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Document 62010CJ0211

Leitsätze des Urteils

Schlüsselwörter
Leitsätze

Schlüsselwörter

1. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003

(Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 10 Buchst. b Ziff. iv)

2. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003

(Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 11 Abs. 8, 40 und 42)

3. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003

(Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, 24. Erwägungsgrund und Art. 11 Abs. 8, 42 Abs. 1, 43 Abs. 2, 47 Abs. 2 und 60)

4. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003

(Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 42 Abs. 1)

Leitsätze

1. Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass eine vorläufige Regelung keine „Sorgerechtsentscheidung ..., in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt und nicht zu einer Übertragung der Zuständigkeit auf die Gerichte des Mitgliedstaats führen kann, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde. Angesichts der zentralen Rolle, die dem zuständigen Gericht nach der Verordnung zukommt, und dem Grundsatz des Fortbestands seiner Zuständigkeit ist nämlich eine „Sorgerechtsentscheidung ..., in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ eine endgültige, auf der Grundlage einer umfassenden Prüfung aller relevanten Gesichtspunkte getroffene Entscheidung, mit der sich das zuständige Gericht zur Frage der nicht mehr von anderen behördlichen oder gerichtlichen Entscheidungen abhängenden Regelung der Sorge für das Kind äußert. Dass nach dieser Regelung in regelmäßigen Abständen, binnen einer bestimmten Frist oder in Abhängigkeit von bestimmten Umständen die Frage der Sorge für das Kind neu zu beurteilen oder zu überprüfen ist, nimmt der Entscheidung nicht ihren endgültigen Charakter. Dies ergibt sich aus der Systematik der Verordnung Nr. 2201/2003 und dient auch dem Wohl des Kindes. Würde nämlich eine vorläufige Entscheidung zum Verlust der Zuständigkeit für die Frage der Sorge für das Kind führen, könnte dies das zuständige Gericht des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes von der Erlassung einer solchen vorläufigen Entscheidung abhalten, obwohl das Kindeswohl sie erfordern würde.

(vgl. Randnrn. 46-47, Tenor 1)

2. Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass eine Entscheidung, mit der das zuständige Gericht die Rückgabe des Kindes anordnet, auch dann in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt, wenn ihr keine von diesem Gericht getroffene endgültige Entscheidung über das Sorgerecht für das Kind vorausgegangen ist.

Eine solche Auslegung, nach der die Vollstreckung einer Entscheidung, mit der das zuständige Gericht die Rückgabe des Kindes anordnet, davon abhängen würde, dass es eine vom selben Gericht getroffene endgültige Entscheidung über das Sorgerecht gibt, findet im Wortlaut von Art. 11 der Verordnung und insbesondere in dessen Abs. 8, der jede „spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird“, erfasst, keine Grundlage. Auch in den Art. 40 und 42 bis 47 der Verordnung wird die Vollstreckung einer nach Art. 11 Abs. 8 ergangenen und mit der Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 1 der Verordnung versehenen Entscheidung nicht an die vorherige Erlassung einer Sorgerechtsentscheidung geknüpft. Das mit den Bestimmungen der Art. 11 Abs. 8, 40 und 42 der Verordnung verfolgte Ziel der Verfahrensbeschleunigung und die vorrangige Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats wären schwer mit einer Auslegung vereinbar, nach der einer Entscheidung über die Rückgabe eine endgültige Sorgerechtsentscheidung vorausgegangen sein muss. Eine solche Auslegung würde das zuständige Gericht unter Umständen zwingen, eine Sorgerechtsentscheidung zu treffen, obwohl es nicht über alle hierfür relevanten Informationen und Gesichtspunkte und über die für ihre objektive und ausgewogene Würdigung erforderliche Zeit verfügt. Schließlich haben das Interesse daran, dass eine gerechte und gut fundierte gerichtliche Entscheidung über das endgültige Sorgerecht für das Kind ergeht, das Erfordernis, von Kindesentführungen abzuschrecken, sowie das Recht des Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen Vorrang vor etwaigen Unannehmlichkeiten, die durch Ortswechsel infolge der Vollstreckung einer auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 8 ergangenen Entscheidung und sodann einer endgültigen Entscheidung über das Sorgerecht verursacht werden könnten.

(vgl. Randnrn. 52, 54, 62-63, Tenor 2)

3. Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass eine später ergangene Entscheidung eines Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats, mit der ein vorläufiges Sorgerecht gewährt wird und die nach dem Recht dieses Staates als vollstreckbar anzusehen ist, der Vollstreckung einer zuvor ergangenen und mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung, mit der das zuständige Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Rückgabe des Kindes anordnet, nicht entgegengehalten werden kann. Andernfalls würde das durch Abschnitt 4 von Kapitel III der Verordnung geschaffene System umgangen. Eine solche Ausnahme von der Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats würde Art. 11 Abs. 8 der Verordnung, der dem zuständigen Gericht die Letztentscheidungsbefugnis einräumt und der nach Art. 60 der Verordnung Vorrang vor dem Haager Übereinkommen von 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung hat, die praktische Wirksamkeit nehmen und den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats eine Sachzuständigkeit verschaffen. Nach dem 24. Erwägungsgrund und den Art. 42 Abs. 1 und 43 Abs. 2 der Verordnung sind gegen die Ausstellung einer Bescheinigung keine Rechtsbehelfe möglich, und eine mit einer solchen Bescheinigung versehene Entscheidung ist ohne Weiteres vollstreckbar, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf. Folglich ist die Frage, ob eine Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde, mit einer später ergangenen vollstreckbaren Entscheidung unvereinbar im Sinne von Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung ist, nur in Bezug auf etwaige spätere Entscheidungen der zuständigen Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats zu prüfen. Eine solche Unvereinbarkeit liegt nicht nur dann vor, wenn die Entscheidung infolge einer Klage vor einem Gericht des Ursprungsmitgliedstaats aufgehoben oder geändert wird, sondern auch dann, wenn das zuständige Gericht seinen eigenen Standpunkt ändert, wenn das Wohl des Kindes es erfordert, und wenn eine neue vollstreckbare Entscheidung erlassen wird, ohne die vorherige, damit hinfällig gewordene Entscheidung ausdrücklich aufzuheben.

(vgl. Randnrn. 70, 76-78, Tenor 3)

4. Die Vollstreckung einer mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung kann im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht deshalb verweigert werden, weil sie aufgrund einer seit Erlassung der Entscheidung eingetretenen Änderung der Umstände das Wohl des Kindes schwerwiegend gefährden könnte. Eine solche Änderung stellt eine Sachfrage dar, die gegebenenfalls zur Änderung der Entscheidung des zuständigen Gerichts über die Rückgabe des Kindes führen kann. Nach der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats und den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats hat über eine solche Frage das zuständige Gericht des Ursprungsmitgliedstaats zu entscheiden, bei dem auch ein etwaiger Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung seiner Entscheidung zu stellen ist.

(vgl. Randnrn. 81, 83, Tenor 4)

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