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Document 52012AE1302

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Eine entschlossenere europäische Reaktion auf das Drogenproblem“ COM(2011) 689 final

ABl. C 229 vom 31.7.2012, p. 85–89 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/85


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Eine entschlossenere europäische Reaktion auf das Drogenproblem“

COM(2011) 689 final

2012/C 229/16

Berichterstatter: Ákos TOPOLÁNSZKY

Die Europäische Kommission beschloss am 25. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Eine entschlossenere europäische Reaktion auf das Drogenproblem

COM(2011) 689 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. April 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 24. Mai) mit 118 gegen 1 Stimme bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)

1.1   begrüßt die Vorschläge der Kommissionsmitteilung und teilt die Auffassung, dass im Interesse eines stärkeren Europas entschlossene Maßnahmen notwendig sind und zur wirkungsvollen Beeinflussung des Angebots an und der Nachfrage nach Drogen ausgewogene Maßnahmen ergriffen werden müssen;

1.2   bedauert daher, dass die Mitteilung mit ihrem Schwerpunkt auf Maßnahmen zur Verringerung des Drogenangebots gegenüber dem bisherigen ausgewogenen und einvernehmlich angewandten Konzept einen Rückschritt darstellt;

1.3   hält ein regulierendes und strafrechtliches Konzept für unzureichend und fordert die Entwicklung einer neuen EU-weiten Drogenstrategie, die auf einer eingehenden Bewertung der derzeitigen und demnächst auslaufenden Drogenstrategie basieren sollte;

1.4   ist besorgt über Veränderungen in den Prioritäten der Förderpolitik und mahnt auch in diesem Zusammenhang ein erneut ausgewogenes Konzept an;

1.5   unterstützt eine weitere Harmonisierung einzelstaatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung des Drogenhandels und empfiehlt, den Prozess der Harmonisierung des EU-Strafrechts auf verschiedene Formen von Drogenmissbrauch auszudehnen;

1.6   empfiehlt die Entwicklung unabhängiger, wissenschaftlich gestützter Bewertungssysteme für Maßnahmen zur Angebotsverringerung sowie die Bereitstellung angemessener Mittel für die Erledigung dieser Aufgaben;

1.7   ist mit den vorgesehenen Maßnahmen zur Sicherstellung und Einziehung von Vermögenswerten aus Straftaten einverstanden, und empfiehlt, die sichergestellten Vermögenswerte – zumindest teilweise – zur Unterstützung des stark unterfinanzierten Bereichs der Nachfragereduzierung einzusetzen;

1.8   betont, dass ein Regulierungskonzept bei neuen gefährlichen Drogen auch nicht ausreicht, und dass eine solche Regulierung in jedem Fall als Teil eines integrierten, umfassenden politischen Aktionsrahmens umgesetzt werden muss; die Wirksamkeit eines solchen Rahmens muss kontinuierlich überwacht und bewertet werden;

1.9   ist der Ansicht, dass die Passage der Mitteilung über die Nachfrageverringerung unverhältnismäßig und zu allgemein gehalten ist, und empfiehlt der Kommission, die Entwicklung institutioneller Mechanismen zu initiieren, die eine erfolgreiche Umsetzung wissenschaftlich fundierter einschlägiger Initiativen garantieren;

1.10   ist fest davon überzeugt, dass es bereits mittelfristig einer umfassenden und koordinierten Politik für das gesamte Problem der Abhängigkeit von – legalen oder illegalen – psychoaktiven Drogen bedarf, damit gewährleistet ist, dass sich die bislang getrennten politischen Maßnahmen nicht gegenseitig in ihrer Wirkung aufheben;

1.11   unterstützt die Arbeit des EU-Drogenforums der Zivilgesellschaft und empfiehlt, die Erkenntnisse dieser Einrichtung stärker auf EU-Ebene und auf einzelstaatlicher Ebene zu berücksichtigen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung „Eine entschlossenere europäische Reaktion auf das Drogenproblem (1).

