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Document 52011SC0581

ARBEITSDOKUMENT DER KOMMISSIONSDIENSTSTELLEN Zusammenfassung der Folgenabschätzung Begleitdokument zum / zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Stärkung des Opferschutzes in der EU

/* SEC/2011/0581 endg. */

52011SC0581

ARBEITSDOKUMENT DER KOMMISSIONSDIENSTSTELLEN Zusammenfassung der Folgenabschätzung Begleitdokument zum / zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Stärkung des Opferschutzes in der EU /* SEC/2011/0581 endg. */


1. Kontext und Verfahren

Im Stockholmer Programm (2010-2014) rief der Europäische Rat dazu auf, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um die Bedürfnisse von Opfern von Straftaten ins Zentrum unserer Rechtssysteme zu stellen. Das wurde im Aktionsplan der Kommission zur Umsetzung des Stockholmer Programms erneut bekräftigt. In Anhang I des Arbeitsprogramms der Kommission für 2011 sind die Rechte und die Unterstützung von Opfern von Straftaten als strategische Initiative aufgelistet. Das Europäische Parlament hat dem Rat zudem empfohlen, einen umfassenden Rechtsrahmen zu beschließen, der Opfern von Verbrechen bestmöglichen Schutz bietet. Darüber hinaus möchte die Kommission laut ihrem Bericht über die Unionsbürgerschaft vom 27. Oktober 2010 die Hindernisse für die Ausübung der Rechte von Unionsbürgern beseitigen, indem sie den persönlichen Rechten auf EU-Ebene mehr Substanz verleiht. Die Stärkung der Opferrechte sowie die Stärkung der Verfahrensrechte verdächtigter und unter Anklage stehender Personen in Strafsachen ist in diesem Sinne.

Die Probleme, Zielsetzungen und politischen Optionen stützen sich auf das Ergebnis einer öffentlichen Konsultation, zweier Studien externer Berater und das Knowhow in der Kommission. Außerdem wurde eine dienststellenübergreifende Lenkungsgruppe eingesetzt.

2. Problemstellung

In Europa gibt es ein beträchtliches Viktimisierungsproblem – jährlich sind ca. 15% der EU-Bevölkerung unmittelbare Opfer von Straftaten[1]. Die Folgenabschätzung geht auf die Qualität der Behandlung von Opfern nach der Straftat und während der anschließenden Strafverfahren sowie auf ihr Recht auf Anwendung derselben Mindeststandards ein. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Opfer oder ihrem Wohnsitzland schließt Letzteres den nichtdiskriminierenden Zugang zur Justiz in allen EU-Mitgliedstaaten ein.

Mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags bilden neue strafrechtliche Bestimmungen eine klare Rechtsgrundlage für die EU, zur Gewährleistung des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen Mindestvorschriften für Opferrechte einzuführen. Das bedeutet, dass die Justizbehörden in die Standards von Fairness und Gerechtigkeit der anderen Vertrauen haben und die Unionsbürger darauf vertrauen können sollten, dass, - auch wenn sie auf Reisen sind oder im Ausland leben, - dieselben Mindeststandards für sie gelten.

Heute besteht in den meisten Mitgliedstaaten ein gewisser Schutz und eine gewisse Unterstützung für Opfer von Straftaten, aber die Rolle und die Bedürfnisse der Opfer in Strafverfahren werden in der Regel in den Rechtssystemen noch immer nicht ausreichend berücksichtigt. Personen, die in Europa einer Straftat zum Opfer fallen, haben nicht die Gewähr, dass sie respektvoll behandelt werden, geeignete Unterstützung und angemessenen Schutz oder Zugang zu den Basiselementen der Justiz erhalten. Deshalb müssen die Mitgliedstaaten die Standards für Opferrechte entsprechend den bereits durch internationale Instrumente und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) festgelegten Standards anheben.

Die EU hat die Opferrechte in Strafverfahren bereits in geltenden Rechtsvorschriften geregelt. Zielsetzung und Anwendungsbereich dieser Rechtsvorschriften sind zwar immer noch relevant, aber die Sicht der Gesellschaft im Hinblick auf die Opfer hat sich gewandelt, und neue Ziele sind zum Vorschein getreten, auf die eingegangen werden muss. Hinzu kommt, dass die Rechtsvorschrift nicht effizient umgesetzt wurde. Aus diesem Grund ist die geltende Rechtsvorschrift der EU nicht geeignet, auf die Bedürfnisse der Opfer einzugehen.

