschenden Antworten auf Krisensituationen, die rasche Entscheidungen verlangen, oder auf Entwicklungen der öffentlichen Meinung in den wichtigsten Mitgliedstaaten, die von den Politikern - insbesondere wegen der immer neuen Wahltermine - mit größter Aufmerksamkeit beobachtet werden.

5.   Potenzial der Maßnahmen zur Behebung makroökonomischer Ungleichgewichte

5.1   Eine wirksame Koordinierung der europäischen Wirtschaftspolitik, die sich nicht von Wahlkämpfen und plötzlichen Meinungsumschwüngen in der Bevölkerung beeinflussen lässt, setzt eine stärkere Stellung des Europäischen Parlaments, des Ausschusses der Regionen und des EWSA – d.h. der die Bürger und die Zivilgesellschaft vertretenden Institutionen – voraus. Aus diesen Institutionen kann die Kommission für die von ihr vorgesehene Koordinierung und für die entsprechenden Präventiv- und Korrekturmaßnahmen eine starke demokratische Legitimierung schöpfen und dadurch den breiten Konsens finden, der für eine wirksame Umsetzung dieser Maßnahmen erforderlich scheint.

5.2   Zurzeit scheint das Parlament jedoch beim Europäischen Semester nur eine geringe Rolle in der Anfangsphase der Debatte und bei der ersten Ausrichtung des Koordinierungsprozesses zu spielen. Es könnte jedoch eine größere und effizientere Rolle ausfüllen, wenn seine Tätigkeit mit der der nationalen Parlamente, die die Haushalte der einzelnen Mitgliedstaaten erörtern und verabschieden, abgestimmt würde. Das EP kann sogar entscheidend dazu beitragen, dass der makroökonomischen Referenzrahmen, die Prioritäten bei der Problemlösung und die Ermittlung der zu ergreifenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen breiten Rückhalt finden. Es könnte das Forum sein, in dem eine gemeinsame Strategie vereinbart wird, die sich nicht nur auf Vorschriften und formale Verfahren beschränkt, sondern im Einzelnen auf konkrete Maßnahmen zur Stärkung des Vertrauens und zur Erfüllung der Erwartungen der europäischen Bürger eingeht.

5.3   Die Fokussierung auf die Ungleichgewichte bei der Wettbewerbsfähigkeit erfordert, dass den Verhandlungen zwischen Regierungen, Sozialpartnern und Zivilgesellschaft zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wird, insbesondere in der Eurozone, in der die Mitgliedstaaten nicht mehr über die Möglichkeit schwankender Wechselkurse verfügen. Die Beziehungen zwischen den Regierungen, den Partnern des sozialen Dialogs (Gewerkschaften und Unternehmensverbände) und der Zivilgesellschaft sollten daher fester Bestandteil der von der Kommission konzipierten Strategie sein.

5.4   In diesem Rahmen kann der EWSA entsprechend seiner Rolle als die europäischen Institutionen beratendes Organ durch eine effektive Mitwirkung zur Verbesserung der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU beitragen, da er als Forum den Austausch zwischen den repräsentativen Organisationen der Zivilgesellschaft fördern kann. Der Mehrwert des EWSA besteht gerade darin, dass in ihm die Organisationen vertreten sind, die - nach sorgfältiger Bewertung - den Konsens über die Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten mittragen können. Dadurch kann der Ausschuss einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass nicht nur die Politiker, sondern auch und vor allem die Bürger der Mitgliedstaaten Engagement zeigen und Eigenverantwortung übernehmen.

5.4.1   Der EWSA könnte eine jährliche Sondersitzung organisieren, um die Empfehlungen und die Möglichkeiten für einen Konsens über die Reformen auf nationaler Ebene unter Berücksichtigung der sozialen Auswirkungen dieser Maßnahmen zu erörtern (30). Diese Debatte könnte jeweils im Herbst nach der formellen Entscheidung über die Empfehlungen an die Mitgliedstaaten stattfinden und ihre Schlussfolgerungen könnten die Grundlage für entsprechende Diskussionen mit den nationalen Wirtschafts- und Sozialräten, den nationalen Parlamenten und dem EP bilden. Dabei könnten die verabschiedeten Strategien einer angemessenen Bewertung unterzogen und die als nützlich erachteten Strategien auf nationaler Ebene entsprechend verbreitet und propagiert werden.

5.5   Zudem sollte ein verstärkter und zielgerichteter Einsatz des makroökonomischen Dialogs gefördert werden. Durch einen Qualitätssprung könnte dieser Dialog zu einem Instrument werden, mit dem die Regierungen und die Sozialpartner die Wirtschaftslage auf EU-Ebene und die zu ergreifenden Maßnahmen gemeinsam bewerten, und zwar in enger Verbindung mit dem sozialen Dialog und den Vereinbarungen auf nationaler Ebene, um die Entwicklungen in der EU insgesamt und in den einzelnen Mitgliedstaaten unter Wahrung der Sozialverträglichkeit miteinander in Einklang zu bringen.

