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Document 62010CJ0002

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 21. Juli 2011.
Azienda Agro-Zootecnica Franchini sarl und Eolica di Altamura Srl gegen Regione Puglia.
Vorabentscheidungsersuchen der Tribunale Amministrativo Regionale per la Puglia.
Umwelt – Richtlinie 92/43/EWG – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 79/409/EWG – Erhaltung der wildlebenden Vogelarten – Besondere Schutzgebiete, die zum europäischen ökologischen Netz Natura 2000 gehören – Richtlinien 2009/28/EG und 2001/77/EG – Erneuerbare Energiequellen – Nationale Regelung – Verbot der Errichtung von nicht zur Eigennutzung bestimmten Windenergieanlagen – Keine Umweltverträglichkeitsprüfung des Projekts.
Rechtssache C-2/10.

Sammlung der Rechtsprechung 2011 I-06561

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2011:502

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

21. Juli 2011(*)

„Umwelt – Richtlinie 92/43/EWG – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 79/409/EWG – Erhaltung der wildlebenden Vogelarten – Besondere Schutzgebiete, die zum europäischen ökologischen Netz Natura 2000 gehören – Richtlinien 2009/28/EG und 2001/77/EG – Erneuerbare Energiequellen – Nationale Regelung – Verbot der Errichtung von nicht zur Eigennutzung bestimmten Windenergieanlagen – Keine Umweltverträglichkeitsprüfung des Projekts“

In der Rechtssache C‑2/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per la Puglia (Italien) mit Entscheidung vom 23. September 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Januar 2010, in dem Verfahren

Azienda Agro-Zootecnica Franchini Sarl,

Eolica di Altamura Srl

gegen

Regione Puglia

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano sowie der Richter J.‑J. Kasel, A. Borg Barthet, M. Ilešič (Berichterstatter) und E. Levits,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Februar 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Azienda Agro-Zootecnica Franchini Sarl und der Eolica di Altamura Srl, vertreten durch S. Profeta und C. Rucireta, avvocati,

–        der Regione Puglia, vertreten durch L. A. Clarizio, L. Francesconi und M. Liberti, avvocati,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann und D. Recchia als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. April 2011

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG (ABl. L 140, S. 16, im Folgenden: Richtlinie 2009/28), der Richtlinie 2001/77/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2001 zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt (ABl. L 283, S. 33), der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206, S. 7, im Folgenden: Habitatrichtlinie) und der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. L 103, S. 1, im Folgenden: Vogelschutzrichtlinie).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Azienda Agro-Zootecnica Franchini Sarl (im Folgenden: Azienda Agro-Zootecnica Franchini) und der Eolica di Altamura Srl (im Folgenden: Eolica di Altamura) einerseits und der Regione Puglia (Region Apulien) andererseits über die Weigerung, die Errichtung nicht zur Eigennutzung bestimmter Windenergieanlagen auf Grundstücken, die zum Nationalpark Alta Murgia gehören, einem als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung (im Folgenden: GGB) sowie als besonderes Schutzgebiet (im Folgenden: BSG) ausgewiesenen Schutzgebiet, das zum europäischen ökologischen Netz Natura 2000 gehört, zu genehmigen, obwohl keine vorherige Prüfung der ökologischen Auswirkungen des Projekts auf das spezifisch betroffene Gebiet durchgeführt worden war.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Vogelschutzrichtlinie

3        Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Gebiete, die den in diesen Bestimmungen festgelegten ornithologischen Kriterien entsprechen, zu besonderen Schutzgebieten zu erklären.

4        Art. 4 Abs. 4 der Vogelschutzrichtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel, sofern sich diese auf die Zielsetzungen dieses Artikels erheblich auswirken, in den in den Absätzen 1 und 2 genannten Schutzgebieten zu vermeiden. Die Mitgliedstaaten bemühen sich ferner, auch außerhalb dieser Schutzgebiete die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume zu vermeiden.“

5        Nach Art. 14 der Vogelschutzrichtlinie können „[d]ie Mitgliedstaaten … strengere Schutzmaßnahmen ergreifen, als sie in dieser Richtlinie vorgesehen sind“.

 Habitatrichtlinie

6        Der dritte Erwägungsgrund der Habitatrichtlinie lautet:

„Hauptziel dieser Richtlinie ist es, die Erhaltung der biologischen Vielfalt zu fördern, wobei jedoch die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und regionalen Anforderungen berücksichtigt werden sollen. Diese Richtlinie leistet somit einen Beitrag zu dem allgemeinen Ziel einer nachhaltigen Entwicklung. Die Erhaltung der biologischen Vielfalt kann in bestimmten Fällen die Fortführung oder auch die Förderung bestimmter Tätigkeiten des Menschen erfordern.“

7        Art. 2 der Habitatrichtlinie bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat, beizutragen.

(2)      Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.

(3)      Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.“

8        Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Es wird ein kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer Schutzgebiete mit der Bezeichnung ‚Natura 2000‘ errichtet. Dieses Netz … muss den Fortbestand oder gegebenenfalls die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet gewährleisten.

