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Document 52011AE0804

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle der Familienpolitik im demografischen Wandel: Austausch bewährter Verfahrensweisen zwischen den Mitgliedstaaten“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des ungarischen Ratsvorsitzes)

ABl. C 218 vom 23.7.2011, p. 7–13 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

23.7.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 218/7


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle der Familienpolitik im demografischen Wandel: Austausch bewährter Verfahrensweisen zwischen den Mitgliedstaaten“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des ungarischen Ratsvorsitzes)

2011/C 218/02

Hauptberichterstatter: Stéphane BUFFETAUT

Hauptmitberichterstatterin: Béatrice OUIN

Mit Schreiben vom 15. November 2010 ersuchte Botschafter Péter GYÖRKÖS den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss im Namen des ungarischen EU-Ratsvorsitzes gemäß Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union um Erarbeitung einer Stellungnahme zu folgendem Thema:

Die Rolle der Familienpolitik im demografischen Wandel: Austausch bewährter Verfahrensweisen zwischen den Mitgliedstaaten“.

Das Präsidium beauftragte die Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft am 7. Dezember 2010 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme (Berichterstatter Stéphane BUFFETAUT, Mitberichterstatterin Béatrice OUIN).

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 471. Plenartagung am 4./5. Mai 2011 (Sitzung vom 4. Mai) Stéphane BUFFETAUT zum Hauptberichterstatter und Béatrice OUIN zur Hauptmitberichterstatterin und verabschiedete mit 183 gegen 3 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Familienpolitische Maßnahmen in Europa haben zwar unterschiedliche Hintergründe und Inhalte, verfolgen aber eine gemeinsames Ziel: Die Familienförderung. Die nationale und regionale Politik im Allgemeinen sowie die Investitions- und Bildungs-, Wohnungs- und Beschäftigungspolitik können dazu führen, dass bestimmte Mitgliedstaaten oder Regionen für Familien und junge Menschen attraktiv sind und diesen ein günstiges Umfeld bieten.

1.2

Der Vergleich der bestehenden Systeme ist interessant, weil so die beispielhaften Vorgehensweisen herausgearbeitet werden können, wobei das Angebot an Dienstleistungen und Unterstützungsmechanismen den Erwartungen der Familien und Eltern bzw. künftigen Eltern entsprechen muss, damit die volle Wirksamkeit der Vorgehensweisen gewährleistet ist. Diese Erwartungen können sich entsprechend der jeweiligen Kultur, des gesellschaftlichen Usus und der Traditionen von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden. Die Behörden sollten daher ideologische Vorurteile vermeiden und Maßnahmen vorschlagen, die es Einzelpersonen tatsächlich ermöglichen, sich für die Gründung einer Familie zu entscheiden und so viele Kinder wie gewünscht in die Welt zu setzen.

1.3

Wenngleich die Familienpolitik nicht zu den Kompetenzen der Europäischen Union gehört, kann diese dennoch Rechtsakte in jenen Bereichen erlassen, die die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben, die Geschlechtergleichstellung im Beruf sowie den Schutz und die Entwicklung des Kindes betreffen.

1.4

Darüber hinaus kann die EU eine nützliche Rolle in Bezug auf den Kenntnisstand über die demografische Lage und die Entwicklungen in den Ländern und dem Austausch empfehlenswerter Vorgehensweisen zwischen den Mitgliedstaaten spielen.

1.5

Unter der Ägide der Europäischen Union wird eine Reihe von Maßnahmen und Projekten, die in diesem Zusammenhang geplant waren, umgesetzt bzw. finanziell gefördert, und familienpolitische Maßnahmen konnten oder können durch die Strukturfonds oder den Europäische Sozialfonds unterstützt werden.

1.6

Es wäre wünschenswert, diese besser abzustimmen und sie einem Gremium zu unterstellen, das die allgemeine politische Strategie sowie Handlungs- und Forschungsleitlinien festlegt bzw. zumindest die Koordinierung der einzelnen Initiativen übernimmt. Diese Rolle des Dirigenten und Koordinators - was eine stärkere politische Ausrichtung und die Verwaltung betrifft - könnte der Europäischen Kommission insbesondere dank der Allianz der Familien übertragen werden, und - was den wissenschaftlichen Aspekt betrifft - Eurofound mit diesen Aufgaben betraut werden.

1.7

Wünschenswert wäre zudem, dass die Familienverbände sowohl auf Ebene der EU als auch der Mitgliedstaaten in die Gestaltung familienpolitischer Maßnahmen bzw. solcher, die sich auf die Familien auswirken, eingebunden werden.

1.8

Zahlreiche politische Maßnahmen, die auf EU-Ebene beschlossen werden, wirken sich unmittelbar auf die Familien aus. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) empfiehlt daher, die familienpolitische Dimension durchgehend in allen EU-Politikbereichen, insbesondere bei der nunmehr für alle EU-Rechtsakte obligatorischen Erstellung von Folgenabschätzungen (1) sowie bei allen Bewertungen der bestehenden Politikbereiche, die überarbeitet werden müssen, zu berücksichtigen.

1.9

Der Ausschuss befürwortet nachdrücklich den Vorschlag, 2014 zum Europäischen Jahr der Familie auszurufen.

2.   Einleitung: Bestandsaufnahme der demografischen Situation

2.1

Die Familie befindet sich in Europa in einem tiefgehenden Wandel: Die Geburtenrate liegt seit mehreren Jahrzehnten weit unter dem für die Bevölkerungserneuerung erforderlichen Wert (2), Frauen bekommen ihr erstes Kind immer später, die Zahl der Trennungen, der Anteil der Alleinerzieherhaushalte und der Familien ohne regelmäßiges Einkommen nimmt zu, die Lebenserwartung steigt, und es gibt vor allem als Folge des demografischen Wandels immer mehr pflegebedürftige Senioren. Die Entwicklung der familiären Strukturen wirft neue Probleme auf, denen bei der Gestaltung, Koordinierung und Umsetzung der familienpolitischen Maßnahmen Rechnung getragen werden muss.