5.5.1   Die Vermeidung und Korrektur der Ungleichgewichte darf nicht der Kommission und den einzelstaatlichen Regierungen allein überlassen werden (31). Der Prozess der Bildung der Löhne und Gehälter und der Preise ist ein entscheidender Aspekt des allgemeinen Systems zur Überwachung der makroökonomischen Ungleichgewichte, weshalb bei allen politischen Maßnahmen in diesem Bereich Art. 153 Abs. 5 des Vertrags zu beachten ist und die Sozialpartner auf nationaler und europäischer Ebene einbezogen werden müssen. In diesem Rahmen kann der makroökonomischen Dialog auf europäischer Ebene durch eine feste Struktur und Organisation gestärkt und auf nationaler Ebene besser mit dem sozialen Dialog und den vorhandenen Gremien verknüpft werden. Die nationalen Regierungen sollten die Präsenz von Unternehmen und Gewerkschaften in diesen Gremien sowie die damit zusammenhängenden Formen der Tarifverhandlungen fördern und konkret unterstützen. Angesichts der Komplexität und der Verzögerungen bei der Korrektur der Ungleichgewichte durch nationale Reformen wäre die Stärkung des makroökonomischen Dialogs ein wirksameres, schneller anschlagendes und koordiniertes Instrument, das für die notwendige Kohärenz zwischen den makroökonomischen Problemen und den Entwicklungen des Arbeitsmarktes sorgen kann.

Brüssel, den 5. Mai 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Europäische Kommission – GD ECFIN: „The impact of the global crisis on competitiveness and current account divergences in the euro area“ (Die Auswirkungen der globalen Krise auf die Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbilanzunterschiede im Euroraum) in: Quartalsbericht über den Euroraum, Nr. 1/2010.

(2)  KOM(2002) 714 endg.

(3)  Siehe ILO-IMF, The Challenges of Growth, Employment and Social Cohesion (Die Herausforderungen von Wachstum, Beschäftigung und sozialem Zusammenhalt), Diskussionspapier für die gemeinsame Konferenz von ILO und IWF, Oslo, 13. September 2010, S. 67-73.

(4)  MONTI M., „Eine neue Strategie für den Binnenmarkt – im Dienste der Wirtschaft und Gesellschaft Europas“, Bericht an den Präsidenten der Europäischen Kommission, Mai 2010. DELORS J., FERNANDES S., MERMET E., Le semester européen: un essai à transformer (Das europäische Semester - ein Versuch der Änderung). in: Notre Europe, Les Brefs, Nr. 22, Februar 2011. AMATO A., BALDWIN R., GROS D., MICOSSI S., PADOAN P., „A new political deal for Eurozone sustainable growth“, offener Brief an den Präsidenten des Europäischen Rates, VoxEU.org, Dezember 2010, im Internet abrufbar unter: www.voxeu.org/index.php?q=node/5893.

(5)  In den Ziffern 1.15 bis 1.18 werden die Empfehlungen der Stellungnahme ECO/282 zur der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung für Stabilität, Wachstum und Beschäftigung – Instrumente für bessere wirtschaftspolitische Steuerung der EU“ aufgegriffen und bekräftigt (ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 7).

(6)  Diese Mitteilung (KOM(2010) 367 endg.) war Gegenstand der Stellungnahme des EWSA zum Thema „Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung“, ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 7.

(7)  KOM(2010) 250 endg.

(8)  Näheres hierzu unter:

http://ec.europa.eu/economy_finance/articles/eu_economic_situation/2010-09-eu_economic_governance_proposals_en.htm.

(9)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Haushaltspolitische Überwachung in der Eurozone“ (Siehe Seite 46 dieses Amtsblatts).

(10)  Kommission (GD ECFIN): „A structured framework to prevent and correct macroeconomic imbalances: operationalising the alert mechanism“ und „A structured surveillance procedure to prevent and correct harmful macroeconomic imbalances: An explanation of the Commission's proposal of 29 September 2010“, Vermerk den Ausschuss für Wirtschaftspolitik und für die Mitglieder des Wirtschafts- und Finanzausschusses, 11. November 2010 (Vgl. Centro Europa Ricerche – CER – (Forschungsinstitut für angewandte Wirtschaftsanalyse), 2011, Vincoli Esteri).

(11)  Europäische Kommission – GD ECFIN, „Surveillance of Intra-Euro-Area Competitiveness and Imbalances“, European Economy 1/2010.

(12)  ALTOMONTE C., MARZINOTTO B.: „Monitoring Macroeconomic Imbalances in Europe: Proposal for a Refined Analytical Framework“, Vermerk für den Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments, September 2010.

(13)  Europäische Kommission – GD ECFIN: „The impact of the global crisis on competitiveness and current account divergences in the euro area“ (Die Auswirkungen der globalen Krise auf die Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbilanzunterschiede im Euroraum) in: Quartalsbericht über den Euroraum, Nr. 1/2010.

(14)  KOM(2002) 714 endg., Mitteilung: „Industriepolitik in einem erweiterten Europa“ (S. 2).