Das Netz ‚Natura 2000‘ umfasst auch die von den Mitgliedstaaten aufgrund der [Vogelschutzrichtlinie] ausgewiesenen besonderen Schutzgebiete.“

9        In Art. 4 der Habitatrichtlinie ist das Verfahren zur Einrichtung des Netzes Natura 2000 und zur Ausweisung der besonderen Schutzgebiete durch die Mitgliedstaaten geregelt.

10      Art. 6 der Habitatrichtlinie, der die Erhaltungsmaßnahmen für diese Gebiete regelt, bestimmt:

„…

(2)      Die Mitgliedstaaten treffen die geeigneten Maßnahmen, um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten.

(3)      Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich des Absatzes 4 stimmen die zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie festgestellt haben, dass das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.

(4)      Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und ist eine Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission über die von ihm ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen.

…“

11      Art. 7 der Habitatrichtlinie bestimmt:

„Was die nach Artikel 4 Absatz 1 der [Vogelschutzrichtlinie] zu besonderen Schutzgebieten erklärten oder nach Artikel 4 Absatz 2 derselben Richtlinie als solche anerkannten Gebiete anbelangt, so treten die Verpflichtungen nach Artikel 6 Absätze 2, 3 und 4 der vorliegenden Richtlinie ab dem Datum für die Anwendung der vorliegenden Richtlinie bzw. danach ab dem Datum, zu dem das betreffende Gebiet von einem Mitgliedstaat entsprechend der [Vogelschutzrichtlinie] zum besonderen Schutzgebiet erklärt oder als solches anerkannt wird, an die Stelle der Pflichten, die sich aus Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der [Vogelschutzrichtlinie] ergeben.“

 Richtlinie 2001/77

12      Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/77 heißt es:

„… [D]ie Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen [ist] aus Gründen der Sicherheit und Diversifizierung der Energieversorgung, des Umweltschutzes und des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts für die [Union] von hoher Priorität. …“

13      Gemäß Art. 1 wird mit der Richtlinie 2001/77 bezweckt, „eine Steigerung des Anteils erneuerbarer Energiequellen an der Stromerzeugung im Elektrizitätsbinnenmarkt zu fördern und eine Grundlage für einen entsprechenden künftigen Gemeinschaftsrahmen zu schaffen“.

14      Art. 6 („Verwaltungsverfahren“) der Richtlinie 2001/77 sieht in Abs. 1 vor:

„Die Mitgliedstaaten oder die von den Mitgliedstaaten benannten zuständigen Stellen bewerten den bestehenden gesetzlichen und sonstigen rechtlichen Rahmen hinsichtlich der für Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen geltenden Genehmigungsverfahren oder sonstigen Verfahren gemäß Artikel 4 der Richtlinie 96/92/EG mit dem Ziel,

–        rechtliche und andere Hemmnisse, die dem Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen entgegenstehen, abzubauen,

–        die Verfahren auf der entsprechenden Verwaltungsebene zu vereinfachen und zu beschleunigen,

–        sicherzustellen, dass die Vorschriften objektiv, transparent und nichtdiskriminierend sind und den Besonderheiten der verschiedenen Technologien, bei denen erneuerbare Energiequellen genutzt werden, gebührend Rechnung tragen.“

 Richtlinie 2009/28

15      Art. 13 („Verwaltungsverfahren, Rechtsvorschriften und Regelwerke“) der Richtlinie 2009/28 bestimmt in Abs. 1:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass einzelstaatliche Vorschriften für die Genehmigungs‑, Zertifizierungs‑ und Zulassungsverfahren, die auf Anlagen zur Erzeugung von Elektrizität, Wärme oder Kälte aus erneuerbaren Energiequellen und die angegliederten Infrastrukturen der Übertragungs‑ und Verteilernetze sowie auf den Vorgang der Umwandlung von Biomasse in Biokraftstoffe oder sonstige Energieprodukte angewandt werden, verhältnismäßig und notwendig sind.

Die Mitgliedstaaten ergreifen insbesondere angemessene Maßnahmen, um sicherzustellen, dass

c)      die Verwaltungsverfahren auf der geeigneten Verwaltungsebene gestrafft und beschleunigt werden;

d)      die Vorschriften für Genehmigung, Zertifizierung und Zulassung objektiv, transparent und verhältnismäßig sind, nicht zwischen Antragstellern diskriminieren und den Besonderheiten der einzelnen Technologien für erneuerbare Energie vollständig Rechnung tragen;

f)      gegebenenfalls vereinfachte und weniger aufwändige Genehmigungsverfahren, unter anderem der Ersatz des Genehmigungsverfahrens durch eine einfache Mitteilung, falls dies im Rahmen des einschlägigen Rechtsrahmens zulässig ist, für kleinere Projekte und gegebenenfalls für dezentrale Anlagen zur Produktion von Energie aus erneuerbaren Quellen eingeführt werden.“

16      Gemäß Art. 26 wurden mit der Richtlinie 2009/28 Art. 2, Art. 3 Abs. 2 und die Art. 4 bis 8 der Richtlinie 2001/77 mit Wirkung vom 1. April 2010 aufgehoben. Mit Wirkung vom 1. Januar 2012 wird die Richtlinie 2001/77 vollständig aufgehoben.

