URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

19. September 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Internationale Kindesentführung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 11 – Antrag auf Rückgabe – Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 – Antrag auf Vollstreckbarerklärung – Rechtsbehelf – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs – Exequaturbeschluss – Vollstreckung vor Zustellung“

In den verbundenen Rechtssachen C‑325/18 PPU und C‑375/18 PPU

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) mit Entscheidungen vom 17. Mai 2018 (C‑325/18 PPU) und vom 7. Juni 2018 (C‑375/18 PPU), beim Gerichtshof eingegangen am 17. Mai 2018 und am 7. Juni 2018, in den Verfahren

Hampshire County Council

gegen

C.E.,

N.E.,

Beteiligte:

Child and Family Agency,

Attorney General,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten R. Silva de Lapuerta sowie der Richter C. G. Fernlund, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev (Berichterstatter) und S. Rodin,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund der Anträge des vorlegenden Gerichts vom 17. Mai 2018 (C‑325/18 PPU) und vom 7. Juni 2018 (C‑375/18 PPU), beim Gerichtshof eingegangen am 17. Mai 2018 und am 7. Juni 2018, die Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund der Entscheidung der Ersten Kammer vom 11. Juni 2018, diesen Anträgen stattzugeben,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juli 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Hampshire County Council, vertreten durch D. Day, Barrister, im Auftrag von V. Pearce, Solicitor,

von N.E. und C.E., vertreten durch N. Jackson, SC, B. Shipsey, SC, B. McKeever, BL, und K. Smyth, Solicitor,

des Attorney General, vertreten durch M. Browne, J. McCann und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von A. Finn, BL, und G. Durcan, SC,

Irlands, vertreten durch J. McCann als Bevollmächtigte im Beistand von G. Durcan, SC, und A. Finn, BL,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch R. Fadoju und C. Brodie als Bevollmächtigte im Beistand von E. Devereux, QC,

der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Vláčil als Bevollmächtigten,

der polnischen Regierung, vertreten durch M. Nowak als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 7. August 2018

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 11 und Art. 33 Abs. 5 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

2

Diese Ersuchen ergehen im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Hampshire County Council (Grafschaftsrat Hampshire, im Folgenden HCC) auf der einen sowie C.E. und N.E. auf der anderen Seite über die Rückgabe – in das Vereinigte Königreich – dreier minderjähriger Kinder (im Folgenden: die drei Kinder), die von den betroffenen Eltern nach Irland verbracht wurden, um der Anordnung einer Vormundschaft für diese Kinder zu entgehen, sowie eines Antrags auf Erlass einer Anordnung, den die Eltern in Irland gestellt haben, um die Aussetzung der Adoption des jüngsten der drei Kinder und gegebenenfalls der übrigen Kinder im Vereinigten Königreich zu erwirken.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Das am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossene Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) soll, wie aus seiner Präambel hervorgeht, u. a. das Kind vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens international schützen und Verfahren einführen, um seine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen. Das Übereinkommen ist am 1. Dezember 1983 in Kraft getreten, und alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Vertragsparteien desselben.

4

Art. 1 des Haager Übereinkommens von 1980 lautet:

„Ziel dieses Übereinkommens ist es,

a)

die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen und

b)

zu gewährleisten, dass das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht zum persönlichen Umgang in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird.“

5

Art. 3 des Übereinkommens lautet:

„Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn

a)

dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und

b)

dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

Das unter Buchstabe a genannte Sorgerecht kann insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen.“

6

Art. 12 des Übereinkommens sieht vor:

„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.

…“

7

Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 sieht vor:

„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

b)

dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

…“

Unionsrecht

8

Die Erwägungsgründe 12, 17, 21 und 33 der Verordnung Nr. 2201/2003 lauten:

„(12)

Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. …

(17)

Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das Haager Übereinkommen [von] 1980, das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, sollten dessen Rückgabe in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können. Jedoch sollte eine solche Entscheidung durch eine spätere Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats ersetzt werden können, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Sollte in dieser Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet werden, so sollte die Rückgabe erfolgen, ohne dass es in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, eines besonderen Verfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung bedarf.

(21)

Die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen sollten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein.

(33)

Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der [Charta] anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der [Charta] zu gewährleisten.“

9

Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt in den Abs. 1 und 3:

„(1)   Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

b)

die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.

(2)   Die in Absatz 1 Buchstabe b) genannten Zivilsachen betreffen insbesondere:

a)

das Sorgerecht und das Umgangsrecht,

(3)   Diese Verordnung gilt nicht für

b)

Adoptionsentscheidungen und Maßnahmen zur Vorbereitung einer Adoption sowie die Ungültigerklärung und den Widerruf der Adoption,

…“

10

In Art. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1.

‚Gericht‘ alle Behörden der Mitgliedstaaten, die für Rechtssachen zuständig sind, die gemäß Artikel 1 in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen;

7.

‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;

8.

‚Träger der elterlichen Verantwortung‘ jede Person, die die elterliche Verantwortung für ein Kind ausübt;

9.

‚Sorgerecht‘ die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes;

11.

‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn

a)

dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b)

das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.“

11

Art. 11 („Rückgabe des Kindes“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(1)   Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens [von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(3)   Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Absatz 1 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts.

Unbeschadet des Unterabsatzes 1 erlässt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.

(6)   Hat ein Gericht entschieden, die Rückgabe des Kindes gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, so muss es nach dem nationalen Recht dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unverzüglich entweder direkt oder über seine Zentrale Behörde eine Abschrift der gerichtlichen Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und die entsprechenden Unterlagen, insbesondere eine Niederschrift der Anhörung, übermitteln. Alle genannten Unterlagen müssen dem Gericht binnen einem Monat ab dem Datum der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, vorgelegt werden.