2.2   Der EWSA stimmt der Feststellung in der Mitteilung zu, dass, nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Europa nunmehr „energisch und entschlossen auf das Drogenproblem, und zwar gleichermaßen auf Drogennachfrage und Drogenangebot, reagieren“ muss; er begrüßt die Bereitschaft der Kommission, der Antidrogenpolitik der EU neue Anstöße zu geben, und stimmt ihr zu, dass „die EU […] ihr Handeln danach ausrichten [sollte], wo der größte Mehrwert zu erzielen ist“.

2.3   Zugleich bedauert der Ausschuss, dass die Mitteilung mit ihrem Schwerpunkt auf Maßnahmen zur Verringerung des Drogenangebots gegenüber dem bisherigen ausgewogenen und einvernehmlich angewandten Konzept einen Rückschritt darstellt. Die Mitteilung ist nämlich inhaltlich auf Rechtsinstrumente zur Angebotsverringerung beschränkt, und es werden darin lediglich sehr allgemeine Ziele zur Nachfragereduzierung skizziert.

2.4   Der Ausschuss bedauert, dass in dem Dokument der Kommission im Zusammenhang mit dem Drogenkonsum menschenrechtliche und umfassende sozialpolitische Aspekte außer Acht gelassen zu werden scheinen; der Schwerpunkt der Mitteilung liegt auf regulierenden und strafrechtlichen Instrumenten, die selten Gegenstand wissenschaftlicher Bewertungsverfahren sind, deren Wirksamkeit auf der Grundlage vorliegender Daten kaum erwiesen ist und die wenig kosteneffizient sind (2).

2.5   Der Ausschuss ist der Überzeugung, dass Maßnahmen zur Angebotsverringerung nur als Teil eines strategischen Systems, als Element eines solchen Systems sinnvoll sind. Es sollte eine Überbetonung strafrechtlicher Maßnahmen als letztes geeignetes Mittel (Ultima Ratio) vermieden werden. Daher darf die europäische Politik, die gegenüber den in vielen Regionen der Welt üblichen vereinfachenden, repressiven und den Menschenrechten wenig Beachtung schenkenden Konzepten ein umfassendes, multi-instrumentales Konzept unterstützt hat, nicht davon geprägt sein, dass Präventivinstrumente in den Hintergrund gedrängt werden.

2.6   Nach Ansicht des Ausschusses muss im Rahmen der EU-Politik zur Bekämpfung drogenbedingter Probleme eine neue Strategie konzipiert, in einer breit angelegten Debatte diskutiert und verabschiedet werden, die auf der derzeitigen Strategie basieren sollte. Diese neue Strategie sollte übereinstimmend angenommen werden und die gemeinsame Verpflichtung der Mitgliedstaaten in Bezug auf die bisherigen ausgewogenen und auf den Grundwerten der Lissabon-Strategie beruhenden strategischen Überlegungen, Aktionsprogramme und Finanzierungsmaßnahmen (best mix of policies) zum Ausdruck bringen.

2.7   Gemäß dem Grundprinzip, dass ein Staat keinen größeren Schaden anrichten darf als den, den er abwenden will, muss ein Beschlussfassungsmechanismus entwickelt werden, der es ermöglicht, im Falle nachteiliger Ergebnisse einer unabhängigen Bewertung unverzüglich politische Veränderungen einzuleiten.

3.   Finanzierung

3.1   Der EWSA sieht mit Sorge, wie sich die Finanzierungsprioritäten der Europäischen Kommission verändern und ihre Zahl zurückgeht. In dem als Teil des 3. mehrjährigen Finanzierungsprogramms 2014-2020 angekündigte derzeitige Gesundheitsprogramm „Gesundheit für Wachstum“ wird das Problem der Drogen und Reduzierung der Drogennachfrage nicht behandelt. Ebenso unerwähnt bleiben darin die Mittel, die für die Nachfrageverringerung im Einklang mit den Zielen der Drogenstrategie der EU und ihres Aktionsplans erforderlich sind.