17      Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2009/28 bestimmt:

„Unbeschadet des Artikels 4 Absätze 1, 2 und 3 setzen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften in Kraft, um dieser Richtlinie bis zum 5. Dezember 2010 nachzukommen.

…“

 Nationales Recht

18      Die Richtlinie 2001/77 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 387 (Decreto legislativo n. 387) vom 29. Dezember 2003 (GURI Nr. 25 vom 31. Januar 2004, Supplemento ordinario zu GURI Nr. 17) in der Fassung des Gesetzes Nr. 244 (legge n. 244) vom 24. Dezember 2007 (GURI Nr. 300 vom 28. Dezember 2007, Supplemento ordinario zu GURI Nr. 285), dessen Art. 12 den Inhalt von Art. 6 der Richtlinie bezüglich der Genehmigungsverfahren für Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen übernimmt, in italienisches Recht umgesetzt.

19      Dieser Art. 12 („Rationalisierung und Vereinfachung der Genehmigungsverfahren“) sieht vor:

„…

Die Errichtung und der Betrieb von Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen … unterliegen einer einheitlichen Genehmigung, die von der Region oder den beauftragten Provinzen unter Beachtung der geltenden Regelungen im Bereich des Umweltschutzes, des Landschaftsschutzes sowie des Schutzes des historisch-künstlerischen Erbes erteilt wird, die erforderlichenfalls eine Ausnahme von der Regelung für die Raumordnung darstellt …

… In Anwendung der Leitlinien [für den Ablauf des Verfahrens nach Abs. 3] können die Regionen Gebiete ausweisen, die sich nicht für bestimmte Arten von Anlagen eignen.“

20      Art. 1 Abs. 1226 des Haushaltsgesetzes Nr. 296 (legge finanziaria n. 296) vom 27. Dezember 2006 (GURI Nr. 299 vom 27. Dezember 2006, Supplemento ordinario zu GURI Nr. 244) ermächtigt den Minister für Umwelt, Landschafts‑ und Meeresschutz, durch Dekret einheitliche Mindestkriterien festzulegen, auf deren Grundlage die Regionen Erhaltungsmaßnahmen erlassen müssen.

21      Mit einem Dekret des Ministeriums für Umwelt, Landschafts‑ und Meeresschutz vom 17. Oktober 2007 mit dem Titel „Einheitliche Mindestkriterien für die Bestimmung von Erhaltungsmaßnahmen in besonderen Erhaltungsgebieten (BEG) und besonderen Schutzgebieten (BSG)“ (GURI Nr. 258 vom 6. November 2007, im Folgenden: Dekret vom 17. Oktober 2007) wurden die Regionen und Autonomen Provinzen verpflichtet, die Errichtung neuer, nicht zur Eigenerzeugung bestimmter Windenergieanlagen in allen BSG zu verbieten.

22      Das Dekret vom 17. Oktober 2007 bestimmt in Art. 5 Abs. 1 („Einheitliche Mindestkriterien für die Bestimmung von Erhaltungsmaßnahmen in BSG“):

„Die Regionen und Autonomen Provinzen erlassen für alle BSG mit der Maßnahme nach Art. 3 Abs. 1 dieses Dekrets folgende Verbote:

(1)      Errichtung neuer Windenergieanlagen, mit Ausnahme der Anlagen, für die zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Dekrets das Genehmigungsverfahren durch die Einreichung des Projekts eingeleitet ist. Die zuständigen Behörden müssen nach Anhörung des INFS [Istituto nazionale per la fauna selvatica, Nationales Institut für wildlebende Tiere] die Auswirkungen des Projekts unter Berücksichtigung des Lebenszyklus der Arten, für die das Gebiet ausgewiesen wurde, bewerten. Ferner sind Austausch- und Modernisierungsmaßnahmen, auch technischer Natur, mit denen keine Verstärkung der Auswirkungen auf das Gebiet im Hinblick auf die Erhaltungsziele des BSG verbunden ist, sowie die zur Eigenerzeugung bestimmten Anlagen mit einer Gesamtleistung bis 20 kW ausgenommen …“

 Regelung der Regione Puglia

23      Art. 2 des Regionalgesetzes Nr. 31 vom 21. Oktober 2008 mit Vorschriften zur Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen, zur Verringerung von Schadstoffimmissionen und zu Umweltfragen (im Folgenden: Regionalgesetz Nr. 31) bestimmt:

„…

(6)      In Anwendung der Art. 6 und 7 der [Habitatrichtlinie] sowie der Art. 4 und 6 des diese Richtlinie umsetzenden Dekrets des Präsidenten der Republik Nr. 357 vom 8. September 1997 in der … geänderten Fassung ist die Errichtung von nicht zur Eigennutzung bestimmten Windenergieanlagen in GGB und BSG, die das … Netz Natura 2000 bilden, unzulässig.