(7)   Sofern die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht bereits von einer der Parteien befasst wurden, muss das Gericht oder die Zentrale Behörde, das/die die Mitteilung gemäß Absatz 6 erhält, die Parteien hiervon unterrichten und sie einladen, binnen drei Monaten ab Zustellung der Mitteilung Anträge gemäß dem nationalen Recht beim Gericht einzureichen, damit das Gericht die Frage des Sorgerechts prüfen kann.

Unbeschadet der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln schließt das Gericht den Fall ab, wenn innerhalb dieser Frist keine Anträge bei dem Gericht eingegangen sind.

(8)   Ungeachtet einer nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, ist eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wird, … vollstreckbar, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.“

12

Der die Rechtshängigkeit betreffende Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht in den Abs. 2 und 3 vor:

„(2)   Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.

(3)   Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.

In diesem Fall kann der Antragsteller, der den Antrag bei dem später angerufenen Gericht gestellt hat, diesen Antrag dem zuerst angerufenen Gericht vorlegen.“

13

Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„(1)   Die Gerichte eines Mitgliedstaats können in dringenden Fällen ungeachtet der Bestimmungen dieser Verordnung die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen oder Vermögensgegenstände auch dann anordnen, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache gemäß dieser Verordnung ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.

(2)   Die zur Durchführung des Absatzes 1 ergriffenen Maßnahmen treten außer Kraft, wenn das Gericht des Mitgliedstaats, das gemäß dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, die Maßnahmen getroffen hat, die es für angemessen hält.“

14

In Art. 23 („Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung über die elterliche Verantwortung“) der Verordnung sind die Fälle aufgeführt, bei denen eine Entscheidung über die elterliche Verantwortung nicht anerkannt wird.

15

Nach Art. 26 der Verordnung darf eine Entscheidung über die elterliche Verantwortung keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.

16

Art. 28 („Vollstreckbare Entscheidungen“) in Kapitel III Abschnitt 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(1)   Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für ein Kind, die in diesem Mitgliedstaat vollstreckbar sind und die zugestellt worden sind, werden in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt, wenn sie dort auf Antrag einer berechtigten Partei für vollstreckbar erklärt wurden.

…“

17

Art. 31 der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„(1)   Das mit dem Antrag befasste Gericht erlässt seine Entscheidung ohne Verzug und ohne dass die Person, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, noch das Kind in diesem Abschnitt des Verfahrens Gelegenheit erhalten, eine Erklärung abzugeben.

(2)   Der Antrag darf nur aus einem der in den Artikeln 22, 23 und 24 aufgeführten Gründe abgelehnt werden.

(3)   Die Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.“

18

Art. 33 („Rechtsbehelf“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(1)   Gegen die Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung kann jede Partei einen Rechtsbehelf einlegen.

(3)   Über den Rechtsbehelf wird nach den Vorschriften entschieden, die für Verfahren mit beiderseitigem rechtlichen Gehör maßgebend sind.

(5)   Der Rechtsbehelf gegen die Vollstreckbarerklärung ist innerhalb eines Monats nach ihrer Zustellung einzulegen. Hat die Partei, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Vollstreckbarerklärung erteilt worden ist, so beträgt die Frist für den Rechtsbehelf zwei Monate und beginnt mit dem Tag, an dem die Vollstreckbarerklärung ihr entweder persönlich oder in ihrer Wohnung zugestellt worden ist. Eine Verlängerung dieser Frist wegen weiter Entfernung ist ausgeschlossen.“

19

In Art. 60 der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„Im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten hat diese Verordnung vor den nachstehenden Übereinkommen insoweit Vorrang, als diese Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind:

e)

Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung.“

Irisches Recht

20

Wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑325/18 hervorgeht, sah Order 42A der Verfahrensordnung der Obergerichte, die durch das Statutory Instrument Nr. 9 von 2016 (Verfahrensordnung der Obergerichte [Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen von 2016]) eingeführt wurde, in ihrer ursprünglichen Fassung von 1989 die automatische Aussetzung der Vollstreckung einer Entscheidung über die Vollstreckung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf vor. Die Regel der automatischen Aussetzung wurde jedoch bei den in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fallenden Rechtssachen nicht für angemessen erachtet. Nunmehr sieht die genannte Order 42A Regel 10 Abs. 2 Ziff. ii vor, dass die „Vollstreckung des Urteils oder der Entscheidung vor Ablauf [der betreffenden Rechtsbehelfsfrist] erfolgen kann“.

21

Gemäß Order 42A Regel 10 Abs. 2 Ziff. ii der Verfahrensordnung der Obergerichte muss die Vollstreckbarerklärung einen Hinweis enthalten, mit dem klargestellt wird, dass „die Vollstreckung des Urteils oder der Entscheidung auf gerichtlichen Antrag ausgesetzt werden kann, wenn ein ordentlicher Rechtsbehelf im Ursprungsmitgliedstaat eingelegt worden ist“.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

22

Die betroffenen Eltern, die die britische Staatsangehörigkeit besitzen, miteinander verheiratet sind und zusammen im Vereinigten Königreich lebten, kamen am 5. September 2017 mit den drei Kindern, von denen eines zwei Tage zuvor zur Welt gekommen war, mit der Fähre in Irland an. Frau E. ist die Mutter der drei Kinder, und Herr E. ist der Vater des jüngsten der drei Kinder.

23

Für die beiden älteren Kinder waren im Juni 2017 im Vereinigten Königreich Anordnungen zur vorläufigen Unterbringung ergangen. Der HCC hatte nämlich bereits Bedenken hinsichtlich der Familie geäußert, u. a. wegen des Standards der häuslichen Hygiene, der Fähigkeit der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder, häuslicher Gewalt in früheren Beziehungen sowie Drogenmissbrauchs. Wie sich außerdem herausstellte, hatte eines der Kinder eine Verletzung erlitten, die nicht auf einen Unfall zurückzuführen war und für die eine Täterschaft von Herrn E. nicht ausgeschlossen werden konnte.