3.2   Zugleich haben sich die in dem Kommissionsvorschlag erläuterten Förderprioritäten für das Programm „Justiz“ und für das Programm „Rechte und Unionsbürgerschaft“ geändert, da bei den Subventionen zur Bekämpfung des Drogenproblems der Schwerpunkt in erster Linie auf Aspekte in Zusammenhang mit der Verbrechensprävention gelegt wird. Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, ihre Finanzierungsstrategie an die Erfordernisse einer ausgewogenen Strategie anzupassen.

4.   Konkrete inhaltliche Punkte

4.1   Drogenmissbrauch und -handel

4.1.1   Im Hinblick auf die Bekämpfung des Drogenhandels wird in der Mitteilung das Phänomen des sich beständig wandelnden Marktes für illegale Drogen sowie das Aufkommen innovativer Methoden und neuer Technologien beim Drogenschmuggel hervorgehoben. Die Kommission betont, dass die Initiativen zur Bekämpfung des Drogenhandels besser aufeinander abgestimmt werden müssen, wenn all diese ungünstigen Phänomene wirksam bekämpft werden sollen.

4.1.2   In der Mitteilung wird unterstrichen, dass mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (3) nunmehr eine Stärkung der rechtlichen und politischen Instrumente zur Bekämpfung des Drogenhandels möglich ist. Ferner wird darauf hingewiesen, dass sich durch bestimmte Rechtsinstrumente (4)„die einzelstaatlichen Maßnahmen gegen Drogenhandel kaum angeglichen haben [und] die justizielle Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Drogenbekämpfung nur unwesentlich erleichtert [wurde]“ (5).

4.1.3   In diesem Zusammenhang werden in der Mitteilung neue Rechtsinstrumente vorgeschlagen, mit Hilfe derer die Kommission erstens gemeinsame Mindestvorschriften in Bezug auf erschwerende oder mildernde Umstände aufstellen will, um gegen größere grenzüberschreitende Drogenhandelsnetze vorzugehen; zweitens will sie eine bessere Definition der Straftatbestände und Strafen ausarbeiten und drittens die den Mitgliedstaaten auferlegte Berichterstattungspflicht verschärfen.

4.1.4   Der Ausschuss stimmt den Feststellungen der Kommissionsmitteilung zwar grundsätzlich zu, möchte jedoch betonen, dass diese Anstrengungen nur dann erfolgreich sein können, wenn für die Maßnahmen zur Verringerung des Drogenangebots geeignete Wirksamkeitsmessinstrumente und bewährte Indikatoren zur Verfügung stehen. Er plädiert daher nachdrücklich für die Entwicklung von Bewertungs- und Überwachungsmechanismen, mit Hilfe derer sich die tatsächliche Wirkung und Kosteneffizienz solcher Maßnahmen messen lassen; er befürwortet die bereits begonnenen Arbeiten zur Entwicklung adäquater Indikatoren (6).

4.1.5   Der EWSA betont, dass für die Bewertung der Instrumente in Bezug auf Angebotsreduzierungsmaßnahmen im Verhältnis zu dem Maß, in dem sie sich auf die Grundrechte der Drogenkonsumenten auswirken, die im rechtlichen Sinne anderen keinen Schaden zufügen und nicht aus Gewinnstreben handeln, unverhältnismäßig wenige Mittel bereitstehen.

4.1.6   Der EWSA empfiehlt, im Sinne der entsprechenden Kommissionsmitteilung (7) die Anstrengungen zur Harmonisierung des EU-Strafrechts auch auf Formen krimineller Verhaltensweisen auszuweiten, bei denen die große Diskrepanzen in der strafrechtlichen Praxis (Normen, Strafen, Strafvollstreckung, Strafbefreiung) der einzelnen Mitgliedstaaten derart groß sind, dass gewiss die Menschenrechte und die Rechtssicherheit untergraben werden; nach Ansicht des Ausschusses ist dies momentan bei Fällen von Drogenmissbrauch zu beobachten (8).