(8)      Das in den Abs. 6 und 7 vorgesehene Verbot gilt auch für eine 200 m breite Pufferzone.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

24      Eolica di Altamura macht geltend, sie habe von der Alburni Srl die Rechte an einem Projekt zur Errichtung eines nicht zur Eigennutzung bestimmten Windparks auf Grundstücken von Azienda Agro-Zootecnica Franchini im Bereich des Nationalparks Alta Murgia, eines als GGB und BSG „pSIC/ZPS IT 9120007 Murgia Alta“ ausgewiesenen Schutzgebiets, erworben.

25      Der an die Parkverwaltung gerichtete Antrag auf Unbedenklichkeitsbescheinigung und der an die Regione Puglia gerichtete Antrag auf Prüfung der Umweltverträglichkeit wurden mit Bescheiden der Parkverwaltung vom 1. September 2006 und der Regione Puglia vom 4. Juli 2007 abgelehnt.

26      Letztere verwies zur Begründung auf die einschlägigen Regionalvorschriften, nach denen zum einen die in der Habitat‑ und der Vogelschutzrichtlinie vorgesehenen GGB und BSG im Hinblick auf die Wahl des Standorts von Windenergieanlagen als völlig „ungeeignet“ gälten und zum anderen diese GGB und BSG, solange kein Raumordnungsplan für Windenergieanlagen vorliege, als „ungeeignet“ gälten.

27      Azienda Agro-Zootecnica Franchini und Eolica di Altamura erhoben Klage beim Tribunale amministrativo regionale per la Puglia gegen die ablehnenden Entscheidungen und die einschlägigen Verordnungsbestimmungen der Regione Puglia.

28      Mit Urteil vom 17. September 2008 gab dieses Gericht der Klage statt und hob infolgedessen die Verordnungsbestimmungen auf, mit denen die Regione Puglia die Errichtung von Windenergieanlagen in den in der Habitat‑ und der Vogelschutzrichtlinie vorgesehenen GGB und BSG uneingeschränkt verboten hatte.

29      Während des Verfahrens, das mit diesem Urteil abgeschlossen wurde, billigte die Regione Puglia jedoch die Regionalverordnung Nr. 15 vom 18. Juli 2008, die ebenfalls Erhaltungsmaßnahmen im Sinne dieser Richtlinien und des Dekrets Nr. 357 zum Gegenstand hatte.

30      In dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Ausgangsverfahren begehren Azienda Agro-Zootecnica Franchini und Eolica di Altamura daher die Nichtigerklärung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. n, Art. 4 und Art. 4 bis der Regionalverordnung Nr. 15, wonach in allen BSG, die das Netz Natura 2000 bilden, und zwar auch in einer Pufferzone von bis zu 500 m, die Errichtung neuer Windenergieanlagen verboten ist. Die Unternehmen rügen insbesondere einen Verstoß gegen die in der Richtlinie 2001/77 vorgesehenen Grundsätze.

31      Die Regione Puglia beantragte die Abweisung der Klage als unzulässig oder unbegründet.

32      Während des Ausgangsverfahrens trat das Regionalgesetz Nr. 31 in Kraft. Es sieht in Art. 2 Abs. 6 das Verbot der Errichtung neuer nicht zur Eigennutzung bestimmter Windenergieanlagen in allen Gebieten des Natura-2000-Netzes vor, also auch in den gemäß der Habitatrichtlinie ausgewiesenen Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung.

33      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass Art. 2 Abs. 6 des Regionalgesetzes auf das von Azienda Agro-Zootecnica Franchini und Eolica di Altamura vorgelegte Windparkprojekt anwendbar sei. Diese Bestimmung finde nämlich unabhängig von jeder spezifischen Umweltverträglichkeitsprüfung auf den Genehmigungs- und Umweltverträglichkeitsprüfungsantrag Anwendung, den diese Unternehmen nach Inkrafttreten des Regionalgesetzes Nr. 31 (also nach dem 8. November 2008) gestellt hätten.

34      Unter diesen Umständen hat das Tribunale amministrativo regionale per la Puglia das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 1 Abs. 1226 des Gesetzes Nr. 296 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 des Dekrets vom 17. Oktober 2007 und Art. 2 Abs. 6 des Regionalgesetzes Nr. 31 mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den sich aus den Richtlinien 2001/77 und 2009/28 sowie der Vogelschutzrichtlinie und der Habitatrichtlinie ergebenden Grundsätzen, vereinbar, soweit damit die Errichtung nicht zur Eigennutzung bestimmter Windenergieanlagen in BSG und GGB, die das Natura-2000-Netz bilden, absolut und unterschiedslos verboten wird, anstatt dass eine eigens dafür vorgesehene Umweltverträglichkeitsprüfung, mit der die Auswirkungen des Einzelvorhabens auf das von der Errichtung betroffene Gebiet untersucht werden, durchgeführt wird?