2.2

Das Verschwinden der Großfamilie, die u.a. wegen der Urbanisierung und dem Wandel des Lebensstils zunehmend von der Kernfamilie verdrängt wird, hat individualistischere Einstellungen und neue soziale Risikogruppen hervorgebracht, die häufiger von sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Es sind dies Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, arme Erwerbstätige sowie arme bzw. armutsgefährdete Kinder. Laut Schätzungen sind 17 % der Europäer/-innen von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen, was nicht ohne Konsequenzen für die Familienpolitik bleiben kann.

2.3

Obwohl die Geburtenrate überall in der EU niedriger als die Reproduktionsrate ist, bestehen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten und ihren Regionen sowohl erhebliche demografische als auch familienpolitische Unterschiede. Es ist ebenfalls festzustellen, dass die Bevölkerungsdichte sogar innerhalb eines jeden Mitgliedstaats sehr hohe Unterschiede aufweist, wobei einige Regionen sehr dicht bevölkert und andere extrem dünn besiedelt sind. Das wirft die Frage nach der Raumordnung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Dienstleistungen - auch für die Familien - auf. Auf diesen Bereich scheint der Leitspruch der Europäischen Union „in Vielfalt geeint“ deshalb besonders zuzutreffen. Die Alterung der europäischen Bevölkerung, d.h. die Zunahme des Anteils älterer Menschen, erklärt sich sicherlich durch einen positiven Aspekt - die Zunahme der Lebenserwartung und ein Altern in guter Gesundheit. Es gibt aber auch eine zweite, negative Folge: Der starke Rückgang der Geburtenzahlen führt dazu, dass sich die Bevölkerung nicht erneuert.

2.4

In keinem einzigen Mitgliedstaat erreicht die Geburtenrate den für eine stabile Bevölkerungszahl notwendigen Wert (3), auch wenn zwei Länder - Frankreich und Irland - sehr nahe an diesen herankommen. Die Geburtenrate der USA erreicht fast diesen Wert, während jene Europas nach wie vor ein Viertel darunter liegt.

2.5

Es gibt also ausgeprägte Unterschiede. 18 Mitgliedstaaten verzeichnen einen Bevölkerungszuwachs, d.h. die Geburtenrate ist höher als die Sterberate, wohingegen die Bevölkerung in neun Ländern zurückgeht, d.h. es gibt mehr Todesfälle als Geburten (in ansteigender Reihenfolge: Portugal, Estland, Italien, Lettland, Litauen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Deutschland).

2.6

Entscheidend für eine Trendumkehr ist in erster Linie ein deutlicher Anstieg der zusammengefassten Fruchtbarkeitsziffer (total fertility rate). Auch die Migration spielt eine Rolle, reicht alleine aber nicht aus, da Migranten/-innen sich nicht unbedingt dort ansiedeln, wo die Geburtenziffer am niedrigsten ist und auch älter werden. Zudem erfordert die Zuwanderung eine aktive Integrationspolitik, um Schwierigkeiten beim Zusammenleben der einzelnen Bevölkerungsgruppen zu vermeiden, die in Aufnahmeländern mit geringem Bevölkerungswachstum noch sensibler reagieren.

3.   Auswirkungen der Krise auf die Familie

3.1

Die Wirtschaftskrise zeitigt eine Reihe von Auswirkungen auf die Lebensbedingungen einiger Familien und hat es schwieriger gemacht, all jenen Unterstützung zukommen zu lassen, die dieser bedürfen. Die Wirtschaftslage hat sich zu allererst auf die Beschäftigung und die Einkommen der privaten Haushalte ausgewirkt.

3.2

Diese Krise und die angespannte Haushaltslage in einer Reihe von Mitgliedstaaten veranlassen die Regierungen möglicherweise auch dazu, ihre Pläne für familienpolitische Maßnahmen zu ändern bzw. deren Umsetzung zu verschieben.

3.3

Der Großteil der innenpolitischen Maßnahmen eines Staates betrifft die Familien direkt oder wirkt sich auf diese aus. Dies gilt für Maßnahmen zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung ebenso wie für die Politik in den Bereichen Bildung, Wohnen, öffentlicher Verkehr, Energie, Sozialhilfe, Bildung, Beschäftigung usw. Damit wird deutlich, wie wichtig es ist, diese politischen Maßnahmen bereichsübergreifend unter dem Gesichtspunkt ihrer Auswirkungen auf die Familien zu bewerten („Familienpolitik als Querschnittsaufgabe“) (4).

4.   Förderung verschiedener Familienmodelle

4.1

Eine ganzheitliche Familienpolitik besteht aus steuerlichen Maßnahmen und Familienbeihilfen, Maßnahmen zur Stärkung der Geschlechtergleichstellung im beruflichen Bereich, Betreuungs- und Pflegeleistungen für Kinder und Pflegebedürftige, Berücksichtigung von Familienleistungen in den Rentenversicherungssystemen sowie Maßnahmen zur Gewährleistung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie wie Elternurlaub und Teilzeitmodelle. In allen Ländern der Europäischen Union gibt es solche Maßnahmen, auch wenn die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt werden bzw. ihre Ausrichtung stärker sozial- als familienpolitisch ist. Diese Unterschiede sind keineswegs überraschend, da es in den einzelnen Ländern unterschiedliche Traditionen, Bedürfnisse, Gesellschaftsentwürfe und philosophische Denkansätze gibt, und auch die Erwartungen der Familien vielfältig sind.