24

Am 8. September 2017 erließ der High Court of Justice (England & Wales) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Vereinigtes Königreich) aufgrund der Besorgnisse der britischen Behörden hinsichtlich der Sicherheit der Kinder einen Beschluss, mit dem die drei Kinder unter gerichtliche Vormundschaft gestellt wurden und das Sorgerecht auf den HCC übertragen wurde (im Folgenden: Vormundschaftsbeschluss) und der eine Anordnung zur Rückgabe der drei Kinder umfasste (im Folgenden: Rückgabeanordnung).

25

Am selben Tag hatte der HCC Kontakt zu seinem irischen Pendant, der Child and Family Agency (Agentur für Kinder und Familien, Irland, im Folgenden: Agentur), aufgenommen und diese über seine Absicht informiert, beim High Court of Justice (England & Wales) (Hoher Gerichtshof [England und Wales]) eine Entscheidung zur Anordnung der Rückgabe der drei Kinder zu beantragen. Die Agentur teilte ihrerseits mit, dass eine solche Entscheidung gemäß der Verordnung Nr. 2201/2003 vollstreckt werden müsse. Im weiteren Verlauf des Tages informierte der HCC die Agentur darüber, dass die Rückgabeentscheidung am selben Tag von dem genannten Gericht erlassen worden sei.

26

Es erfolgten mehrere Besuche am Wohnsitz der Familie E. in Irland, jedoch konnte die Agentur bezüglich der Kinder nichts Beunruhigendes feststellen. Die betroffenen Eltern teilten der Agentur mit, dass ihnen geraten worden sei, nach Irland zu reisen, um sich den Sozialdiensten und der Unterbringung der drei Kinder zu entziehen.

27

Die Agentur eröffnete den Eltern, dass sie auf der Grundlage der vom HCC übermittelten Informationen eine Entscheidung zur vorläufigen Unterbringung der drei Kinder beantragen werde. Außerdem teilte sie ihnen mit, dass der HCC beim High Court (Gerichtshof, Irland) die Anerkennung der Anordnung zur Rückgabe der drei Kinder beantragen könne und dass die Kinder, sollte dieser Antrag Erfolg haben, dann in das Vereinigte Königreich zurückgebracht würden.

28

Am 14. September 2017 übertrug der District Court (Bezirksgericht, Irland) das vorläufige Sorgerecht für die drei Kinder auf die Agentur, die diese in einer Pflegefamilie unterbrachte. Die betroffenen Eltern erklärten sich mit dieser vorläufigen Unterbringung einverstanden, ohne jedoch deren Rechtmäßigkeit anzuerkennen. Die Agentur organisierte eine Besprechung mit den Eltern bezüglich eines Versorgungsplans. Die Eltern wurden ausdrücklich darüber informiert, dass der HCC beabsichtige, die Vollstreckung der Rückgabeentscheidung, die der High Court of Justice (England & Wales) (Hoher Gerichtshof [England und Wales]) kurz zuvor erlassen hatte, mittels eines an den High Court (Gerichtshof, Irland) gerichteten Antrags in einem nicht streitigen Verfahren zu erwirken, um die Rückgabe der Kinder in das Vereinigte Königreich zu erreichen.

29

Am 21. September 2017 erließ der High Court (Gerichtshof, Irland) einen Beschluss gemäß Kapitel III der Verordnung Nr. 2201/2003, mit dem er den Vormundschaftsbeschluss anerkannte und anordnete, dass dieser Beschluss „im irischen Hoheitsgebiet vollstreckt wird“ (im Folgenden: Ex-parte-Beschluss). Am selben Tag wurden die drei Kinder Sozialarbeitern des HCC übergeben und in das Vereinigte Königreich zurückgebracht.

30

Die Sozialarbeiter des HCC hatten ihre irischen Amtskollegen ausdrücklich ersucht, die betroffenen Eltern nicht zu kontaktieren, weil sie von einer Fluchtgefahr ausgingen. Die Eltern wurden somit erst im Nachhinein, d. h. am Tag der Rückgabe der drei Kinder telefonisch informiert, und der Ex-parte-Beschluss wurde ihnen erst am darauffolgenden Tag förmlich zugestellt.

31

Die Eltern versuchten, einen Rechtsbehelf gegen den Vormundschaftsbeschluss einzulegen, jedoch wurde ihnen die Erlaubnis hierzu am 9. Oktober 2017 vom Court of Appeal (England & Wales) (Berufungsgericht [England und Wales], Vereinigtes Königreich) verweigert.

32

Am 24. November 2017 legten sie beim High Court (Gerichtshof, Irland) einen Rechtsbehelf gegen den Ex-parte-Beschluss ein. Am 18. Januar 2018 wurde dieser Rechtsbehelf, der zwei Tage nach Ablauf der in Art. 33 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Frist eingelegt worden war, mit der Begründung als verspätet zurückgewiesen, dass die in dieser Vorschrift vorgesehene Frist zwingend sei und dass das angerufene Gericht nicht befugt sei, diese zu verlängern. Gegen diese Entscheidung erhoben die Eltern beim vorlegenden Gericht Klage.

33

Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) in der Rechtssache C‑325/18 beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Wenn geltend gemacht wird, dass Kinder von ihren Eltern und/oder anderen Familienmitgliedern widerrechtlich aus dem Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts gebracht wurden und dabei gegen eine von einer Behörde dieses Staates erwirkte gerichtliche Entscheidung verstoßen wurde, darf diese Behörde dann für jede gerichtliche Entscheidung, mit der die Rückführung der Kinder in den Zuständigkeitsbereich dieses Gerichts angeordnet wird, die Vollstreckung vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nach den Vorschriften von Kapitel III der Verordnung Nr. 2201/2003 beantragen, oder würde dies auf eine rechtswidrige Umgehung von Art. 11 der Verordnung und des Haager Übereinkommens von 1980 oder in anderer Weise auf einen Missbrauch von Rechten oder Rechtsvorschriften durch die betreffende Behörde hinauslaufen?