 Zur Vorlagefrage

35      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens zwar nicht befugt ist, über die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Unionsrecht zu entscheiden, dem vorlegenden Gericht jedoch alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben kann, die es diesem ermöglichen, die Frage der Vereinbarkeit bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens zu beurteilen (vgl. insbesondere Urteile vom 21. September 2000, Borawitz, C‑124/99, Slg. 2000, I‑7293, Randnr. 17, vom 8. Juni 2006, WWF Italia u. a., C‑60/05, Slg. 2006, I‑5083, Randnr. 18, und vom 22. Mai 2008, citiworks, C‑439/06, Slg. 2008, I‑3913, Randnr. 21).

36      Unter diesem Blickwinkel ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen möchte, ob die Habitat- und die Vogelschutzrichtlinie sowie die Richtlinien 2001/77 und 2009/28 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung entgegenstehen, die die Errichtung von nicht zur Eigennutzung bestimmten Windenergieanlagen in zum Natura-2000-Netz gehörenden Gebieten ohne vorherige Prüfung der ökologischen Auswirkungen des Projekts auf das spezifisch betroffene Gebiet verbietet.

 Zur Auslegung der Habitat- und der Vogelschutzrichtlinie

37      Zur Beantwortung der vorgelegten Frage ist erstens zu prüfen, ob die Vogelschutz‑ und die Habitatrichtlinie und insbesondere Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen.

38      Nach Ansicht der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens verstößt diese Art von Regelung gegen das mit der Habitat- und der Vogelschutzrichtlinie eingeführte System. Die mit diesen Richtlinien geschaffene Schutzregelung verbiete nicht jede Tätigkeit in den zum Natura-2000-Netz gehörenden Gebieten, sondern mache nur die Genehmigung dieser Tätigkeiten von der Durchführung einer vorherigen Umweltverträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie abhängig. Eine Regelung der im Ausgangsverfahren fraglichen Art, mit der die Errichtung neuer Windenergieanlagen in zu diesem Netz gehörenden Gebieten ohne vorherige Prüfung des Plans oder Projekts in einem bestimmten Gebiet uneingeschränkt verboten werde, habe daher zur Folge, dass das mit der Habitat‑ und der Vogelschutzrichtlinie eingeführte System ausgehöhlt werde.

39      Die Kommission und die Regione Puglia treten diesem Vorbringen entgegen. Sie machen geltend, Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie sei nicht anwendbar, wenn ein Plan oder ein Projekt in einem zum Natura-2000-Netz gehörenden Gebiet verboten sei. Der Umstand, dass bestimmte Tätigkeiten in den zu diesem Netz gehörenden Gebieten genehmigungsfähig seien, bedeute jedoch nicht, dass diese Eingriffe stets erfolgen müssten. Außerdem, so die Kommission, ermächtige Art. 193 AEUV die Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen verstärkte Umweltschutzmaßnahmen beizubehalten oder zu ergreifen.

40      Eingangs ist, wie die Parteien des Ausgangsverfahrens geltend gemacht haben, festzustellen, dass die Schutzregelung, die die Habitat- und die Vogelschutzrichtlinie für die zum Natura-2000-Netz gehörenden Gebiete schaffen, nicht jede menschliche Tätigkeit in diesen Gebieten untersagt, sondern nur die Genehmigung dieser Tätigkeiten von einer vorherigen Prüfung der Umweltverträglichkeit des betreffenden Projekts abhängig macht. So erfordern nach Art. 6 Abs. 3 Satz 1 der Habitatrichtlinie – der gemäß Art. 7 dieser Richtlinie auf die nach Art. 4 Abs. 1 der Vogelschutzrichtlinie ausgewiesenen oder nach Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie in ähnlicher Weise anerkannten Gebiete anwendbar ist – Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebiets in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen.

41      Ferner geht aus ständiger Rechtsprechung hervor, dass die in Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie vorgesehenen Umweltschutzmaßnahmen ausgelöst werden, wenn die Wahrscheinlichkeit oder die Gefahr besteht, dass Pläne oder Projekte das betreffende Gebiet erheblich beeinträchtigen (vgl. insbesondere Urteile vom 7. September 2004, Waddenvereniging und Vogelbeschermingsvereniging, C‑127/02, Slg. 2004, I‑7405, Randnrn. 40 und 43, und vom 4. Oktober 2007, Kommission/Italien, C‑179/06, Slg. 2007, I‑8131, Randnr. 33).

42      Somit erweist es sich, dass der Unionsgesetzgeber einen Schutzmechanismus schaffen wollte, der nur dann ausgelöst wird, wenn ein Plan oder ein Projekt eine Gefahr für ein zum Natura-2000-Netz gehörendes Gebiet darstellt.

43      In Anbetracht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob die Habitat- und die Vogelschutzrichtlinie einer nationalen und regionalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen.