4.2

Auch die Motive für die Familienpolitik sind unterschiedlich: Teils sind sie moralischer bzw. staatsbürgerlicher Natur, in anderen Fällen wiederum stärker ökonomisch oder politisch geprägt oder aber auf die Förderung von Geburten ausgerichtet. Zentrale Elemente der Familienpolitik sind - unabhängig von den ihr zugrunde liegenden Motiven - das geistige und körperliche Wohlergehen der Kinder, ihre Bildung sowie die Möglichkeit der Eltern, so viele Kinder wie gewünscht aufzuziehen und familiäre Pflichten, Privat- und Berufsleben miteinander zu vereinbaren.

4.3

In den skandinavischen Ländern wurde der Gleichstellung von Müttern und Vätern sowohl im Berufsleben als auch bei den familiären Aufgaben besonderes Augenmerk beigemessen, wobei schon in den 1970er Jahren Sozial- und Fortbildungsmaßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben, sowie zur Erleichterung des beruflichen Wiedereinstiegs nach einem Elternurlaub umgesetzt wurden. In Schweden wurden umfangreiche Reformen im Bereich des Elternurlaubs, der Kleinkinderbetreuung in öffentlichen Einrichtungen, der Familienbesteuerung (gemeinsame Steuererklärung bereits 1971 abgeschafft) und des Familienrechts durchgeführt. Die schwedische Familienpolitik hat drei Dimensionen: erstens umfasst sie direkte Hilfen an die Familien, zweitens Unterstützung arbeitender Eltern durch Gewährung bezahlten Elternurlaubs und drittens die Aufteilung des bezahlten Elternurlaubs zwischen Vater und Mutter. Auf diese Weise konnten eine hohe Frauenerwerbsquote, eine stärkere Beteiligung der Väter an der Kleinkinderbetreuung, eine Geburtenrate über dem EU-Durchschnitt sowie eine Verringerung der Kinderarmut erzielt werden. In Finnland wurde 1988 eine Beihilfe für die Betreuung von Kindern zu Hause eingeführt, die 1998 auch in Norwegen übernommen wurde, um die Leistung jener Eltern, die sich ganz der Kinderbetreuung widmen, anzuerkennen und finanziell zu entschädigen.

4.4

In den Niederlanden wird vor allem auf den Ausbau der Teilzeitarbeit gesetzt, um es Eltern zu ermöglichen, ihren Familien mehr Zeit zu widmen, und diese Möglichkeit wird auch von den Vätern viel häufiger genutzt als anderswo. Nichtsdestoweniger arbeiten 73,2 % der Männer und nur 45,9 % der Frauen Vollzeit. 19 % der Väter - deutlich mehr als anderswo in Europa - nutzen die Möglichkeit, Teilzeitelternurlaub zu nehmen; bei den Müttern sind es hingegen 41 %. Diese Möglichkeit besteht bis zum achten Lebensjahr des Kindes, wobei eine Steuerminderung in Höhe von 704 EUR pro Monat gewährt wird. Pro Kind kann ein Zeitraum von 26-mal die Zahl der Wochenarbeitstunden als Elternurlaub in Anspruch genommen werden; dieser ist also kumulierbar. Auch Kinderbetreuungsleistungen können deshalb in Teilzeit genutzt werden.

4.5

Die französische Familienpolitik existiert schon seit Langem und zeichnet sich durch eine stets gleichbleibende und von der Couleur der Regierungsmehrheit unabhängige Ausrichtung aus. Sie ist gekennzeichnet durch eine Kombination von Beihilfen, einer gerechten Besteuerung der Familien, besonderen Bestimmungen in den Altersversorgungssystemen und dem Arbeitsrecht mit Anspruch auf bezahlten Sonderurlaub sowie einem System für die Betreuung von Kindern im Alter von 0-3 Jahren und kostenlose Kindergartenplätze ab dem dritten Lebensjahr. Ihre Bedeutung wird auch dadurch unterstrichen, dass sie sowohl von der zentralstaatlichen Ebene wie den Departements und den Kommunen jedweder politischer Provenienz getragen wird. Die Departements und die Kommunen vervollständigen die zentralstaatlichen Maßnahmen durch zahlreiche lokale familienpolitische Maßnahmen in den Bereichen Betreuung oder Unterstützungsleistungen für Familien. Das eigentliche Kindergeld dient zur Deckung der Kosten, die den Familien für jedes Kind erwachsen, und begünstigt kinderreiche Familien. Mit Blick auf das Universalitätsprinzip wird es einkommensunabhängig gezahlt. Es soll den Kindern zugute kommen - darin unterscheidet sich eine Familien- von einer Sozialpolitik. Im Ergebnis verzeichnet Frankreich eine der höchsten Frauenbeschäftigungsquoten und Geburtenraten Europas. Die Wahlfreiheit bezüglich der Kinderbetreuung spielt in der französischen Familienpolitik eine entscheidende Rolle; damit es aber Wahlfreiheit geben kann, muss es zunächst einmal eine Wahlmöglichkeit, d.h. ein ausreichendes Angebot an Betreuungseinrichtungen geben.

4.6

Im Vereinigten Königreich ist die Familienpolitik stärker auf die wirksame Bekämpfung von Familien- und Kinderarmut ausgerichtet, und es gilt als allgemein anerkannt, dass sich der Staat nicht in individuelle Lebensentscheidungen einzumischen hat. Dabei ermöglicht es die Flexibilität des britischen Arbeitsmarktes Müttern, relativ leicht wieder Arbeit zu finden und die sehr unterschiedlich gelagerten Erwartungen der Familien zu erfüllen. Die Geburtenrate bei Frauen, in deren Leben die Familienarbeit eine gewichtigere Rolle spielt, ist doppelt so hoch ist wie bei Frauen, die sich stärker beruflich engagieren.