(15)  Siehe ILO-IMF, The Challenges of Growth, Employment and Social Cohesion (Die Herausforderungen von Wachstum, Beschäftigung und sozialem Zusammenhalt), Diskussionspapier für die gemeinsame Konferenz von ILO und IWF, Oslo, 13. September 2010, S. 67-73.

(16)  OECD, Growing Unequal? Income Distribution and Poverty in OECD Countries (Einkommensverteilung und Armut in den OECD-Ländern), Oktober 2008.

(17)  Gründe, die damit zusammenhängen, dass in einer Währungsunion negative Entwicklungen über den gemeinsamen Zinssatz von Ländern mit hohem Defizit auf Länder, die ihre Sache gut machen, übertragen werden können. DE GRAUWE P., Economics of Monetary Union, Oxford University Press, 2009, Kapitel 10 (Ökonomie in der Währungsunion).

(18)  TABELLINI G., Reforming the Stability Pact: Focus on financial supervision, VoxEU.org, Oktober 2010, im Internet abrufbar unter: www.voxeu.org/index.php?q=node/5622.

(19)  BELKE A., Reinforcing EU Governance in Times of Crisis: The Commission Proposal and beyond, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Diskussionspapier, Berlin, November 2010.

(20)  DE GRAUWE P., Why a tougher Stability and Growth Pact is a bad idea, VoxEU.org, Oktober 2010, im Internet abrufbar unter: http://www.voxeu.com/index.php?q=node/5615. GIAVAZZI F., SPAVENTA L., The European Commission’s proposals: Empty and useless, VoxEU.org, Oktober 2010, im Internet abrufbar unter: www.voxeu.org/index.php?q=node/5680. TABELLINI G., Reforming the Stability Pact: Focus on financial supervision, VoxEU.org, Oktober 2010, im Internet abrufbar unter: www.voxeu.org/index.php?q=node/5622.

(21)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Die Auswirkungen der Staatsverschuldungskrise auf das europäische Regieren“, ABl. C 51 vom 17.2.2011, S. 15.

(22)  EWSA-Stellungnahmen „Ratingagenturen“ (ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 117) und „Ratingagenturen“ (ABl. 2011/C 54/12, S. 37).

(23)  SPAVENTA L., How to prevent excessive current account imbalances, EuroIntelligence, September 2010, im Internet abrufbar unter: www.eurointelligence.com/index.php?id=581&tx_ttnews[tt_news]=2909&tx_ttnews[backPid]=901&cHash=b44c8f9ae0.

(24)  Werden diese positiven oder negativen Veränderungen auf der Ebene der Währungsunion ausgeglichen, bestünde für die Zentralbank der Union kein Anlass, auf dem Gebiet der Geldpolitik einzugreifen (vgl. DE GRAUWE P., Economics of Monetary Union, bereits zitiert, Kapitel 1).

(25)  MONTI M., „Eine neue Strategie für den Binnenmarkt – im Dienste der Wirtschaft und Gesellschaft Europas“, Bericht an den Präsidenten der Europäischen Kommission, Mai 2010. DELORS J., FERNANDES S., MERMET E., Le semester européen: un essai à transformer (Das europäische Semester - ein Versuch der Änderung). in: Notre Europe, Les Brefs, Nr. 22, Februar 2011. AMATO A., BALDWIN R., GROS D., MICOSSI S., PADOAN P., „A new political deal for Eurozone sustainable growth“, offener Brief an den Präsidenten des Europäischen Rates, VoxEU.org, Dezember 2010, im Internet abrufbar unter: www.voxeu.org/index.php?q=node/5893.

(26)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung“, ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 7.

(27)  Der Vertrauensverlust vollzieht sich nicht so sehr in Bezug auf die EU-Institutionen an sich, sondern vielmehr bei der Frage, ob die EU-Mitgliedschaft überhaupt sinnvoll ist. Daten der Eurobarometer-Umfrage 73, erste Ergebnisse, Fragen QA9a und QA10a.

(28)  MONTI M., Europe must buck short-term tendencies, Financial Times, 13. Dezember 2010.

(29)  Zum Beispiel der Pakt für Wettbewerbsfähigkeit, den die Regierungen Frankreichs und Deutschlands am 4. Februar 2011 vorstellten.

(30)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung“, ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 7.

(31)  WATT A., Economic Governance in Europe: A Change of Course only after ramming the Ice (Wirtschaftspolitische Steuerung in Europa: Kurswechsel erst nach dem Rammen des Eisbergs), Social Europe Journal, 30. Juli 2010, im Internet abrufbar unter: www.social-europe.eu/2010/07/economic-governance-in-europe-a-change-of-course-only-after-ramming-the-ice. WATT A., European economic governance: what reforms are to be expected and what are needed? (Wirtschaftspolitische Steuerung in Europa: welche Reformen sind zu erwarten und welche sind nötig?), Diskussionspapier für European Alternatives, 2010, im Internet abrufbar unter: www.euroalter.com/wp-content/uploads/2010/11/Watt-ENG.pdf.


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