44      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass eine solche Regelung das Verbot enthält, neue nicht zur Eigennutzung bestimmte Windenergieanlagen in den zum Natura-2000-Netz gehörenden GGB und BSG zu errichten. Dieses Verbot gilt auch für eine Pufferzone von 200 m.

45      Diese Regelung hat zur Folge, dass Pläne oder Projekte für eine neue Windenergieanlage in einem solchen Gebiet ohne Weiteres abgelehnt werden, und zwar ohne dass eine Prüfung der ökologischen Auswirkungen des spezifischen Plans oder Projekts auf das konkrete Gebiet durchgeführt würde.

46      Somit ist festzustellen, dass eine solche Regelung ein strengeres Schutzsystem für zum Natura-2000-Netz gehörende Gebiete festlegt als das mit der Habitat‑ und der Vogelschutzrichtlinie geschaffene.

47      Infolgedessen ist, wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zur Beantwortung der Vorlagefrage zu bestimmen, ob und unter welchen Bedingungen das Unionsrecht die Mitgliedstaaten ermächtigt, strengere Schutzmaßnahmen als die in diesen Richtlinien vorgesehenen einzuführen.

48      In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass mit der Unionsregelung im Umweltbereich keine vollständige Harmonisierung angestrebt wird (vgl. insbesondere Urteile vom 22. Juni 2000, Fornasar u. a., C‑318/98, Slg. 2000, I‑4785, Randnr. 46, und vom 14. April 2005, Deponiezweckverband Eiterköpfe, C‑6/03, Slg. 2005, I‑2753, Randnr. 27).

49      Gemäß Art. 14 der Vogelschutzrichtlinie können die Mitgliedstaaten strengere Schutzmaßnahmen ergreifen, als sie in dieser Richtlinie vorgesehen sind.

50      Die Habitatrichtlinie enthält keine Art. 14 der Vogelschutzrichtlinie entsprechende Bestimmung. Da diese Richtlinie jedoch auf der Grundlage von Art. 192 AEUV erlassen wurde, können die Mitgliedstaaten nach Art. 193 AEUV verstärkte Schutzmaßnahmen ergreifen. Diese Vorschrift stellt für solche Maßnahmen nur die Voraussetzung auf, dass sie mit dem AEUV vereinbar sind und der Kommission notifiziert werden. Der Gerichtshof hat daher entschieden, „dass, wenn im Rahmen der gemeinschaftlichen Umweltpolitik mit einer nationalen Maßnahme dieselben Ziele wie mit einer Richtlinie verfolgt werden, eine Verschärfung der in dieser Richtlinie festgelegten Mindestanforderungen nach Artikel 176 EG und unter den dort aufgestellten Bedingungen vorgesehen und zulässig ist“ (vgl. Urteil Deponiezweckverband Eiterköpfe, Randnr. 58).

51      Sowohl aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten als auch aus den Erklärungen der Verfahrensbeteiligten in der mündlichen Verhandlung geht hervor, dass mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen und regionalen Regelung in erster Linie bezweckt wird, die zum Natura-2000-Netz gehörenden Gebiete zu erhalten und insbesondere die Lebensräume der wildlebenden Vögel gegen die Gefahren zu schützen, die Windenergieanlagen für sie darstellen können.

52      Daraus folgt, dass mit einer Regelung der im Ausgangsverfahren fraglichen Art, die zum Schutz der wildlebenden Vogelarten, die in den zum Natura-2000-Netz gehörenden Schutzgebieten leben, die Errichtung neuer Windenergieanlagen in diesen Gebieten uneingeschränkt verbietet, die gleichen Ziele wie mit der Habitatrichtlinie verfolgt werden. Soweit mit ihr daher eine strengere Regelung als diejenige des Art. 6 dieser Richtlinie eingeführt wird, stellt sie eine verstärkte Schutzmaßnahme im Sinne von Art. 193 AEUV dar.

53      Zwar geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass die italienische Regierung diese Maßnahmen der Kommission gemäß Art. 193 AEUV notifiziert hätte. Diese Vorschrift verpflichtet die Mitgliedstaaten allerdings, der Kommission die verstärkten Schutzmaßnahmen zu notifizieren, die sie im Umweltbereich beibehalten oder ergreifen möchten, sie macht aber die Umsetzung der beabsichtigten Maßnahmen nicht vom Einverständnis oder dem fehlenden Widerspruch der Kommission abhängig. In diesem Zusammenhang ist daher, wie der Generalanwalt in Nr. 38 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, weder dem Wortlaut noch dem Zweck von Art. 193 AEUV zu entnehmen, dass die Nichteinhaltung der den Mitgliedstaaten nach dieser Vorschrift obliegenden Notifizierungspflicht für sich allein die Rechtswidrigkeit der erlassenen verstärkten Schutzmaßnahmen nach sich zieht (vgl. entsprechend Urteile vom 13. Juli 1989, Enichem Base u. a., 380/87, Slg. 1989, 2491, Randnrn. 20 bis 23, vom 23. Mai 2000, Sydhavnens Sten & Grus, C‑209/98, Slg. 2000, I‑3743, Randnr. 100, und vom 6. Juni 2002, Sapod Audic, C‑159/00, Slg. 2002, I‑5031, Randnrn. 60 bis 63).