4.7

Deutschland, das sich in einer kritischen demografischen Lage befindet, lancierte vor einigen Jahren eine anspruchsvolle Politik zur Vereinbarkeit von Arbeits- und Familienleben sowohl auf praktischer Ebene, aber auch im Hinblick auf mentale Muster, da es schlecht angesehen war, Kinder zu haben und zu arbeiten. Es wurden fortschrittlichere Betreuungssysteme mit flexibleren Zeiten sowie eine Elternzeit von 14 Monaten mit einem Elterngeld in Höhe von zwei Dritteln des Einkommens geschaffen. Diese Maßnahmen werden flankiert durch spezifische und gezielte Hilfen in Form von Einkommensbeihilfen zur Bekämpfung der Kinderarmut.

4.8

Generell hat sich in den durchgeführten Studien gezeigt, dass eine hohe Frauenbeschäftigungsquote häufig mit einer hohen bzw. relativ hohen Geburtenrate einhergeht, sofern Angebote zur Gewährleistung der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben vorhanden sind. Es scheint, als ob auf die Phase des demografischen Wandels, in der die Zahl der Kinder pro Frau infolge des erheblichen Rückgangs der Mortalität, insbesondere der Sterblichkeit von Kindern, Jugendlichen und Müttern, stark zurückgeht und sich hygienische Maßnahmen und die Möglichkeiten zur Wahl des Zeitpunkts der Geburt verbreitet haben, eine Phase folgt, in der beide Elternteile außerhalb der häuslichen Umgebung beruflich aktiv sind. Gleichwohl liegt die Vollzeitbeschäftigungsrate der Väter insbesondere dann, wenn nicht ausreichend Dienstleistungen und kein bezahlter Elternurlaub zur Verfügung stehen, deutlich über jener der Mütter.

5.   Verschiedene Szenarien

5.1

Angesichts der derzeitigen demografischen Situation in der Europäischen Union ist es sehr wichtig, die Auswirkungen familienpolitischer Maßnahmen auf die Geburtenrate zu ermitteln. Die demografische Entwicklung kann unterschiedlich verlaufen.

5.2

Im ersten Szenario wird von einer der derzeitigen Tendenz entsprechenden Entwicklung ausgegangen. Dabei wäre die Situation in der Europäischen Union gekennzeichnet durch eine Geburtenrate unter dem für die Bevölkerungserneuerung erforderlichen Wert und durch starke Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten. Die Bevölkerung würde jedoch leicht zunehmen aufgrund der Substitutionseffekte, die der demografischen Entwicklung innewohnen, die gleichwohl aufgrund des Ansteigens der Lebenserwartung älterer Menschen und der positiven Wanderungsströme schließlich versiegen würden. In einem solchen Fall hätte die EU gleichzeitig mit einer starken Bevölkerungsalterung trotz Zuwanderung (strukturbedingter Effekt), mit einer starken Zunahme der Zahl alter Menschen („Gerontowachstum“ - Trendeffekt) und mit einem möglichen Rückgang der Erwerbsbevölkerung trotz der zu erwartenden Anhebung des Renteneintrittsalters zu rechnen. In etwa der Hälfte der EU-Staaten würde die Bevölkerung schrumpfen.

5.3

Dadurch käme es langfristig zu einer Verschärfung der demografischen Disparitäten zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten, was eine Gefahr für den Zusammenhalt in der Europäischen Union darstellen würde, da die politischen Maßnahmen zur Umsetzung der Forderungen der Bürgerinnen und Bürger mit Blick auf die unterschiedliche demografische Ausgangslage in den einzelnen Staaten wohl sehr weit auseinanderklaffen würden.

5.4

Beim „Katastrophenszenario“ würde sich der demografische Winter bei einer Geburtenziffer, die weit unterhalb der Sterbeziffer liegt, verschärfen. In diesem Fall käme es sowohl zu einer von der Basis der Bevölkerungspyramide ausgehenden sehr starken Alterung aufgrund einer sehr niedrigen, 50 % unter dem für eine stabile Bevölkerungszahl erforderlichen Wert liegenden Geburtenrate (wie in einigen Regionen der EU bereits der Fall), als auch möglicherweise zu einer von der Spitze der Pyramide ausgehenden Alterung aufgrund des Anstiegs der Lebenserwartung über 65 Jahre hinaus. Diese enorm gealterte Gesellschaft würde möglicherweise nicht mehr über die Mittel verfügen, um die Finanzierung der Renten und der für die Senioren erforderliche Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.

5.5

Aufgrund dieser beiden Elemente des „Katastrophenszenarios“ käme es zur Abwanderung junger Hochqualifizierter, die das alternde Europa in Richtung jener Länder verlassen würden, die eine stärkere Wirtschaftsdynamik aufweisen, wobei auch die Zuwanderung tendenziell abnähme, da ein ärmeres Europa mit schwindender Wirtschaftskraft, großen Haushaltsproblemen und hohen Defiziten im Bereich der Sozialpolitik an Attraktivität verlöre.

5.6

Dies würde zu einer sehr unausgewogenen Bevölkerungspyramide mit einem starken Überhang der Alten im Vergleich zu den Jungen sowie zu einem Schrumpfen und einer erheblichen Überalterung der Erwerbsbevölkerung führen.