2.

Besteht in einem Fall, der die Vollstreckungsvorschriften der Verordnung Nr. 2201/2003 betrifft, eine Befugnis, die in Art. 33 Abs. 5 genannten Fristen zu verlängern, wenn die Verspätungen im Wesentlichen geringfügig waren und eine Fristverlängerung sonst nach nationalem Verfahrensrecht gewährt worden wäre?

3.

Unbeschadet der zweiten Frage: Wenn eine ausländische Behörde die Kinder, um die es bei dem Rechtsstreit geht, aufgrund einer Entscheidung über die Vollstreckung, die im Einklang mit Art. 31 der Verordnung Nr. 2201/2003 ohne Anhörung der Beteiligten ergangen ist, noch vor der Zustellung der Entscheidung an die Eltern aus dem Zuständigkeitsbereich eines Mitgliedstaats verbringt und die Eltern dadurch ihrer Rechte beraubt, die Aussetzung einer solchen Entscheidung für die Dauer eines Rechtsmittelverfahrens zu beantragen, beeinträchtigt dann ein solches Verhalten den Wesensgehalt der Rechte der Eltern aus Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie aus Art. 47 der Charta so stark, dass eine Verlängerung der (in Art. 33 Abs. 5 der Verordnung angegebenen) Frist gewährt werden sollte?

34

Die betroffenen Eltern beantragten daraufhin beim vorlegenden Gericht einstweiligen Rechtsschutz, um die Aussetzung des Verfahrens zur Adoption der drei Kinder zu erreichen.

35

Der HCC teilte seine Absicht mit, nur bezüglich des jüngsten Kindes die Adoption einzuleiten, da die beiden anderen Kinder derzeit beim Vater eines von ihnen im Vereinigten Königreich wohnten.

36

Der HCC wurde im Ausgangsverfahren als „Partei“ bezeichnet, beteiligte sich an diesem Verfahren vor dem vorlegenden Gericht jedoch nicht und nahm sein Recht, vor diesem Gericht gehört zu werden, nicht wahr.

37

Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) in der Rechtssache C‑375/18 beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist es mit dem Unionsrecht und insbesondere mit den Vorschriften der Verordnung Nr. 2201/2003 vereinbar, wenn die Gerichte eines Mitgliedstaats eine einstweilige Verfügung (Schutzmaßnahmen) erlassen, die sich in personam an eine Behörde eines anderen Mitgliedstaats richtet und mit der diese Behörde daran gehindert wird, vor den Gerichten des anderen Mitgliedstaats die Adoption von Kindern in die Wege zu leiten, wenn die In-personam-Verfügung auf der Notwendigkeit beruht, die Rechte der Parteien eines Vollstreckungsverfahrens im Rahmen von Kapitel III der Verordnung von 2003 zu schützen?

38

Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 11. Juni 2018 sind die Rechtssachen C‑325/18 und C‑375/18 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

Zum Eilvorabentscheidungsverfahren

39

Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

40

Zur Stützung seines Antrags hat es in Anbetracht des Verfahrens zur Adoption der Kinder, das der HCC durchzuführen beabsichtigt und dem sich die Mutter der drei Kinder entgegenstellt, auf die Dringlichkeit in der Rechtssache C‑325/18 hingewiesen. Was das jüngste Kind anbelangt, stellt sich auch dessen Vater einer Adoption entgegen.

41

Zum anderen macht das vorlegende Gericht geltend, dass dem Antrag auf Vorabentscheidung im Eilverfahren in der Rechtssache C‑375/18 ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zugrunde liege, das seiner praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn das Eilvorabentscheidungsverfahren nicht eingeleitet würde.

42

Insoweit ist erstens festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 betrifft, die u. a. auf der Grundlage von Art. 61 Buchst. c EG, jetzt Art. 67 AEUV, der zu Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags gehört, erlassen wurde. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.

43

Zweitens ist festzustellen, dass die Ausgangsverfahren drei Kinder im Alter von unter sechs Jahren betreffen, die seit fast einem Jahr von ihrer Mutter getrennt sind, und dass der HCC im Vereinigten Königreich Schritte im Hinblick auf eine Adoption des jüngsten Kindes unternommen hat.

44

Unter diesen Umständen hat die Erste Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung der Generalanwältin am 11. Juni 2018 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑325/18

45

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die allgemeinen Vorschriften von Kapitel III der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen sind, dass, wenn geltend gemacht wird, dass Kinder widerrechtlich verbracht wurden, die Entscheidung eines Gerichts des Mitgliedstaats, in dem die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, mit der die Rückgabe dieser Kinder angeordnet wird, im Aufnahmemitgliedstaat gemäß diesen allgemeinen Vorschriften für vollstreckbar erklärt werden kann.

46

Konkret möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der HCC die nach dem Haager Übereinkommen von 1980 zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe im Aufnahmemitgliedstaat hätte ausschöpfen müssen, bevor er, wie er dies getan hat, versucht, nach Kapitel III der Verordnung Nr. 2201/2003 die Anerkennung des Vormundschaftsbeschlusses zu erreichen und diesen zu vollstrecken.