Die ermittelten Bereiche fallen unter die beiden, nachstehend detaillierten Probleme:

Problem A: Die geltende EU-Rechtsvorschrift ist für die Verbesserung der Lage von Opfern nicht geeignet – sie ist vage, enthält keine konkreten Verpflichtungen. Sie ist nicht durchsetzbar und ist deshalb von den Mitgliedstaaten nur unzureichend umgesetzt worden.

Problem B: Auf die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten wird in den Mitgliedstaaten nicht ausreichend eingegangen –Opfer bekommen weder (1) Anerkennung und Respekt, noch (2) Schutz, (3) Unterstützung, (4) wirksamen Zugang zum Recht und (5) wirksamen Zugang zu Entschädigung und Schadensersatz.

Aus den Konsequenzen von Straftaten und der Nichterfüllung der Bedürfnisse von Opfern ergeben sich außerdem erhebliche versteckte Kosten, darunter bedeutende Kosten im Finanz- und Gesundheitsbereich.

2.1. Problem A – Die Rechtsvorschrift der EU ist für die Verbesserung der Lage von Opfern nicht geeignet

Die EU hat den Rahmenbeschluss 2001/220/JI über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (der "Rahmenbeschluss") und die Richtlinie 2004/80/EG zur Entschädigung der Opfer von Straftaten erlassen. Diese beiden Rechtsinstrumente sind von den Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Maße umgesetzt worden. Die Entschädigungsrichtlinie ist von den Mitgliedstaaten weitgehend umgesetzt worden, es ist aber noch genauer zu prüfen, inwieweit sie tatsächlich wirksam ist. Die Umsetzung des Rahmenbeschlusses ist hingegen nicht zufriedenstellend.

Obwohl der Geltungsbereich des Rahmenbeschlusses die meisten Rechte von Opfern aller Arten von Straftaten umfasst und insgesamt noch relevant ist, muss jede neue Maßnahme ein breiteres Spektrum an Rechten und Verpflichtungen der Mitgliedstaaten abdecken, da das Bewusstsein gewachsen ist und sich die Rechtskultur dahingehend wandelt, dass nicht nur auf die Rechte und Bedürfnisse der Angeklagten, sondern auch auf die der Opfer eingegangen werden muss. Dazu müssen die Rechtsvorschriften der EU für Opfer im Lichte neuer Forschungsergebnisse und Erkenntnisse insbesondere im Hinblick auf die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen und den Zugang zur Justiz aktualisiert werden.

Bezüglich der gewünschten Ergebnisse oder der Befriedigung der Bedürfnisse der Opfer und dem Erreichen von Mindeststandards für Opfer in der EU war der Rahmenbeschluss nicht effizient. Kein Mitgliedstaat kann für sich beanspruchen, den Rahmenbeschluss vollständig durchgeführt zu haben. Der Grund für die mangelnde Wirksamkeit dieser Rechtsvorschrift liegt in unklaren Formulierungen, fehlenden konkreten Verpflichtungen und fehlenden Möglichkeiten für eine Durchsetzung bei den Mitgliedstaaten.

Mit der Weiterführung und Ergänzung der bestehenden Instrumente wird dieser rechtliche Rahmen Mindeststandards festlegen, um zu gewährleisten, dass sich die rechtliche und die politische Lage von Opfern in der gesamten EU verbessert und Opfer von Straftaten in allen EU-Mitgliedstaaten dieselben Grundrechte und Dienstleistungen sowie denselben Zugang zur Justiz erhalten.

2.2. Problem B.- Auf die Bedürfnisse von Opfern wird in der EU nicht genug eingegangen

Die Bedürfnisse von Opfern lassen sich in fünf Kategorien einteilen: Die Notwendigkeit, anerkannt und respekt- und würdevoll behandelt zu werden, der Schutzbedarf, der Unterstützungsbedarf, der erforderliche Zugang zur Justiz, und der notwendige Zugang zu Entschädigung und Schadensersatz. Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen soll auf das Kernproblem, dass diesen Bedürfnissen in den Mitgliedstaaten in der Regeln nicht ausreichend oder nicht angemessen nachgekommen wird, eingegangen werden.