5.7

Abschließend soll ein drittes, positiveres Szenario skizziert werden: jenes der Bevölkerungserneuerung und des „demografischen Frühlings“. Dabei stiege die Geburtenrate bis nahe an den Grenzwert für die Bevölkerungserneuerung an. Der Geburtenanstieg würde zahlreiche Wirtschaftsbereiche anregen, anschließend würde die im Sinken begriffene Zahl der Erwerbstätigen in der kommenden Generation wieder zunehmen. Diese dynamische demografische Entwicklung würde einen Wirtschaftsaufschwung und damit die Deckung der Sozialausgaben ermöglichen. Die Europäische Union gewönne an Attraktivität für ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr an Abwanderung dächten, aber auch für besser qualifizierte Zuwanderer.

5.8

Selbstverständlich ist keineswegs gesichert, dass die hier skizzierten Szenarien so eintreten; es handelt sich nur um Hypothesen, auf deren Grundlage die zur Korrektur der derzeitigen Entwicklung notwendigen Maßnahmen ergriffen werden können, um das Schlimmste zu verhindern.

6.   Sind die unterschiedlich hohen Geburtenraten auf die Familienpolitik zurückzuführen?

6.1

In allen Mitgliedstaaten wird eine Reihe politischer Maßnahmen umgesetzt, die in Summe eine Familienpolitik ergeben, ob diese nun als solche bezeichnet wird oder nicht (5). Die Ziele dieser Maßnahmen können unterschiedlich sein:

Verringerung der Armut und Gewährleistung des Familieneinkommens;

Unterstützung von Kleinkindern und des Gedeihens von Kindern;

Förderung der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben;

den Erfordernissen in puncto Geschlechtergleichstellung entsprechen;

Ermöglichung der Erfüllung des Kinderwunsches sowohl hinsichtlich der Zahl der Kinder als auch in Bezug auf den Zeitpunkt ihrer Geburt und damit Anhebung der Geburtenrate.

6.2

Auf der Grundlage einer Klassifizierung der umgesetzten politischen Maßnahmen ließen sich die Länder in folgende Kategorien einteilen:

Länder mit einer schwachen Familienpolitik und einer Geburtenrate unter dem europäischen Durchschnitt;

Länder mit einer nicht auf die Bedürfnisse der Familien abgestimmte Familienpolitik und einer Geburtenrate unter dem europäischen Durchschnitt;

Länder, die - in Prozent des BIP ausgedrückt - weniger oder gleich viel wie der Durchschnitt der EU-Mitgliedstaaten für Familienpolitik aufwenden und trotzdem eine überdurchschnittliche Geburtenrate aufweisen;

Länder mit einer starken Familienpolitik und einer Geburtenrate über dem EU-Durchschnitt (6).

Hier zeigt sich, dass die umgesetzten Maßnahmen Auswirkungen auf die Geburtenrate haben, die je nach den Grundkonstituenten der Familienpolitik unterschiedlich ausfallen.

6.3

Ein Vergleich der verschiedenen familienpolitischen Maßnahmen ist interessant, weil so die beispielhaften Vorgehensweisen herausgearbeitet werden können, wobei das Angebot an Dienstleistungen und Unterstützungsmechanismen - insbesondere finanzieller und/oder steuerlicher Natur - den Erwartungen der Familien und Eltern bzw. künftigen Eltern entsprechen muss, damit die volle Wirksamkeit der Vorgehensweisen gewährleistet ist. Diese Erwartungen können sich entsprechend der Nationalkultur, des gesellschaftlichen Usus und der Traditionen von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden. Die Behörden sollten daher ideologische Vorurteile vermeiden und Maßnahmen vorschlagen, die es Einzelpersonen tatsächlich ermöglichen, sich für die Gründung einer Familie zu entscheiden und so viele Kinder wie gewünscht in die Welt zu setzen. Diese Maßnahmen müssen den bevölkerungsspezifischen Unterschieden je nach Gebiet entsprechen. Auf dieser Grundlage und unter Beachtung dieser Unterschiede lässt sich ein Verfahren zum Austausch von Informationen und bewährten Vorgehensweisen entwickeln. Staatliche Maßnahmen sind aber absolut gerechtfertigt, da die Familie der Ort ist, an dem das Humankapital der Zukunft heranwächst (7), und somit Keimzelle jeder Gesellschaftsordnung. Dies hat sich in der Krise gezeigt, deren Auswirkungen oftmals von den Familien abgefedert wurden.

7.   Schlüsselfaktoren für den Erfolg familienpolitischer Maßnahmen

7.1

Es hat sich gezeigt, dass trotz der existierenden Unterschiede in der Familienpolitik folgende für den Erfolg ausschlaggebende Gemeinsamkeiten bestehen:

Umsetzung von Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben (qualitativ hochstehende Kinderbetreuung, insbesondere öffentliche Kleinkinderbetreuungseinrichtungen, Unterstützungsmaßnahmen für Familien bei der Betreuung aller pflegebedürftiger Personen, Flexibilität bei der Arbeitsorganisation, Sonderurlaub), wobei diese Maßnahmen den örtlichen Gegebenheiten angepasst werden und den Erwartungen der Eltern sowie den Bedürfnissen und dem affektiven, psychischen und physischen Gedeihen des Kindes entsprechen müssen;

Vermeidung und Beseitigung von Familienarmut;

Fortführung der Maßnahmen auch bei wechselnden politischen Mehrheiten sowie Gewährleistung ihrer Universalität. Sie werden - unabhängig von etwaigen Überlegungen bezüglich des Familieneinkommens - im Interesse des Kindes durchgeführt. Dem Aspekt der Stetigkeit der Politik kommt große Bedeutung zu, da Familienplanung immer langfristig ausgerichtet ist. Eine angemessene, langfristig ausgelegte Familienpolitik ist ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung;

Anerkennung und Wertschätzung der Rolle der Familie und des familiären Erfolgs. Die moderne Gesellschaft misst nur dem individuellen und beruflichen Erfolg Bedeutung bei; es gibt aber auch andere Formen persönlichen Erfolgs, nämlich im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen und des Allgemeinwohls, wozu auch ein gelungenes Familienleben und erfolgreiche ehrenamtliche bzw. kulturelle Arbeit zählen, was vor allem in den Medien und den nationalen Bildungssystemen stärker herausgestellt werden sollte (8);

Berücksichtigung der besonderen Lage kinderreicher Familien.