4.1.7   Der EWSA weist darauf hin, dass die von der EU geplante Harmonisierung der Mindeststrafen nicht zu einer Verschlimmerung der Höchststrafen in einzelnen Mitgliedstaaten führen darf. Der Ausschuss betont zugleich, dass eine auf die Angebotsreduzierung ausgerichtete Politik auch eine Botschaft der Hilflosigkeit der Entscheidungsträger aussenden könnte; daher muss das richtige Gleichgewicht zwischen der unbedingt notwendigen Androhung strafrechtlicher Sanktionen und den außerordentlich wichtigen Behandlungs- und Unterstützungsmaßnahmen gefunden werden.

4.1.8   Nach Ansicht des Ausschusses müssen die Strategien für die Strafjustiz neu konzipiert werden, wobei der Schwerpunkt auf der Verringerung der durch den Drogenhandel verursachten sozialen und gesundheitlichen Schäden und auf der Sicherheit des Einzelnen sowie des Kollektivs liegen sollte, anstatt einen Ansatz zu verfolgen, der ausschließlich auf die Prävention des Dogenhandels abzielt.

4.2   Drogenausgangsstoffe

4.2.1   Der EWSA stimmt der Lagebewertung in diesem Abschnitt der Kommissionsmitteilung zu und teilt die Auffassung, dass bei den bestehenden und den geplanten Maßnahmen eine wirksame Kontrolle des illegalen Gebrauchs dieser Substanzen gewährleistet werden muss, ohne den rechtmäßigen Handel damit zu behindern.

4.2.2   Der Ausschuss stimmt der Kommission zu, dass die internationale Zusammenarbeit in diesem Bereich intensiviert werden muss, wenngleich es hinsichtlich der Möglichkeiten der Datenbereitstellung, deren Qualität und der Bereitschaft hierzu vor allem in Bezug auf die betroffenen Drittländer, große Diskrepanzen gibt.

4.3   Sicherstellung und Einziehung von Vermögenswerten aus Straftaten

4.3.1   Der EWSA stimmt den Bemühungen der Kommission zu, und ist der Ansicht, dass die genannten Legislativinstrumente eine verhältnismäßige und angemessene Antwort auf das Problem darstellen: Es hält es daher für bedauerlich, dass sich diese aus verschiedenen Gründen als nicht wirksam erwiesen haben.

4.3.2   Der Ausschuss spricht sich deshalb dafür aus, neue, striktere EU-Rechtsakte auszuarbeiten und die Harmonisierung der Rechtsvorschriften auf EU-Ebene auf diesen Bereich auszuweiten.

4.3.3   Der EWSA empfiehlt, die sichergestellten Vermögenswerte zumindest teilweise zur Unterstützung der Nachfrageverringerungsmaßnahmen zu verwenden, die zwar stets unterfinanziert, aber am wirksamsten sind, um den Drogenkonsum zu bekämpfen und seine sozialen Konsequenzen zu behandeln.

4.4   Neue psychoaktive Substanzen

4.4.1   Der EWSA stimmt den diesbezüglichen Ausführungen in der Kommissionsmitteilung im Wesentlichen zu. Nach Auffassung der Kommission erfüllt eine generische Regelung die Erwartungen der Öffentlichkeit und der Entscheidungsträger hinsichtlich einer raschen Überprüfung neuer Drogen, doch könnte eine Untersuchung einzelner Substanzen ohne eine effektive Risikoanalyse den legitimen therapeutischen und industriellen Interessen schaden. Der EWSA weist außerdem darauf hin, dass die aktuelle Risikoanalysemethode in erster Linie auf chemischen und forensischen Analysen statt einen multidisziplinären Ansatz widerzuspiegeln.