· Punkt 1 - Opfer finden keine ausreichende Anerkennung und werden nicht hinreichend würde- und respektvoll behandelt. Opfer müssen mit ihrem Leiden als solche anerkannt werden. Opfer müssen bei jeglicher Kommunikation mit allen, am Gerichtsverfahren beteiligten Personen würde- und respektvoll behandelt werden. Die Bedürfnisse gefährdeter Opfer wie z.B. Kinder, behinderte Personen und Opfer sexueller Gewalt verdienen besondere Aufmerksamkeit. Indirekte Opfer (z.B. Familienangehörige) müssen ebenfalls anerkannt werden, da die Folgen der Straftat auch sie beeinträchtigen.

· Punkt 2 – Opfer werden nicht ausreichend geschützt. Opfer müssen geschützt werden, um einer weiteren Straftat oder der Einschüchterung vonseiten des Täters vorzubeugen. Opfer chronischer Gewalt benötigen bei der Anzeige einer Straftat vor allem Sicherheit. Das ist ihre Hauptsorge. Opfer müssen ferner vor Sekundärviktimisierung aufgrund schlechter Behandlung in Verbindung mit Gerichtsverfahren und in deren Verlauf geschützt werden.

· Punkt 3 – Opfer werden nicht ausreichend unterstützt. Unmittelbar nach der Straftat brauchen Opfer Unterstützung, hauptsächlich durch Soforthilfe in Verbindung mit psychologischer erster Hilfe. Opfer benötigen ferner oft juristischen, emotionalen oder praktischen Beistand während des anschließenden Gerichtsverfahrens, der für sie, insbesondere für besonders schutzbedürftige Opfer, von entscheidender Bedeutung ist. Sowohl kurz- als auch langfristig ist möglicherweise infolge der Straftat Unterstützung erforderlich.

· Punkt 4 – Opfer genießen keinen wirksamen Rechtschutz. Opfer brauchen Rechtschutz, d.h. Zugang zu Gerichtsverfahren, Verfügbarkeit angemessener juristischer Vertretung bei Strafverfahren, Zugang zu informelleren Verfahren und das Recht auf Überprüfung einer Entscheidung, Anklage gegen den Täter zu erheben oder ihn nicht zu verfolgen. Opfer müssen ferner in der Lage sein, die erhaltenen Informationen zu verstehen und den Verfahren zu folgen.

· Punkt 5 – Opfer haben keinen effizienten Zugang zu Entschädigung und Schadensersatz.. Opfer müssen sich ergänzend zum üblichen Gerichtsverfahren für den Täter-Opfer-Ausgleich entscheiden können. Der Täter-Opfer-Ausgleich gibt Opfern Gelegenheit zur direkten Konfrontation mit ihren Tätern und ermöglicht Tätern, sich der Tragweite ihrer Tat bewusst zu werden. Damit wird den Opfern geholfen, ihr Leben weiter zu führen.

2.3. Mit der Viktimisierung verbundene, versteckte Kosten

Jede Straftat beeinträchtigt zwangsläufig direkt oder indirekt die Personen, die ihr zum Opfer gefallen sind, sowie die Gesellschaft insgesamt. Straftaten haben bedeutende wirtschaftliche und gesundheitliche Auswirkungen. Solche "verborgenen" Kosten lassen sich reduzieren, indem die Bedürfnisse der Opfer befriedigt werden. Für den Einzelnen und die Gesellschaft verursachen Straftaten beträchtliche Gesamtkosten, unter anderem materielle Kosten, hauptsächlich in den Bereichen Wirtschaft, Gesundheit und Strafgerichtsbarkeit, sowie immaterielle Kosten wie Schmerz, Leiden und geringere Lebensqualität.

Die Befriedigung der Bedürfnisse der Opfer vor, während und nach Strafverfahren kann diese negativen Folgen beträchtlich abschwächen und auch als Vorbeugung dafür dienen, dass die Auswirkungen sich wegen schlechter Behandlung während des Verfahrens potenziell verschlimmern. Erhält ein Opfer geeignete Unterstützung und angemessenen Schutz, so wird es sich von der Straftat sowohl körperlich als auch emotional schneller erholen und so beispielsweise seinen Verdienstverlust beschränken, nicht so lange auf Leistungen angewiesen sein oder in geringerem Maße weitere medizinische Behandlungen benötigen. Wird sichergestellt, dass den Bedürfnissen von Opfern entsprochen wird, so wird damit ein wichtiger Beitrag zur Reduzierung der Gesamtkosten von Straftaten geleistet.