7.2

Neben den familienpolitischen Maßnahmen im engeren Sinn des Wortes sind zwei weitere Politikbereiche von entscheidender Bedeutung: die Beschäftigungspolitik und die Wohnungspolitik (9). Ohne Arbeit und Unterkunft ist es schwierig, eine Familie zu gründen. Dazu bedarf es eines Minimums an Vertrauen in die Zukunft. Eine hohe Jugendarbeitslosigkeit bzw. unsichere Beschäftigungsverhältnisse können sich erheblich auf die Bevölkerungserneuerung auswirken, denn Kinder groß zu ziehen dauert Jahre, der für eine Schwangerschaft günstige Zeitraum ist hingegen kurz. Aus diesem Grund sollte auch besondere Aufmerksamkeit für die Lage von Studierenden und junger Menschen, die Eltern sind oder Kinderwünsche haben, geschenkt werden.

7.3

Werden familienpolitische Maßnahmen langfristig angelegt, und entsprechen sie tatsächlich den Erwartungen der Familien, wirken sie sich positiv auf das Wohlergehen von Kindern und Eltern aus und fördern ein harmonisches Gesellschaftsleben und einen Wiederanstieg der Geburtenrate.

7.4

In einer kürzlich von der Weltmütterbewegung („Mouvement mondial des mères“) unter 11 000 Müttern durchgeführten Umfrage haben sich folgende Hauptanliegen herauskristallisiert:

Am wichtigsten ist den Müttern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie;

an die zweite Stelle setzen sie die gesellschaftliche Anerkennung der Bedeutung ihrer Mutterrolle;

und am drittwichtigsten ist für sie die Möglichkeit, ihren Kindern mehr Zeit zu widmen.

7.5

Interessant wäre eine ähnliche Umfrage unter Vätern, denn es ist durchaus möglich, dass die drei ermittelten Prioritäten und insbesondere auch die Anerkennung der Vaterrolle, auch auf diese zutreffen, was zweifelsohne zu einem stärkeren Engagement der Väter im Familienleben führen könnte (10). Positiv zu bewerten sind in diesem Zusammenhang die jüngsten Vorschläge, mit denen Väter zum Elternurlaub ermuntert werden sollen bzw. ein verpflichtender und bezahlter Elternurlaub eingeführt werden soll, da sie sowohl die notwendige stärkere Anerkennung der Vaterrolle als auch die ebenso wichtige Übernahme von Verantwortung durch die Väter im Scheidungsfall fördern. Als nützlich erweisen könnte sich dabei eine Zusammenstellung bewährter Vorgehensweisen von Unternehmen, die sich um eine familienfreundliche Arbeitsorganisation bemühen. Die soziale Verantwortung der Unternehmen erstreckt sich auch auf Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familienleben, denn diese werden eben in den Unternehmen konkret umgesetzt. Es wäre sinnvoll, ein Kennzeichen für familienfreundliche Unternehmen zu schaffen, wie es bereit in Spanien mit Unterstützung des Sozial- und Gesundheitsministeriums eingeführt wurde (11).

7.6

Der EWSA hat in einer früheren Stellungnahme (12) vorgeschlagen „Initiativen zu erwägen, die es Großeltern und anderen engen Familienmitgliedern ermöglichen, sich um die Kinder zu kümmern, wenn die berufstätigen Eltern dies ebenfalls wünschen und es den Interessen des Kindes entspricht“. Bezüglich der Familienzeit hat sich der EWSA bereits für den Grundsatz ausgesprochen hat, dass „jeder (…) über einen ausreichenden, in Jahren zu bemessenden ‚Zeitkredit‘ für Aktivitäten im Rahmen von Familie (…) verfügen (muss). Es sollte möglich sein, sich für ein späteres Renteneintrittsalter zu entscheiden, wenn man es vorzieht, bereits während seiner Erwerbstätigkeit arbeitsfreie (und - ähnlich wie im Ruhestand - entlohnte) Zeit in Anspruch zu nehmen“ (13). Bei Teilzeitarbeit oder einer Unterbrechung der Berufstätigkeit wäre so das Einkommen nicht übermäßig beschnitten. Es wäre sinnvoll, eine genaue wirtschaftliche Kalkulation vorzunehmen, um die im Bereich öffentlicher Betreuungseinrichtungen erzielten Einsparungen zu bestimmen. Diese Mittel könnten für die Berücksichtigung der Erziehungszeiten bei der Rentenberechnung verwendet werden. Ebenso müssen die Rechte der Großeltern in Bezug auf ihre Enkel gewährleistet werden.

7.7

Auf der Grundlage von Umfragen über die Wünsche junger Menschen, über die Veränderungen, die sich aus der größeren Mobilität der Familien ergeben und über den Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von Wohnraum für junge Menschen und der Entscheidung, eine Familie zu gründen, bzw. über die Auswirkungen neuer Familienformen auf die Geburtenrate könnte ebenfalls eine bedarfsgerechte Konzipierung von Familienpolitik sichergestellt werden. Derartige Umfragen wären auch insofern von Nutzen, als sie klare Rückschlüsse auf die Erwartungen der Familien ermöglichen würden, was einer der Schlüsselfaktoren für die Gestaltung von Maßnahmen ist.