4.4.2   Der EWSA betont, dass ein Regulierungsakt bei den neuen gefährlichen Drogen auch nicht ausreicht, und dass er in jedem Fall als Teil eines integrierten, umfassenden politischen Aktionsrahmens umgesetzt werden muss, dessen Wirksamkeit kontinuierlich überwacht und bewertet werden muss. Es können unbeabsichtigte Risiken auftreten (Versuchung der Drogenkonsumenten, sich auf neuere Substanzen umzustellen, Kriminalisierung, höhere Marktpreise, automatisches Verbot bzw. automatische Kontrolle eventuell nützlicher Substanzen, heimlicher Drogenkonsum, zusätzliche Risiken aufgrund eines illegalen Marktes usw.). Der EWSA bedauert, dass die vorgeschlagenen Regulierungsinstrumente diesen Gesichtspunkten keine Rechnung tragen.

4.4.3   Der EWSA hält es für wichtig, dass die Entscheidungsträger parallel zur Aufnahme von Substanzen in eine Liste gesundheits- und sozialpolitische Maßnahmen hinsichtlich der betreffenden psychoaktiven Substanz vorschlagen und zugleich nach alternativen Regulierungsmöglichkeiten ohne eine direkte Kriminalisierung der Drogenkonsumenten suchen. Der Ausschuss unterstreicht, dass die Schließung der Lücken in der Datensammlung, interaktivere Informationsflüsse, die Weiterbildung der Fachleute, eine glaubwürdige Kommunikation mithilfe modernster Methoden und Technologien, die Weiterentwicklung der Regulierung und Kontrolle im Verbraucherschutzbereich sowie die Entwicklung und Bereitstellung der entsprechenden Behandlungs– und Unterstützungsdienste notwendige Elemente dieses Konzepts sind.

4.4.4   Der EWSA weist auf das Problem hin, dass die legislative Antwort auf neue Substanzen auch weiterhin die durch nicht kontrollierte „alte“ psychoaktive Substanzen (Alkohol, Nikotin, bestimmte industrielle Halluzinogene usw.) hervorgerufenen, oftmals weitaus gravierenderen Probleme verschleiern.

4.5   Nachfrageverringerung

4.5.1   Der EWSA zeigt sich angesichts der in diesem Kapitel von der Kommission unterbreiteten Vorschläge enttäuscht, die im Grunde nur allgemeine Feststellungen enthalten. Der Ausschuss empfiehlt der Kommission, einen strategischen Ansatz weiterzuentwickeln, der sowohl in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht auf dem Weg zur Gewährleistung der Grundrechte in puncto Behandlung einen Fortschritt bringen kann.

4.5.2   In diesem Sinne sollte die Kommission nicht nur auf die Erarbeitung von Qualitätsstandards hinarbeiten, sondern auch zur Einführung finanzpolitischer Maßnahmen in den Mitgliedstaaten beitragen, die einen ausgewogenen Ansatz widerspiegeln.

4.5.3   Es sollte die europaweite Abdeckung, Zugänglichkeit, Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit einer breiten Palette nachweislich wirksamer Dienstleistungen für Menschen mit drogenbedingten Problemen zur Minderung gesundheitlicher Schäden (HIV/AIDS, Hepatitis und Überdosis) garantiert werden. Diese Dienstleistungen umfassen den Drogenentzug, die stationäre und ambulante Behandlung sowie die Behandlung in therapeutischen Gemeinschaften, die Rehabilitation, die Wiedereingliederung, die Drogenersatztherapie und die kostenlose Abgabe von Injektionsspritzen an Drogenabhängige. Sämtliche Programme sollten genauso im Gefängnis sowie Minderheiten und von Diskriminierung bedrohten Gruppen zur Verfügung stehen.

4.5.4   Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU und die Mitgliedstaaten bei ihrer Drogenpolitik nicht der Kriminalisierung und Bestrafung von Menschen mit drogenbedingten Problemen, sondern der Bereitstellung von Gesundheits- und Behandlungsdienstleistungen für hilfsbedürftige Menschen Vorrang geben sollten.