47

Erstens ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 zwar, wie aus ihren Erwägungsgründen hervorgeht, die Schaffung eines Rechtsraums auf der Grundlage des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen durch Festlegung von Vorschriften für die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über die elterliche Verantwortung bezweckt, während das Übereinkommen von 1980 nach seinem Art. 1 Buchst. a zum Ziel hat, die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen, ein enger Zusammenhang zwischen diesen beiden Instrumenten besteht, die im Wesentlichen den gemeinsamen Zweck haben, darauf hinzuwirken, dass von Kindesentführungen zwischen Staaten Abstand genommen wird und dass, wenn es zu einer Entführung kommt, die sofortige Rückgabe des Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts erwirkt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2008, Rinau, C‑195/08 PPU, EU:C:2008:406, Rn. 48 und 52).

48

Im 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 wird der ergänzende Charakter dieser Verordnung hervorgehoben, indem darauf hingewiesen wird, dass sie die Bestimmungen des Haager Übereinkommens von 1980, das gleichwohl weiterhin Anwendung findet, ergänzt.

49

Art. 34 des Übereinkommens von 1980 sieht zudem vor, dass es „weder die Anwendung anderer internationaler Übereinkünfte, die zwischen dem Ursprungsstaat und dem ersuchten Staat in Kraft sind, noch die Anwendung des nichtvertraglichen Rechts des ersuchten Staates [beschränkt], wenn dadurch die Rückgabe eines widerrechtlich verbrachten oder zurückgehaltenen Kindes erwirkt oder die Durchführung des Rechts zum persönlichen Umgang bezweckt werden soll“.

50

Die Verbindung zwischen den beiden in Rede stehenden Instrumenten wird in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 präzisiert, wonach die Gerichte eines Mitgliedstaats die Abs. 2 bis 8 dieses Art. 11 auf das nach dem Haager Übereinkommen von 1980 vorgesehene Rückgabeverfahren anwenden müssen.

51

Es ist festzustellen, dass diese Bestimmungen nicht verlangen, dass eine Person, eine Stelle oder eine Behörde sich in dem Fall, dass eine internationale Kindesentführung geltend gemacht wird, auf das Haager Übereinkommen von 1980 stützt, um die sofortige Rückgabe des Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts zu beantragen.

52

Diese Auslegung wird durch Art. 60 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestätigt, aus dem hervorgeht, dass diese Verordnung Vorrang vor dem Haager Übereinkommen von 1980 hat (Urteil vom 11. Juli 2008, Rinau, C‑195/08 PPU, EU:C:2008:406, Rn. 54).

53

Somit kann der Träger der elterlichen Verantwortung nach den Vorschriften von Kapitel III der Verordnung Nr. 2201/2003 die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung bezüglich der elterlichen Sorge und der Rückgabe von Kindern, die von einem gemäß Kapitel II Abschnitt 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 zuständigen Gericht erlassen wurde, auch dann beantragen, wenn er keinen auf das Haager Übereinkommen von 1980 gestützten Antrag auf Rückgabe gestellt hat.

54

Zweitens ist zu prüfen, ob die Rückgabeanordnung in den sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt, was C.E. bestreitet.

55

Aus Art. 1 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt sich, dass diese ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit u. a. für solche Zivilsachen gilt, die die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung zum Gegenstand haben. In diesem Rahmen ist der Begriff „Zivilsachen“ nicht restriktiv, sondern wie ein autonomer Begriff des Unionsrechts zu verstehen, der insbesondere alle Anträge, Maßnahmen oder Entscheidungen über die „elterliche Verantwortung“ im Sinne dieser Verordnung gemäß dem in ihrem fünften Erwägungsgrund genannten Ziel abdeckt (Urteil vom 21. Oktober 2015, Gogova, C‑215/15, EU:C:2015:710, Rn. 26).

56

Gemäß Art. 1 Abs. 2 Buchst. a bis d der Verordnung Nr. 2201/2003 umfassen Angelegenheiten bezüglich der elterlichen Verantwortung u. a. das Sorgerecht, die Vormundschaft, die Bestimmung und den Aufgabenbereich jeder Person oder Stelle, die für die Person oder das Vermögen des Kindes verantwortlich ist, es vertritt oder ihm beisteht, sowie die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim.

57

Der Begriff „elterliche Verantwortung“ wird in Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 2201/2003 weit in dem Sinne definiert, dass sie die gesamten Rechte und Pflichten umfasst, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen werden (Urteile vom 27. November 2007, C, C‑435/06, EU:C:2007:714, Rn. 49, und vom 26. April 2012, Health Service Executive, C‑92/12 PPU, EU:C:2012:255, Rn. 59).

58

Übt ein Gericht seine Befugnis zur Anordnung einer Vormundschaft aus, so impliziert dies die Ausübung der normalerweise von den Eltern ausgeübten Rechte im Zusammenhang mit dem Wohl und der Erziehung der Kinder im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 und auch der Aspekte im Zusammenhang mit der Vormundschaft und der Pflegschaft im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. b dieser Verordnung. Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, fällt die Übertragung des Sorgerechts auf eine Verwaltungsbehörde ebenfalls in den Anwendungsbereich der genannten Verordnung.

59

Insoweit geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass der Vormundschaftsbeschluss mit dem vom High Court (Gerichtshof, Irland) gemäß Kapitel III der Verordnung Nr. 2201/2003 erlassenen Ex-parte-Beschluss anerkannt und für in Irland vollstreckbar erklärt wurde.

60

Es steht fest, dass der Antrag auf Rückgabe der drei Kinder nicht auf das Haager Übereinkommen von 1980 gestützt wurde und dass der Tenor des Vormundschaftsbeschlusses aus mehreren Teilen besteht, darunter die Anordnung der gerichtlichen Vormundschaft für die drei Kinder und die Rückgabeanordnung. Es ist somit offensichtlich, dass Letztere auf die Entscheidung betreffend die elterliche Verantwortung folgte und mit dieser untrennbar verbunden ist.