8.   Welche Rolle kann die Europäische Union spielen?

8.1

Die Familienpolitik gehört nicht zu den Kompetenzen der Europäischen Union. In Artikel 9 der Grundrechtecharta wird explizit darauf hingewiesen, dass das Familienrecht nationalem Recht unterliegt. Nichtsdestoweniger kann die EU in jenen Bereichen Rechtsakte erlassen, die die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben betreffen, und die Sozialpartner können Vereinbarungen aushandeln, die in der Folge in Richtlinien umgesetzt werden. Beispiele dafür sind der Elternurlaub und die Debatte über die Länge des Mutterschaftsurlaubs. Auch im Bereich der Geschlechtergleichstellung im Beruf, einem der zentralen Anliegen jeglicher Familienpolitik, kann die EU tätig werden, ebenso wie im Bereich des Schutzes und der Entwicklung des Kindes auf der Grundlage der unlängst von der Europäischen Kommission angenommen „EU-Agenda für die Rechte des Kindes“ (14).

8.2

Die Strategie Europa 2020 enthält eine Zielvorgabe für die Erwerbsquote von Männern und Frauen, die sich nur dann erreichen lässt, wenn begleitend familienpolitische Maßnahmen ergriffen werden, die es den Menschen ermöglichen, so viele Kinder wie gewünscht großzuziehen und dabei zu arbeiten, was in den meisten EU-Mitgliedstaaten derzeit nicht gewährleistet ist.

8.3

Darüber hinaus kann die EU eine nützliche Rolle in Bezug auf den Kenntnisstand und die demografische Entwicklung auf allen geografischen Ebenen, bei der Bewertung familienpolitischer Maßnahmen (auf Ebene der Mitgliedstaaten sowie der Gebietskörperschaften) und dem Austausch empfehlenswerter Vorgehensweisen zwischen den Mitgliedstaaten spielen.

8.4

Im Rahmen der unter dem jüngsten deutschen EU-Ratsvorsitz lancierten Europäischen Allianz für Familien war die Einrichtung einer Beobachtungsstelle vorgesehen, die jedoch bis dato nicht erfolgt ist.

8.5

Unter der Ägide der Europäischen Union wird eine Reihe von Maßnahmen und Projekten, die in diesem Zusammenhang geplant waren, umgesetzt bzw. finanziell gefördert:

die Sachverständigengruppe für Fragen der Demografie;

das Europäische Demografieforum;

Workshops zu beispielhaften Vorgehensweisen;

das Netz für Familienpolitik;

das Internetportal der Europäischen Allianz für Familien;

regionale Seminare.

Für diese Maßnahmen wurden insgesamt ca. 500 000 EUR an Finanzmitteln bereitgestellt. Dazu kommen das Forschungsprojekt Familienplattform, das mit weiteren Forschungsprojekten zur Bevölkerungsentwicklung und zu Familienfragen verbunden ist, sowie die Familien-Datenbank der OECD.

8.6

Wünschenswert wäre es, diese Initiativen besser abzustimmen und sie einem Gremium zu unterstellen, das die allgemeine politische Strategie sowie Handlungs- und Forschungsleitlinien festlegt bzw. zumindest die Koordinierung der einzelnen Initiativen übernimmt. Da die Zeichen für eine Neugründung von eigenständigen Einrichtungen innerhalb der Europäischen Union nicht gerade gut stehen, könnte die Rolle des Dirigenten und Koordinators - was eine stärkere politische Ausrichtung und die Verwaltung betrifft - über die Europäische Allianz der Familien der Europäischen Kommission übertragen werden, und - was den wissenschaftlichen Aspekt betrifft - Eurofound mit diesen Aufgaben betraut werden, die als drittelparitätisch besetzte EU-Agentur überaus geeignet für diese Aufgabe wäre. Dank der genauen Abstimmung der einzelnen in der EU bereits umgesetzten Initiativen könnte den Mitgliedstaaten umfassendes Datenmaterial in einer Datenbank zur Verfügung gestellt werden. Außerdem sollte die Europäische Allianz der Familien Kontakte knüpfen und eine Zusammenarbeit entwickeln mit den Strukturen und Aktionen der offenen Methode der Koordinierung im sozialen Bereich. Diese ist derzeit Gegenstand von Überlegungen der Europäischen Kommission zusammen mit den interessierten Kreisen.

8.7

Über den Europäischen Sozialfonds und den Regionalen Entwicklungsfonds wurden bereits in einigen Mitgliedstaaten Beiträge zu familienpolitischen Maßnahmen geleistet. Es sollte überlegt werden, wie solche Beiträge ausgebaut werden können. Die Familienpolitik muss auch Teil der Plattform zur Bekämpfung von Armut sein.

8.8

Darüber hinaus sollten in den Rahmenprogrammen für Forschung (15) und für Innovation Mittel für Studien und Forschungsprojekte zur Demografie, aber auch zur Soziologie, Anthropologie und Philosophie bereitgestellt werden, die für Familienfragen ebenfalls relevant sind. Überdies sollten Untersuchungen zur Effizienz und zu den Auswirkungen der umgesetzten familienpolitischen Maßnahmen durchgeführt werden. In diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert, dass die Familienplattform ihre Tätigkeit nicht einstellt, sondern auf Dauer fortführt, wie dies auch von den im Bereich der Familienpolitik tätigen Verbänden und Organisationen gewünscht wird.

8.9

Wünschenswert wäre zudem, dass die Familienverbände sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene in die Gestaltung familienpolitischer Maßnahmen bzw. solcher, die sich auf die Familien auswirken, eingebunden werden.