54      Die mit der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen und regionalen Regelung eingeführten verstärkten Schutzmaßnahmen müssen jedoch auch den übrigen Bestimmungen des AEU-Vertrags entsprechen.

55      Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens machen insoweit geltend, dass das Ziel der Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen, wie es für die Politik der Union in Art. 194 Abs. 1 Buchst. c AEUV aufgestellt werde, Vorrang vor den mit der Habitat- und der Vogelschutzrichtlinie verfolgten Umweltschutzzielen haben müsse.

56      Hierzu genügt der Hinweis, dass nach Art. 194 Abs. 1 AEUV die Energiepolitik der Union die Notwendigkeit der Erhaltung und Verbesserung der Umwelt berücksichtigen muss.

57      Außerdem kann eine Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren fragliche, nach der nur die Errichtung neuer nicht zur Eigennutzung bestimmter Windenergieanlagen in zum Natura-2000-Netz gehörenden Gebieten verboten ist, zur Eigennutzung bestimmte Anlagen mit einer Leistung bis zu 20 kW aber befreit werden können, wegen ihrer begrenzten Tragweite das Ziel der Union, neue und erneuerbare Energien zu entwickeln, nicht gefährden.

58      Somit stehen die Vogelschutz- und die Habitatrichtlinie und insbesondere Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie einer nationalen verstärkten Schutzmaßnahme nicht entgegen, die ein uneingeschränktes Verbot der Errichtung nicht zur Eigennutzung bestimmter Windenergieanlagen in zum Natura-2000-Netz gehörenden Gebieten ohne Prüfung der ökologischen Auswirkungen des spezifischen Projekts oder Plans auf das betroffene zu diesem Netz gehörende Gebiet vorsieht.

 Zur Auslegung der Richtlinien 2001/77 und 2009/28

59      Zweitens ist zu prüfen, ob die Richtlinien 2001/77 und 2009/28 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen.

60      Was zum einen die Richtlinie 2001/77 angeht, so wird nach Art. 1 mit ihr bezweckt, eine Steigerung des Anteils erneuerbarer Energiequellen an der Stromerzeugung im Elektrizitätsbinnenmarkt zu fördern und eine Grundlage für einen entsprechenden künftigen Gemeinschaftsrahmen zu schaffen.

61      Zu diesem Zweck verpflichtet Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2001/77 die Mitgliedstaaten, den bestehenden gesetzlichen und sonstigen rechtlichen Rahmen hinsichtlich der für Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen geltenden Genehmigungsverfahren oder sonstigen Verfahren zu bewerten. Dieses Bewertungsverfahren dient Zielen der Vereinfachung und des Abbaus von Hindernissen in der Verwaltung sowie der Prüfung, dass die Vorschriften objektiv, transparent und nichtdiskriminierend sind.

62      Das vorlegende Gericht stellt jedoch die Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen und regionalen Regelung mit diesen Kriterien in Frage. In der mündlichen Verhandlung haben die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens ferner ausgeführt, dass eine solche Regelung Windenergieanlagen im Vergleich zu anderen gewerblichen Tätigkeiten, die der Regelung der vorherigen Prüfung gemäß Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie unterlägen, diskriminiere.

63      Hierzu ist zunächst festzustellen, dass ein uneingeschränktes Verbot der Errichtung neuer Windenergieanlagen in zum Natura-2000-Netz gehörenden Gebieten, das auf einer Gesetzesbestimmung beruht, nicht gegen die Ziele der Vereinfachung und des Abbaus von Hindernissen in der Verwaltung verstößt und grundsätzlich ein hinreichend transparentes und objektives Verfahren darstellt.

64      Was sodann den diskriminierenden Charakter der Maßnahme betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das Diskriminierungsverbot in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2001/77 lediglich der besondere Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes ist, der zu den Grundprinzipien des Unionsrechts gehört und der es verbietet, vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte gleich zu behandeln, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. insbesondere Urteile vom 5. Oktober 1994, Deutschland/Rat, C‑280/93, Slg. 1994, I‑4973, Randnr. 67, vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld, C‑303/05, Slg. 2007, I‑3633, Randnr. 56, und vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, Slg. 2008, I‑9895, Randnr. 23).

65      Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die unterschiedliche Behandlung von Projekten zum Bau von Windenergieanlagen und Projekten im Zusammenhang mit anderen gewerblichen Tätigkeiten, die für zum Natura-2000-Netz gehörende Gebiete eingereicht werden, auf bestehende objektive Unterschiede zwischen diesen beiden Projektarten gestützt werden kann.

66      Dabei muss dieses Gericht die Besonderheiten von Windenergieanlagen berücksichtigen, nämlich insbesondere die Gefahren, die diese für die Vögel darstellen können, wie die Gefahr von Zusammenstößen, Störungen und Verdrängungen, die Barrierewirkung, die die Vögel dazu zwingt, ihre Flugrichtung zu ändern, oder den Verlust bzw. die Verschlechterung der Lebensräume.