61

Daraus folgt, dass eine Entscheidung, mit der die Vormundschaft für Kinder und die Rückgabe dieser Kinder angeordnet wird, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, deren Vollstreckbarerklärung beim High Court (Gerichtshof, Irland) beantragt wurde, sich auf die Zuweisung und/oder Ausübung und/oder Beschränkung der elterlichen Verantwortung im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 bezieht und die „Sorgerechte“ und/oder die „Vormundschaft“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung betrifft. Eine solche Entscheidung fällt demnach in den sachlichen Anwendungsbereich der genannten Verordnung.

62

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die allgemeinen Vorschriften von Kapitel III der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen sind, dass, wenn geltend gemacht wird, dass Kinder widerrechtlich verbracht wurden, die Entscheidung eines Gerichts des Mitgliedstaats, in dem die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, mit der die Rückgabe dieser Kinder angeordnet wird und die auf eine Entscheidung betreffend die elterliche Verantwortung folgt, im Aufnahmemitgliedstaat gemäß diesen allgemeinen Vorschriften für vollstreckbar erklärt werden kann.

Zur zweiten und zur dritten Frage in der Rechtssache C‑325/18

63

Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 33 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens der Vollstreckung einer Entscheidung eines Gerichts eines Mitgliedstaats entgegensteht, mit der die Vormundschaft für Kinder sowie die Rückgabe dieser Kinder angeordnet wird und die im ersuchten Mitgliedstaat für vollstreckbar erklärt wurde, bevor die Zustellung der Vollstreckbarerklärung dieser Entscheidung an die betroffenen Eltern vorgenommen wurde, und ob die in Art. 33 Abs. 5 der genannten Verordnung vorgesehene Rechtsbehelfsfrist der Person, gegen die die Vollstreckung der Entscheidung beantragt wurde, entgegengehalten werden muss.

64

Wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, sieht Order 42A Regel 10 Abs. 2 Ziff. ii der Verfahrensordnung der Obergerichte vor, dass „die Vollstreckung des Urteils oder der Entscheidung vor Ablauf der [Rechtsbehelfsfrist] erfolgen kann“.

65

Der Gerichtshof hat entschieden, dass, um zu verhindern, dass die aufschiebende Wirkung eines gegen eine Entscheidung über die Vollstreckbarerklärung eingelegten Rechtsbehelfs die kurze Frist des Art. 31 der Verordnung Nr. 2201/2003 in Frage stellen kann, eine Entscheidung über die Unterbringung vollstreckbar wird, sobald sie vom Gericht des ersuchten Mitgliedstaats gemäß Art. 31 der Verordnung Nr. 2201/2003 für vollstreckbar erklärt worden ist (Urteil vom 26. April 2012, Health Service Executive, C‑92/12 PPU, EU:C:2012:255, Rn. 125). Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass, damit die Verordnung nicht ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt wird, die Entscheidung des Gerichts des ersuchten Mitgliedstaats über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung besonders schnell erfolgen muss, und gegen eine solche Entscheidung des Gerichts des ersuchten Mitgliedstaats eingelegte Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben dürfen (Urteil vom 26. April 2012, Health Service Executive, C‑92/12 PPU, EU:C:2012:255, Rn. 129).

66

Diese Feststellung lässt jedoch die davon verschiedene Frage, ob eine im Stadium des Ex-parte-Verfahrens für vollstreckbar erklärte Entscheidung vor ihrer Zustellung vollstreckt werden darf, unberührt.

67

Insoweit ist festzustellen, dass eine Beantwortung der Vorlagefragen allein anhand des Wortlauts von Art. 33 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht möglich ist.

68

Denn zwar sieht diese Vorschrift vor, dass die Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung, mit der einem Antrag auf Zulassung der Vollstreckung stattgegeben wurde, mit der Zustellung dieser Entscheidung beginnt, gibt aber nicht an, ob die Vollstreckung vor dieser Zustellung erfolgen darf.

69

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis der Zustellung der Exequaturentscheidung zum einen dem Schutz der Rechte des Vollstreckungsschuldners dient und zum anderen eine Beweisfunktion hat, indem es die exakte Berechnung der in Art. 33 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen zwingenden Rechtsbehelfsfrist ermöglicht (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Februar 2006, Verdoliva, C‑3/05, EU:C:2006:113, Rn. 34).

70

Mit diesem Erfordernis der Zustellung und der damit einhergehenden Übermittlung von Informationen bezüglich des Rechtsbehelfs wird sichergestellt, dass dem Vollstreckungsschuldner das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zugutekommt. Es kann somit nur dann davon ausgegangen werden, dass die betroffene Partei im Sinne von Art. 33 der Verordnung Nr. 2201/2003 die Möglichkeit hatte, gegen eine Exequaturentscheidung einen Rechtsbehelf einzulegen, wenn sie Kenntnis vom Inhalt dieser Entscheidung erlangt hatte, was voraussetzt, dass sie ihr zugestellt worden ist (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Dezember 2006, ASML, C‑283/05, EU:C:2006:787, Rn. 40).

71

Insoweit geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass gemäß Order 42A Regel 10 Abs. 2 Ziff. ii der Verfahrensordnung der Obergerichte die Vollstreckbarerklärung einen Hinweis enthalten muss, der klarstellt, dass „die Vollstreckung des Urteils oder der Entscheidung auf gerichtlichen Antrag ausgesetzt werden kann, wenn ein ordentlicher Rechtsbehelf im Ursprungsmitgliedstaat eingelegt worden ist“.

72

Die Möglichkeit, nach nationalem Recht die Aussetzung der Vollstreckung einer solchen Entscheidung zu beantragen, stellt nämlich eine wesentliche Garantie des Grundrechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, allgemeiner, der Verteidigungsrechte dar, die namentlich dann gewährt werden kann, wenn die Gefahr besteht, dass die Vollstreckung einer Entscheidung offensichtlich unangemessene Folgen haben kann.