2.4. Problemauslöser

Hauptauslöser der ermittelten Probleme sind: mangelnde Prioritarisierung von Opfern und fehlende Kenntnis ihrer Bedürfnisse infolge historisch und kulturell begründeter Verhaltensweisen, Fehlen von Mechanismen für die Durchsetzung von Opferrechten und mangelndes Knowhow von Fachkräften in Bezug auf Themen, die die Opfer betreffen.

2.5. Basisszenarium

Die Analyse ergibt, dass ohne weitere Schritte eine ausreichende Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften und eine Maßnahme, die gewährleistet, dass Opfer unabhängig vom Ort ihres Aufenthalts in der EU insbesondere im Hinblick auf Dienstleistungen und Rechtschutz nicht diskriminierend behandelt werden, unwahrscheinlich ist. Auch nach Übertragung der Zuständigkeit an den Europäischen Gerichtshof im Jahr 2014 gemäß dem Lissabonner Vertrags wird der Rahmenbeschluss keinen zufriedenstellenden rechtlichen Rahmen bieten, da er unter unklaren Formulierungen und unzureichenden Verpflichtungen leidet. So wird es schwierig sein, Durchsetzungsverfahren einzuführen, und oft wird nicht viel getan werden müssen, um die Erfüllung der Vorschriften unter Beweis zu stellen.,

2.6. Der Handlungsbedarf auf Gemeinschaftsebene

Der Lissabonner Vertrag bietet eine eindeutige Rechtsgrundlage für die Erleichterung der justiziellen Zusammenarbeit und die gegenseitige Anerkennung durch Mindeststandards für die Rechte der Opfer von Straftaten in Fällen mit grenzüberschreitender Dimension.

Die grenzüberschreitende Dimension der justiziellen Zusammenarbeit ist umfassend und kann sich in etlichen Situationen ergeben. Am offensichtlichsten ist sie, wenn eine Person in einem anderen EU-Staat zum Opfer wird. Auch bei Straftaten gegen Personen in ihrem Aufenthaltsland gibt es eine grenzüberschreitende Dimension (z.B., wenn das Opfer während des Verfahrens umzieht oder wenn sich Zeugen oder Vermögenswerte im Ausland befinden). Das macht die Bedeutung der grenzüberschreitenden Dimension der Viktimisierung deutlich. Vor dem Hintergrund der in der EU geltenden Freizügigkeit ist eine Maßnahme der EU im Hinblick auf einzelstaatliche Maßnahmen eindeutig von zusätzlichem Nutzen.

Ein solcher zusätzlicher Nutzen lässt sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Erstens haben Opfer möglicherweise in ihrem Aufenthaltsland nicht dieselben Rechte wie in ihrem Herkunftsland oder in einem Land, das sie vorübergehend bereisen oder besuchen. Damit besteht die Gefahr einer Behinderung des freien Personen- und Dienstleistungsverkehrs, der eine der Grundvoraussetzungen für das gute Funktionieren des Binnenmarkts ist. Zweitens führt das Fehlen von Mindeststandards für Opferrechte auf EU-Ebene dazu, dass das Rechtssystem in der EU qualitativ niedriger zu bewerten ist als die anhand internationaler Instrumente und aufgrund der Rechtsprechung des EGMR ermittelten Standards. In einem gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist eine solche Situation schwer vorstellbar. Schwächen der geltenden Rechtsvorschriften und mangelnde Durchsetzbarkeit internationaler Instrumente machen eine kohärente, EU-weite Anwendung solcher Standards unwahrscheinlich. Deshalb ist eine EU-Maßnahme das geeigneteste Mittel, um in den Mitgliedsstaaten zu gleichen Bedingungen zu kommen. Schließlich führt der Mangel an gemeinsamen Standards zu geringerem Vertrauen in die Rechtssysteme der Mitgliedstaaten und behindert damit die wirksame Anwendung der EU-Instrumente auf der Grundlage des Vertrags - Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen – und die Stärkung des europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.

Die Festlegung dieser Mindeststandards bezieht sich zwar auf Opfer von Straftaten, derartige Standards erleichtern aber ganz allgemein und nicht nur in Bezug auf Opfer die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit. Das schlägt sich in der Tatsache nieder, dass es vielfache Verbindungen zwischen der Behandlung von Opfern und Beschuldigten gibt und viele allgemeine grenzübergreifende Initiativen für justizielle Zusammenarbeit oder gegenseitige Anerkennung Auswirkungen auf Opfer haben können. Bessere Behandlung von Opfern und deren verstärkter Schutz können eine solche Zusammenarbeit stärken.