4.5.5   Der EWSA möchte darauf hinweisen, dass der Europäischen Union momentan über keinerlei Mittel dafür verfügt, diejenigen Mitgliedstaaten zu verwarnen oder zu sanktionieren, die nicht für die Sicherung von Behandlungsdienstleistungen sorgen, deren Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesen ist, – selbst dann nicht, wenn diese lebenswichtig sind – und damit gegen die Menschenrechte verstoßen.

4.5.6   Der EWSA appelliert daher an die Kommission, mit der Entwicklung institutioneller Mechanismen zu beginnen, die eine tatsächliche Umsetzung der einschlägigen, wissenschaftlich fundierten Initiativen in den einzelnen Mitgliedstaaten und ein ausgewogenes und kontrolliertes Funktionieren der Finanzierungsmechanismen zur Förderung ihrer Umsetzung gewährleisten.

4.6   Internationale Zusammenarbeit

4.6.1   Der EWSA begrüßt den Dialog mit Erzeuger- und Transitländern sowie die Politik zur Bereitstellung von technischer Hilfe und Unterstützung, und empfiehlt deren weiteren Ausbau.

4.6.2   Er teilt die Auffassung, dass die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern, strategischen Partnern und Ländern an den Drogenhandelsrouten in die EU auf der Basis eines ausgewogenen, umfassenden Ansatzes und unter uneingeschränkter Achtung der Menschenrechte vertieft werden sollte.

4.6.3   Der Ausschuss begrüßt die Ergebnisse, die die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht seit ihrer Einrichtung in den Bereichen Beobachtung der Drogenlage, Verbesserung der Qualität und Disziplin der Datenerlieferung sowie Entwicklung gemeinsamer technischer Konzepte erzielt hat.

4.6.4   Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Lagebewertung in Bezug auf die durch die anhaltende Wirtschaftskrise verursachten sozialen Veränderungen vorzunehmen, mit besonderem Augenmerk auf dem Drogenkonsum- und -handelsmuster.

4.6.5   Der Ausschuss erkennt zwar die Bedeutung der drei Antidrogen-Abkommen der Vereinten Nationen (9) und die damit erzielten Ergebnisse an, möchte jedoch darauf hinweisen, dass sie entgegen ihren erklärten Zielsetzungen in den meisten Ländern der Welt – teilweise auch in Europa – keinen angemessenen und gerechten legalen Zugang zu Drogen gewährleistet haben. Auf der anderen Seite sind die illegale Produktion und der illegale Konsum nicht zurückgegangen, sondern haben sogar deutlich zugenommen. Zugleich ermöglicht es das eingerichtete System nicht immer, die Gewährleistung wissenschaftlich fundierter Maßnahmen in Bezug auf Gesundheit und Wohlergehen zu fördern.

4.6.6   Der Ausschuss schlägt daher vor, dass die Europäische Union unter weitgehender Berücksichtigung der wissenschaftlichen Belege als kritischer Wächter über die Antidrogen-Abkommen der UN und deren Umsetzung auftritt – vorausgesetzt, es herrscht Konsens mit den Mitgliedstaaten. Gegebenenfalls könnte sie zugunsten einer Aktualisierung der Abkommen Stellung nehmen.

4.6.7   Der Ausschuss begrüßt und befürwortet die Arbeiten des EU-Drogenforums der Zivilgesellschaft und empfiehlt den Entscheidungsgremien der EU, die Erkenntnisse dieser Einrichtung stärker zu berücksichtigen. Der EWSA würde es begrüßen, wenn er als Beobachter an der Tätigkeit des Forums teilnehmen könnte.

5.   Ausblick

5.1   Im Sinne von Artikel 11 Absatz 3 und 4 des Vertrags von Lissabon empfiehlt der EWSA sowohl der Kommission als auch den Mitgliedstaaten, den aktiven sozialen Dialog auszubauen. Im Geiste der partizipativen Demokratie sollten Berufsgruppen und wenn möglich auch Konsumentenorganisationen eng in die strategische Planung eingebunden werden, damit die staatliche Koordinierung direkt von der Zivilgesellschaft und den zuständigen Berufsgruppen bewertet werden kann.