8.10

Alle Europäerinnen und Europäer waren bzw. sind Mitglied einer Familie, welches Schicksal dieser auch immer beschert gewesen sein mag und unabhängig von der Entwicklung, die die Familie in den letzten Jahrzehnten insgesamt genommen hat. Niemand kommt durch Spontanzeugung zur Welt, und alle Meinungsumfragen zeigen, dass Familiensolidarität nach wie vor zu jenen Grundwerten zählen, denen die Bürgerinnen und Bürger Europas am meisten Bedeutung beimessen. Tatsache ist, dass sich zahlreiche politische Maßnahmen, die auf EU-Ebene beschlossen werden, unmittelbar auf die Familien auswirken (Freizügigkeit, Beschäftigung und Sozialschutz, Umwelt- und Verbraucherschutz, Festlegung der MwSt-Sätze auf Babyartikel (16), Medienpolitik oder auch Bildungs- und Kulturprogramme sowie soziale Maßnahmen).

8.11

Der EWSA empfiehlt daher, die familienpolitische Dimension durchgehend in allen EU-Politikbereichen und insbesondere bei der nunmehr für alle EU-Rechtsakte obligatorischen Erstellung von Folgenabschätzungen zu berücksichtigen (17), und ihr ist bei allen Bewertungen der bestehenden Politikbereiche im Hinblick auf eine Überarbeitung Rechnung zu tragen. In Spanien sah die Wasserpreisfestlegung mit der Verbrauchsmenge ansteigende Kosten pro Kubikmeter vor, um den Verbrauch einer begrenzten Ressource zu senken. Dieses Verfahren war indes für kinderreiche Familien sehr nachteilig, da eine fünfköpfige Familie automatisch mehr verbraucht als ein Alleinstehender oder ein kinderloser Haushalt. Infolge einer gerichtlichen Klage wurde dieses Berechnungssystem aufgegeben (18). Es wäre folglich wünschenswert, auf europäischer Ebene eine systematische Untersuchung der Folgen von Rechtsvorschriften für die Familien durchzuführen, um mögliche widersinnige und für Familien nachteilige Folgen zu vermeiden.

8.12

Ferner ist zu betonen, in welchem Maße Regionalpolitik, Investitions- und Bildungs-, Wohnungs- und Beschäftigungspolitik miteinander verknüpft sind und - abgesehen von der Familienpolitik im engeren Sinne - bestimmte Mitgliedstaaten oder Regionen für Familien und junge Menschen attraktiv machen und zu einer insgesamt lebhaften demografischen Entwicklung beitragen können.

8.13

Zudem befürwortet er nachdrücklich den Vorschlag, 2014 zum Europäischen Jahr der Familie auszurufen und das 20. Jubiläum des internationalen Jahres der Familie der Vereinten Nationen zu begehen. Denn die Zukunft der Gesellschaften liegt in den künftigen Generationen, und diese kommen in den Familien auf die Welt. Abschließend muss unterstrichen werden, dass es einen ausschlaggebenden Faktor bei der Gründung einer Familie gibt: Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Regierungen müssen für die Hoffnungen der von ihnen regierten Bevölkerungen einstehen. Darin liegen die Größe und die Last ihrer Aufgabe.

Brüssel, den 4. Mai 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Solidarität zwischen den Generationen fördern“, ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 66, Ziffer 4.8.

(2)  Dieses Phänomen wird von Bevölkerungswissenschaftlern als „demografischer Winter“ bezeichnet.

(3)  Dieser Wert liegt in der EU bei 2,1 Geburten pro Frau. Die 0,1 Geburten pro Frau sind erforderlich, um die Auswirkungen des Geschlechtsverhältnisses der Neugeborenen (höherer Knabenanteil) sowie der Mortilität weiblicher Nachkommen vor Erreichen des Gebäralters auszugleichen.

(4)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Solidarität zwischen den Generationen fördern“, ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 66, Ziffer 4.8.

(5)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Familie und die demografische Entwicklung“, ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 66, Ziffer 7.

(6)  „Mitteilung an die Reflexionsgruppe über die Zukunft der Europäischen Union (unter dem Vorsitz von Felipe González Márquez)“ - Gerard-François Dumont, UE Prospective démographique - http://www.diploweb.com/UE-Prospective-demographique.html.

(7)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Familie und die demografische Entwicklung“, ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 66, Ziffer 6.4 sowie die Stellungnahme zum Thema „Die Solidarität zwischen den Generationen fördern“, ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 66, Ziffer 3.11.

(8)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Familie und die demografische Entwicklung“, ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 66, Ziffer 8.15 sowie die Stellungnahme zum Thema „Die Solidarität zwischen den Generationen fördern“, ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 66, Ziffer 3.13.

(9)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Familie und die demografische Entwicklung“, ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 66, Ziffer 4.6.

(10)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Familie und die demografische Entwicklung“, ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 66, Ziffer 8.11.

(11)  http://www.en.aenor.es/aenor/certificacion/resp_social/resp_efr.asp.

(12)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 92/85/EWG des Rates über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz“, ABl. C 277 vom 17.11.2009, Ziffer 1.12.

(13)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Der Zusammenhang zwischen Gleichstellung, Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsquote“, ABl. C 318/15 vom 23.12.2009, Ziffer 4.2.6.2.

(14)  KOM(2011) 60 endg.

(15)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Familie und die demografische Entwicklung“, ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 66, Ziffer 4.5.

(16)  Der EWSA hat sich diesbezüglich für eine Senkung ausgesprochen, insbesondere für Windeln. Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Solidarität zwischen den Generationen fördern“, ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 66 Ziffer 4.7.

(17)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Solidarität zwischen den Generationen fördern“, ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 66, Ziffer 4.8.

(18)  http://sentencias.juridicas.com/docs/00285332.html.


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