Mit der EU-Maßnahme soll deshalb sichergestellt werden, dass alle EU-Mitgliedstaaten gemeinsame Mindestnormen für alle Personen einhalten, die in ihrem Hoheitsgebiet Opfer einer Straftat werden, unabhängig davon, ob es sich um eigene Staatsangehörige handelt oder nicht.

3. Ziele

Das allgemeine Ziel besteht darin, die Errichtung eines europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und die Bildung gegenseitigen Vertrauens zwischen den strafrechtlichen Behörden zu fördern, indem sichergestellt wird, dass die Rechte von Opfern in der gesamten EU bei gleichzeitiger Wahrung der Rechte der Verteidigung uneingeschränkt eingehalten werden und die Bürger sich frei bewegen können und nicht unterschiedlich behandelt werden, wenn sie einer Straftat zum Opfer fallen sollten.

Die spezifischen, operativen Ziele sind in der nachstehenden Tabelle aufgeführt:

Spezifische Ziele || Operative Ziele

A.            Gewährleisten, dass Opfer anerkannt und respekt- und würdevoll behandelt werden || A.1          Sicherstellen, dass die Bedürfnisse indirekter Opfer erfüllt werden.

A.2         Sicherstellen, dass alle Polizeikräfte, das Personal der Staatsanwaltschaft, die Richter und das Gerichtspersonal, die mit Opfern zu tun haben, dafür entsprechend geschult werden.

A.3         Einführung von Mechanismen zur Bedarfseinschätzung, um die Bedürfnisse von Opfern und gefährdeten Opfern zu ermitteln.

B.            Gewährleisten, dass Opfer geschützt werden || B.1          Sicherstellen, dass Opfer den ihnen gewährten Schutz nicht verlieren, wenn sie ins Ausland reisen oder in einen anderen Mitgliedstaat umziehen.

B.2          Sicherstellen, dass es während des Verfahrens zwischen Täter und Opfer keinen Kontakt gibt.

C             Gewährleisten, dass Opfer unterstützt werden || C.1          Sicherstellen, dass effiziente Opferhilfedienste zur Verfügung stehen.

D.            Gewährleisten, dass Opfer wirksamen Rechtsschutz genießen . || D.1          Sicherstellen, dass alle Opfer dem Prozess beiwohnen können.

D.2          Sicherstellen, dass allen Opfern geholfen wird, ihre Rechte, Pflichten und das Verfahren zu verstehen.

D.3          Sicherstellen, dass Opfer ein Recht auf Überprüfung von Strafverfolgungsentscheidungen geltend machen können.

E.             Gewährleisten, dass Opfer Zugang zu Entschädigung und Schadensersatz haben || E.1          Sicherstellen, dass alle Opfer zu effizienten Täter-Opfer-Ausgleichsstellen Zugang haben.

Die breit gefächerten spezifischen Ziele, die gewährleisten sollen, dass die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten berücksichtigt und erfüllt werden, betreffen auch eine Reihe anderer Bereiche, darunter Menschenhandel, sexueller Missbrauch und Ausbeutung von Kindern sowie Kinderpornographie, und stehen im Einklang mit dem in diesen Bereichen verfolgten Konzept. Die vorgeschlagenen Maßnahmen bauen auf vorhandenen Instrumenten auf, ergänzen sie und führen Mindeststandards für die Rechte der Opfer ein. Damit verbessert sich das allgemeine Umfeld des Opferschutzes, einschließlich der Opfer von terroristischen Straftaten oder Verkehrsdelikten, in Bezug auf alle Straftaten im EU-Recht und in der Politik der EU.

Die Grundrechte aller Personen müssen bei der Umsetzung des EU-Rechts in allen EU-Maßnahmen und von allen Mitgliedstaaten gewahrt werden. Die EU-Maßnahme in diesem Bereich wird deshalb Standards für die Grundrechte der Opfer von Straftaten festlegen und gleichzeitig sicherstellen, dass etwaige Beschränkungen der Verteidigungsrechte oder anderer Grundrechte eindeutig und berechenbar formuliert und für den Schutz der Rechte und Freiheiten des Opfers erforderlich und angemessen sind.