67      Was zum anderen die Richtlinie 2009/28 anbelangt, so stellen die Mitgliedstaaten nach Art. 13 Abs. 1 „sicher, dass einzelstaatliche Vorschriften für die Genehmigungs‑, Zertifizierungs- und Zulassungsverfahren, die auf Anlagen zur Erzeugung von Elektrizität, Wärme oder Kälte aus erneuerbaren Energiequellen … angewandt werden, verhältnismäßig und notwendig sind“. Die Mitgliedstaaten müssen jedoch angemessene Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass diese Vorschriften „objektiv, transparent und verhältnismäßig sind, nicht zwischen Antragstellern diskriminieren und den Besonderheiten der einzelnen Technologien für erneuerbare Energie vollständig Rechnung tragen“.

68      Zwar war, wie die Kommission in ihren Erklärungen ausgeführt hat, die Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2009/28, die auf den 5. Dezember 2010 festgesetzt war, zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorlageentscheidung am 23. September 2009 noch nicht abgelaufen.

69      Wie jedoch der Gerichtshof bereits entschieden hat, ist, da die Richtlinie 2009/28 zum im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt bereits in Kraft getreten war, anzunehmen, dass die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung dieser Richtlinie von Nutzen sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2009, VTB-VAB und Galatea, C‑261/07 und C‑299/07, Slg. 2009, I‑2949, Randnrn. 29 bis 41).

70      Zum einen können nach der Rechtsprechung nämlich nicht nur die nationalen Vorschriften in den Geltungsbereich einer Richtlinie fallen, die als ausdrückliches Ziel die Umsetzung der Richtlinie verfolgen, sondern – vom Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie an – auch die schon vorher bestehenden nationalen Vorschriften, die geeignet sind, die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit der Richtlinie zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2006, Cordero Alonso, C‑81/05, Slg. 2006, I‑7569, Randnr. 29).

71      Zum anderen dürfen nach ständiger Rechtsprechung die Mitgliedstaaten, an die die Richtlinie gerichtet ist, während der Frist für deren Umsetzung jedenfalls keine Vorschriften erlassen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich zu gefährden (Urteile vom 18. Dezember 1997, Inter-Environnement Wallonie, C‑129/96, Slg. 1997, I‑7411, Randnr. 45, vom 8. Mai 2003, ATRAL, C‑14/02, Slg. 2003, I‑4431, Randnr. 58, und vom 22. November 2005, Mangold, C‑144/04, Slg. 2005, I‑9981, Randnr. 67).

72      Aus diesen Gründen ist entgegen dem Vorbringen der Kommission der Teil der Frage des vorlegenden Gerichts zu beantworten, der die Auslegung der Richtlinie 2009/28 insbesondere im Hinblick auf den mit deren Art. 13 für Verwaltungsverfahren zur Genehmigung von Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien eingeführten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betrifft.

73      Nach dem in Art. 13 der Richtlinie 2009/28 verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, dürfen die von den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die verursachten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. insbesondere Urteile vom 13. November 1990, Fedesa u. a., C‑331/88, Slg. 1990, I‑4023, Randnr. 13, und vom 5. Oktober 1994, Crispoltoni u. a., C‑133/93, C‑300/93 und C‑362/93, Slg. 1994, I‑4863, Randnr. 41).

74      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die Verhältnismäßigkeit der fraglichen nationalen Maßnahme zu prüfen. Dieses Gericht muss dabei insbesondere berücksichtigen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung auf Windenergieanlagen beschränkt ist und andere Formen der Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen wie Photovoltaikanlagen ausgenommen sind. Außerdem soll das Verbot ausschließlich auf neue Windenergieanlagen zu gewerblichen Zwecken Anwendung finden, da zur Eigennutzung bestimmte Anlagen mit einer Leistung bis zu 20 kW nicht unter dieses Verbot fallen.

75      Nach alledem sind die Habitat- und die Vogelschutzrichtlinie sowie die Richtlinien 2001/77 und 2009/28 dahin auszulegen, dass sie einer Regelung nicht entgegenstehen, die die Errichtung nicht zur Eigennutzung bestimmter Windenergieanlagen in zum Natura-2000-Netz gehörenden Gebieten ohne vorherige Prüfung der ökologischen Auswirkungen des Projekts auf das spezifisch betroffene Gebiet verbietet, sofern die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit gewahrt sind.

 Kosten

76      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, die Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, die Richtlinie 2001/77/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2001 zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt und die Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung nicht entgegenstehen, die die Errichtung nicht zur Eigennutzung bestimmter Windenergieanlagen in zum europäischen ökologischen Netz Natura 2000 gehörenden Gebieten ohne vorherige Prüfung der ökologischen Auswirkungen des Projekts auf das spezifisch betroffene Gebiet verbietet, sofern die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit gewahrt sind.

Unterschriften


*Verfahrenssprache: Italienisch.

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