73

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass – obgleich, wie die Generalanwältin in Nr. 119 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Person, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, die Möglichkeit haben muss, einen Rechtsbehelf einzulegen, um insbesondere einen der in Art. 23 der Verordnung vorgesehenen Gründe für die Nichtanerkennung geltend machen zu können – die Vollstreckung der Rückgabeanordnung noch vor Zustellung des Beschlusses an die betroffenen Eltern verhindert hat, dass diese die „Vollstreckbarerklärung“ rechtzeitig im Sinne von Art. 33 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2201/2003 anfechten und, jedenfalls, die Aussetzung von deren Vollstreckung beantragen konnten.

74

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der HCC in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof geltend gemacht hat, dass die sofortige Vollstreckung der Entscheidung wegen einer „allgemeinen Fluchtgefahr“ erforderlich gewesen sei. Es ist jedoch festzustellen, dass die Kinder seit dem 14. September 2017 in einer Pflegefamilie in Irland untergebracht waren. Folglich scheint die Vollstreckung der Entscheidung, mit der ihre Rückgabe in das Vereinigte Königreich angeordnet wurde, nicht durch eine besondere Dringlichkeit gekennzeichnet gewesen zu sein.

75

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Vollstreckung einer Entscheidung eines Gerichts eines Mitgliedstaats, mit der eine Vormundschaft für Kinder sowie die Rückgabe dieser Kinder angeordnet wird und die im ersuchten Mitgliedstaat für vollstreckbar erklärt wurde, bevor die Zustellung der Vollstreckbarerklärung dieser Entscheidung an die betroffenen Eltern vorgenommen wurde, gegen Art. 33 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003, ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta, verstößt.

76

Das vorlegende Gericht möchte außerdem wissen, ob unter diesen Umständen Art. 33 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass den betroffenen Eltern die in dieser Vorschrift vorgesehene Rechtsbehelfsfrist entgegenhalten werden muss.

77

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Verjährungsfristen nach ständiger Rechtsprechung allgemein den Zweck erfüllen, Rechtssicherheit zu gewährleisten (Urteil vom 7. Juli 2016, Lebek, C‑70/15, EU:C:2016:524, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zudem entspricht es auch dem Wohl des Kindes, dass die Entscheidungen, die es betreffen, nur während eines begrenzten Zeitraums angefochten werden können.

78

Im Ausgangsverfahren ist unstreitig, dass die Exequaturentscheidung den betroffenen Eltern tatsächlich zugestellt wurde.

79

Zwar wurde den Eltern, da die Zustellung nach der Vollstreckung dieser Entscheidung erfolgte, ihr Recht vorenthalten, eine Aussetzung der Vollstreckung der Rückgabeanordnung zu beantragen. Jedoch hat diese Verletzung ihrer Verteidigungsrechte keine Auswirkung auf die Rechtsbehelfsfrist, die mit der Zustellung dieser Entscheidung zu laufen begann.

80

Unter diesen Umständen kann die in Art. 33 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene Rechtsbehelfsfrist somit vom angerufenen Gericht nicht verlängert werden.

81

In Anbetracht der Erwägungen in Rn. 75 des vorliegenden Urteils ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob das nationale Recht es ihm erlaubt, die zuvor ergangene Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung aufzuheben.

82

Auf die zweite und die dritte Frage ist somit zu antworten, dass Art. 33 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens der Vollstreckung einer Entscheidung eines Gerichts eines Mitgliedstaats entgegensteht, mit der die Vormundschaft für Kinder sowie die Rückgabe dieser Kinder angeordnet wird und die im ersuchten Mitgliedstaat für vollstreckbar erklärt wurde, bevor die Zustellung der Vollstreckbarerklärung dieser Entscheidung an die betroffenen Eltern vorgenommen wurde. Art. 33 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass die in dieser Vorschrift vorgesehene Rechtsbehelfsfrist nicht vom angerufenen Gericht verlängert werden kann.

Zur Frage in der Rechtssache C‑375/18

83

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass sie in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dem entgegensteht, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats Schutzmaßnahmen in Form einer Anordnung gegen eine Behörde eines anderen Mitgliedstaats erlässt, mit denen dieser Behörde untersagt wird, vor den Gerichten dieses anderen Mitgliedstaats ein Verfahren zur Adoption von Kindern, die sich dort aufhalten, einzuleiten oder fortzuführen.

84

Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 gestattet es den darin genannten Gerichten, einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen zu erlassen, sofern diese Gerichte nicht, was die elterliche Verantwortung anbelangt, nach einer der Vorschriften in Kapitel II Abschnitt 2 der Verordnung zuständig sind (Urteil vom 15. Juli 2010, Purrucker, C‑256/09, EU:C:2010:437, Rn. 63).

85

Diese Gerichte dürfen einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen nur erlassen, wenn folgende drei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind:

Die betreffenden Maßnahmen müssen dringend sein;

sie müssen in Bezug auf Personen oder Vermögensgegenstände getroffen werden, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem diese Gerichte ihren Sitz haben, und

sie müssen vorübergehender Art sein (Urteil vom 15. Juli 2010, Purrucker, C‑256/09, EU:C:2010:437, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

86

Daraus folgt, dass eine Entscheidung, aus der sich nicht ergibt, dass sie von einem tatsächlich oder vermeintlich in der Hauptsache zuständigen Gericht erlassen wurde, nicht zwangsläufig unter Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt, sondern nur dann, wenn sie dessen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt (Urteil vom 15. Juli 2010, Purrucker, C‑256/09, EU:C:2010:437, Rn. 78).