4. Optionen

Alle hier betrachteten Optionen gehen von einem kombinierten Konzept mit unterschiedlich ausgeprägten Einzelheiten oder Verpflichtungen aus, für das eine neue Rechtsvorschrift der EU und praktische Maßnahmen für eine gelungene Umsetzung erforderlich sind. So werden für alle Maßnahmen konkrete Begleitmaßnahmen festgelegt, um die Umsetzung und die Ermittlung bewährter Praktiken zu unterstützen.

Bei der Folgenabschätzung werden fünf Optionen untersucht: Beibehaltung des status quo (Option 1) und drei politische Optionen (Optionen 2, 3a, 3b und 4). Die Beibehaltung des status quo hieße, dass auf EU-Ebene keine Maßnahme getroffen würde und folglich die gemeinsamen Mindeststandards für den Opferschutz in Europa nicht erreicht werden könnten, während für die anderen vier Optionen festgestellt wurde, dass sie die Lage von Opfern in Europa verbessern. Die vier politischen Optionen reichen vom niedrigen, mittleren bis zum hohen Verbindlichkeitsgrad für die Mitgliedsstaaten und präzisieren diese Verpflichtungen:

Option 1: Status quo || Beibehaltung des Status quo. Keine Maßnahme auf EU-Ebene.

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Option 2: Niedriger Verbindlichkeitsgrad || Am wenigsten verbindliche Option. Sie sieht Mindestverpflichtungen für Mitgliedstaaten vor, Systeme oder Dienstleistungen einzuführen, wobei minimal konkretisiert wird, welche Standards erreicht werden sollten. Im Hinblick auf die Notwendigkeit gesetzlicher Maßnahmen sind für diese Option die geringsten Änderungen des innerstaatlichen Verfahrensrechts erforderlich.

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Option 3a: Mittlerer Verbindlichkeitsgrad || Option mit mittlerem Verbindlichkeitsgrad. Sie sieht für die Mitgliedstaaten einen mittleren Verbindlichkeitsgrad für die Einführung von Dienstleistungen und Rechten vor, umfasst Vorschriften für die Gestaltung derartiger Dienstleistungen und Mindestvorschriften über die anzuwendenden Standards. Für die Einrichtung von Täter-Opfer-Ausgleichsstellen (s. nachstehende Maßnahme 11) durch die Mitgliedstaaten gilt allerdings ein niedriger Verbindlichkeitsgrad. Die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, diese Stellen einzurichten, sie haben lediglich sicherzustellen, dass Garantien und Mindestqualitätsstandards Anwendung finden, wenn Täter-Opfer-Ausgleichsstellen zum Einsatz kommen.

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Option 3b: Mittlerer/Hoher Verbindlichkeitsgrad || Option mit mittlerem Verbindlichkeitsgrad. Sieht für die Mitgliedstaaten einen mittleren Verbindlichkeitsgrad für alle Maßnahmen zur Einführung von Dienstleistungen und Rechten vor, umfasst Vorschriften für die Gestaltung derartiger Dienstleistungen und Mindestvorschriften über die anzuwendenden Standards. In Bezug auf Täter-Opfer-Ausgleichsstellen gilt allerdings ein höherer Verbindlichkeitsgrad für die Mitgliedstaaten als bei Option 3a, weil die Mitgliedstaaten diese Stellen einrichten und Mindeststandards anwenden müssen.

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Option 4: Höchster Verbindlichkeitsgrad || Option mit dem höchsten Verbindlichkeitsgrad. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, Dienstleistungen und Rechte einzuführen. Sie schreibt auch detailliertere Vorschriften zur Gestaltung derartiger Dienstleistungen und die präzisen Standards vor, die anzuwenden sind.

Jede politische Option ist anhand der nachstehenden elf Maßnahmen bewertet worden, die für das Erreichen der operativen Ziele am wirkungsvollsten sind und wahrscheinlich die signifikantesten Kosten und Auswirkungen nach sich ziehen:

1 || Deckung indirekter Opfer

2 || Schulungsorganisation

3 || Bewertung der Bedürfnisse von Opfern

4 || Ermittlung gefährdeter Opfer und Bereitstellung spezifischer Dienstleistungen

5 || Grenzübergreifende Bereitstellung von Schutzmaßnahmen

6 || Organisation gesonderter Wartebereiche, um ein Zusammentreffen von Opfer und Täter zu vermeiden

7 || Einrichtung von Opferhilfediensten auf einem Mindestniveau, darunter auch Beistand während der Verfahren