87

Es ist aber festzustellen, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Antrag auf Erlass einer Anordnung nicht Personen betrifft, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem das vorlegende Gericht seinen Sitz hat, und somit die Voraussetzungen nach Rn. 85 des vorliegenden Urteils nicht erfüllt.

88

Folglich fällt eine Schutzmaßnahme wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Anordnung, die bei einem Gericht eines Mitgliedstaats gegen eine Behörde eines anderen Mitgliedstaats beantragt wird und mit der dieser Behörde untersagt wird, vor den Gerichten dieses anderen Mitgliedstaats ein Verfahren zur Adoption von Kindern einzuleiten oder fortzuführen, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003.

89

Das vorlegende Gericht möchte ferner wissen, ob eine solche Anordnung darauf hinausliefe, dem HCC zu verbieten, die zuständigen englischen Gerichte anzurufen, und damit einer Art „anti-suit injunction“ gleichkäme, die durch die Urteile vom 27. April 2004, Turner (C‑159/02, EU:C:2004:228), sowie vom 10. Februar 2009, Allianz und Generali Assicurazioni Generali (C‑185/07, EU:C:2009:69), verboten ist.

90

Der Gerichtshof hat in diesen Urteilen entschieden, dass eine „anti-suit injunction“, d. h. eine Anordnung, mit der einer Person die Einleitung oder Fortführung eines Verfahrens vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats verboten wurde, mit dem Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) sowie mit der Verordnung Nr. 44/2001 unvereinbar war, da eine solche Anordnung gegen den Grundsatz verstößt, wonach jedes angerufene Gericht nach geltendem Recht selbst bestimmt, ob es für die Entscheidung über den bei ihm anhängig gemachten Rechtsstreit zuständig ist. Ein solcher Eingriff in die Zuständigkeit eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats ist zudem mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens unvereinbar, der die Grundlage für die Schaffung eines für die Gerichte im Anwendungsbereich dieser Rechtsakte verbindlichen Zuständigkeitssystems darstellt (Urteile vom 27. April 2004, Turner, C‑159/02, EU:C:2004:228, Rn. 24 und 25, vom 10. Februar 2009, Allianz und Generali Assicurazioni Generali, C‑185/07, EU:C:2009:69, Rn. 29 und 30, sowie vom 13. Mai 2015, Gazprom, C‑536/13, EU:C:2015:316, Rn. 33 und 34).

91

Im vorliegenden Fall ist gemäß dieser Rechtsprechung festzustellen, dass die Verordnung Nr. 2201/2003, insbesondere ihr Art. 26, den Erlass einer Anordnung, mit der dem HCC untersagt werden soll, im Vereinigten Königreich ein gerichtliches Verfahren hinsichtlich der Adoption der Kinder einzuleiten, oder die Zuständigkeit der englischen Gerichte insoweit in Frage gestellt werden soll, nicht gestattet.

92

Jedoch ist festzustellen, dass eine Anordnung wie die von den betroffenen Eltern beantragte nach den Angaben des vorlegenden Gerichts und wie von der Generalanwältin in den Nrn. 153 und 154 ihrer Schlussanträge ausgeführt weder bezweckt noch bewirkt, dass der HCC daran gehindert wird, ein englisches Gericht mit demselben Gegenstand wie dem des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits zu befassen, da ein im Vereinigten Königreich in die Wege geleitetes oder fortgeführtes gerichtliches Adoptionsverfahren einen anderen Gegenstand und andere Wirkungen hat als das auf die Verordnung Nr. 2201/2003 gestützte Verfahren, das die Rückgabe der Kinder betrifft und mit dem das Recht der betroffenen Eltern auf einen Rechtsbehelf gewahrt werden soll.

93

Überdies fallen die Entscheidung über die Adoption und die sie vorbereitenden Maßnahmen bereits nach dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht in deren Anwendungsbereich.

94

Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass sie in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dem nicht entgegensteht, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats Schutzmaßnahmen in Form einer Anordnung gegen eine Behörde eines anderen Mitgliedstaats erlässt, mit denen dieser Behörde untersagt wird, vor den Gerichten dieses anderen Mitgliedstaats ein Verfahren zur Adoption von Kindern, die sich dort aufhalten, einzuleiten oder fortzuführen.

Kosten

95

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die allgemeinen Vorschriften von Kapitel III der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 sind dahin auszulegen, dass, wenn geltend gemacht wird, dass Kinder widerrechtlich verbracht wurden, die Entscheidung eines Gerichts des Mitgliedstaats, in dem die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, mit der die Rückgabe dieser Kinder angeordnet wird und die auf eine Entscheidung betreffend die elterliche Verantwortung folgt, im Aufnahmemitgliedstaat gemäß diesen allgemeinen Vorschriften für vollstreckbar erklärt werden kann.

 

2.

Art. 33 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens der Vollstreckung einer Entscheidung eines Gerichts eines Mitgliedstaats entgegensteht, mit der die Vormundschaft für Kinder sowie die Rückgabe dieser Kinder angeordnet wird und die im ersuchten Mitgliedstaat für vollstreckbar erklärt wurde, bevor die Zustellung der Vollstreckbarerklärung dieser Entscheidung an die betroffenen Eltern vorgenommen wurde. Art. 33 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass die in dieser Vorschrift vorgesehene Rechtsbehelfsfrist nicht vom angerufenen Gericht verlängert werden kann.

 

3.

Die Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass sie in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dem nicht entgegensteht, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats Schutzmaßnahmen in Form einer Anordnung gegen eine Behörde eines anderen Mitgliedstaats erlässt, mit denen dieser Behörde untersagt wird, vor den Gerichten dieses anderen Mitgliedstaats ein Verfahren zur Adoption von Kindern, die sich dort aufhalten, einzuleiten oder fortzuführen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.