8 || Anwesenheit beim Prozess

9 || Bereitstellung von Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen

10 || Überprüfung von Entscheidungen

11 || Einrichtung von Täter-Opfer-Ausgleichsstellen

5. Folgenabschätzung

Für jede Option wurde eine umfassende Folgenabschätzung vorgenommen. Die relevantesten Folgen der politischen Optionen sind voraussichtlich die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. Erwartet wird, dass die staatlichen Behörden den größten Teil der finanziellen Folgen zu tragen haben. Mit Umweltauswirkungen ist nicht zu rechnen. Darüber hinaus werden sich alle Optionen – mit Ausnahme des status quo – positiv auf die Grundrechte auswirken, wobei die Optionen mit den stärksten Auswirkungen auch die größten Verbesserungen bei den Grundrechten verursachen.

Die Wirkung der verschiedenen Optionen auf die Mitgliedstaaten wird je nach deren für Opferrechte geltenden Standards unterschiedlich ausfallen. Die geltenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Praktiken unterscheiden sich in unterschiedlichem Maße von den Mindeststandards, die mit den vorgeschlagenen Maßnahmen angestrebt werden. Deshalb werden sich diese vermutlich in den Mitgliedstaaten am stärksten auswirken, in denen die Opferrechte nicht oder nicht ausreichend in der von diesen Standards vorgesehenen Art berücksichtigt werden, während die Auswirkungen in den Staaten, in denen Opfer bereits in hohem Maße geschützt und unterstützt werden, weniger spürbar sein werden.

6. Abwägung der Optionen

Option 1 (status quo) ist zwar sehr gut zu verwirklichen, erfüllt aber die Zielvorgaben nicht und wird deshalb nicht in Betracht gezogen. Option 2 ist ebenfalls unzureichend und erfüllt nicht ausreichend die operativen Ziele, die die Europäische Kommission mit dem Erlass neuer Maßnahmen zu erreichen beabsichtigt.

Option 4 ist am ehesten geeignet, alle Ziele so weit wie möglich zu realisieren. Allerdings handelt es sich um die Option mit dem höchsten Verbindlichkeitsgrad, die den Mitgliedstaaten die geringste Flexibilität einräumt. Sie schreibt den Mitgliedstaaten außerdem zusätzliche Verpflichtungen vor. Die Kosten werden voraussichtlich entsprechend höher liegen als bei den übrigen Optionen und die Wahrscheinlichkeit, dass diese Option angenommen wird, ist am geringsten. Der mögliche zusätzliche Nutzen steht in keinem Verhältnis zu den zusätzlichen Kosten.

Die Optionen 3a und 3b erfüllen höchstwahrscheinlich ebenfalls die Ziele, wenn auch nicht im gleichen Maße wie Option 4. Angesichts der stärkeren Flexibilität der Mitgliedstaaten sind diese beiden Optionen allerdings leichter verhandelbar, die eine geringere finanzielle Belastung als Option 4 implizieren. Außerdem wird das Risiko geringerer Effizienz durch praktische Maßnahmen abgeschwächt. Im Hinblick auf die spezifische Maßnahme zu den Täter-Opfer-Ausgleichsstellen ist jedoch wegen der Durchführbarkeit und der finanziellen Folgen Option 3a vorzuziehen. Eine Umsetzung der Option 3a wird im Vergleich zu Option 3b insbesondere die Gesamtkosten der Umsetzung spürbar verringern. Die politische Option 3a ist daher vorzuziehen.

Die Umsetzung der bevorzugten politischen Option 3a würde dazu beitragen, die nachstehenden Ergebnisse zu erzielen:

· Annahme der Rechtsvorschrift durch das Europäische Parlament und den Rat (entsprechende operative Ziele in Klammern): – Leicht zugängliche Opferhilfedienste stehen in allen Mitgliedstaaten zur Verfügung und erfüllen die spezifizierten Mindeststandards für die Dienstleistung (C1). – Die Polizeikräfte, das Personal der Staatsanwaltschaft und der Gerichte werden in allen Mitgliedstaaten in Fragen der Opferhilfe geschult. Den Richtern stehen entsprechende Studien zur Verfügung (A2). – In allen Mitgliedstaaten gibt es Mechanismen zur Bewertung der individuellen Bedürfnisse der Opfer und zur Ermittlung gefährdeter Opfer (A3). – Wird eine gefährdete Person identifiziert, so stehen ihr bestimmte Mindestdienstleistungen zur Verfügung (A3). – In allen Mitgliedstaaten erhalten Opfer während der Verfahren je nach den jeweiligen Umständen Dolmetsch-und Übersetzungsdienstleistungen (D2). – Wenn Täter-Opfer-Ausgleichsstellen existieren, finden in allen Mitgliedstaaten bestimmte Mindestnormen Anwendung (E1). – Auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung stehen Personen. die bereits unter eine Schutzmaßnahme fallen, gegebenenfalls Schutzmaßnahmen zur Verfügung, wenn sie ins Ausland reisen oder in einen anderen Mitgliedstaat umziehen (B1). – Das Opfer ist berechtigt, in allen Mitgliedstaaten eine Überprüfung der Strafverfolgung zu beantragen. Die Modalitäten einer solchen Überprüfung sind auf einzelstaatlicher Ebene geregelt (D3). – Der Ausschluss eines Opfers vom Prozess stützt sich auf eine individuelle Beurteilung. Das Opfer wird über den Zeitpunkt des Prozesses unterrichtet und erhält eine Vergütung für seine Teilnahme (D1). – Während des Verfahrens gibt es möglichst wenig Kontakt zwischen Täter und Opfer. In neuen Gerichtsgebäuden werden gesonderte Wartebereiche vorgesehen (B2). – In der Regel betrifft die Rechtsvorschrift direkte Opfer. Alle Rechte finden allerdings auch auf die unmittelbaren Familienangehörigen von Mordopfern Anwendung. Den unmittelbaren Familienangehörigen aller Opfer stehen Hilfsdienste und Schutz zur Verfügung (A1). · Praktische Begleitmaßnahmen zur Rechtsvorschrift, um die Umsetzung zu erleichtern und künftige EU-Maßnahmen in Betracht zu ziehen, darunter: – Studie über staatliche Entschädigung und Schadensersatz durch den Täter. – Studie über Rechtshilfe und Rechtsbeistand für Opfer von Straftaten. – Unterstützung von Projekten zur Entwicklung bewährter Praktiken, die Mitgliedstaaten zu einem detaillierteren Verständnis des besten Wegs zur Realisierung der Ziele der Rechtsvorschrift verhelfen. – Die Europäische Kommission wird ferner ihre eigenen Projekte und Studien durchführen, um das einschlägige Knowhow auszubauen. Darunter könnte beispielsweise die Schaffung interaktiver Websites in allen Mitgliedstaaten fallen, um Opfern ein besseres Verständnis des strafrechtlichen Verfahrens und ihrer Rolle in diesem Zusammenhang zu vermitteln. Die Entwicklung von Schulungsprogrammen wäre eine weitere Möglichkeit.

7. Überwachung und Bewertung

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass ein solider Kontroll- und Bewertungsmechanismus geschaffen wird, damit gewährleistet ist, dass den vorgesehenen Rechten sowohl in der Praxis als auch in den Rechtsvorschriften Rechnung getragen wird. Die Kommission plant eine spezielle empirische Untersuchung, die sich schwerpunktmäßig auf eine drei- bis fünfjährige Datensammlung bezüglich der Umsetzung des Vorschlags stützen wird, um eingehende quantitative und qualitative Erkenntnisse zur Wirksamkeit des Vorschlags erlangen zu können. In Verbindung mit den Opferbefragungen werden die Daten die Kommission in die Lage versetzen, die tatsächliche Umsetzung in den Mitgliedstaaten auf einer solideren Grundlage als mit den bisher verfügbaren Mitteln möglich zu bewerten sowie eine umfassende Bewertung der Wahrnehmung der Opfer in Bezug auf die Erfüllung ihrer Bedürfnisse vorzunehmen.

[1]               Laut Eurostat-Daten wurden 2007 in den EU-Mitgliedstaaten rund 30 Millionen Straftaten (ohne geringfügigere Straftaten) erfasst (Eurostat, Statistics in focus, 36/2009). Auf der Grundlage einer Analyse des EU International Crime Survey in "The Burden of Crime in the EU"(www.europeansafetyobservatory.eu) kommen dazu vermutlich 60 % nicht gemeldete Straftaten hinzu, was zu einem Ergebnis von rund 75 Millionen direkter Opfer von Straftaten pro Jahr führt (ca. 15% der EU-Bevölkerung).

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