5.2   Der Ausschuss ist der Ansicht, dass ein zweigleisiger Ansatz für die politische Planung notwendig ist. Zum einen müssen auf globaler Ebene im Rahmen einer engeren Koordinierung Synergien zwischen den auf EU-Ebene aufeinander abgestimmten Konzepten geschaffen werden. Auf der anderen Seite ist ein lokaler Ansatz vonnöten, damit politischen Maßnahmen der EU konzipiert werden können, die nicht abstrakt sind, sondern auf den tatsächlichen Bedürfnissen der lokalen Gemeinschaften basieren und bei denen auf deren Mitarbeit gezählt werden kann.

5.3   Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass bereits mittelfristig eine umfassende und koordinierte Politik für das gesamte Problem der Abhängigkeit von – „legalen“ und „illegalen“ – psychoaktiven Drogen notwendig ist. Momentan gibt es aus politischen und rechtlichen Gründen eine künstliche Trennung zwischen diesen politischen Maßnahmen, bei denen auf äußerst unterschiedliche Instrumente zurückgegriffen wird und die sich eher gegenseitig in ihrer Wirkung aufheben als sich gegenseitig stärken. Zugleich lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und Menschenrechte das stark variierende Verhältnis dieser verschiedenen Maßnahmen zur verbindlichen Kraft des Staates in Frage stellen bedeutende Diskrepanzen zwischen der Verbindlichkeit solcher staatlichen Maßnahmen fragwürdig angesichts der Notwendigkeit, zu gewährleisten und die Menschenrechte zu schützen.

5.4   Der Ausschuss empfiehlt, dass die Kommission den Weg für den Zugang zu kontrollierter medizinischer Nutzung von medizinischem Cannabis und zur gesamten Palette von Substitutionsbehandlungsmethoden ebnet.

5.5   Kritisch sieht der EWSA die Haltung der EU gegenüber Alkohol, der die größten sozialen Probleme verursacht, und vertritt daher weiterhin seinen in früheren korrigierenden Stellungnahmen (10) zum Ausdruck gebrachten Standpunkt, in denen er die Kommission in diesem Bereich zu entschlossenem Handeln aufrief.

Brüssel, den 24. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  COM(2011) 689 final.

(2)  In den meisten Ländern treffen die strafrechtlichen Instrumente derzeit zum größten Teil die Drogenkonsumenten, die Drogenhändler nur in geringem Maße.

(3)  Art. 83 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

(4)  Beispielsweise der Rahmenbeschluss 2004/757/JI des Rates vom 25. Okt 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels.

(5)  COM(2011) 689 final.

(6)  Erste europäische Konferenz über Indikatoren für das Drogenangebot: Eine gemeinsame Initiative zur Entwicklung nachhaltiger Möglichkeiten für die Überwachung der Drogenmärkte, der Drogenkriminalität und der Maßnahmen zur Reduzierung der Drogennachfrage, Europäische Kommission, 20.-22. Oktober 2010 (nur auf Englisch).

(7)  COM(2011) 573 final.

(8)  Drogenkonsumenten riskieren für dasselbe Delikt (z.B. die Abgabe geringer Drogenmengen durch Konsumenten) in einigen Mitgliedstaaten eine zwei- bis fünfjährige Gefängnisstrafe, während in anderen Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang staatliche oder regionale förderpolitische Instrumente (Arbeitsplatzschaffung, Wohnungshilfe, soziale Hilfe usw.) zum Einsatz kommen.

(9)  Einheitsabkommen der Vereinten Nationen über Suchtstoffe von 1961, geändert durch das Protokoll von 1972, Einheitsabkommen der Vereinten Nationen über psychotrope Stoffe von 1971, Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen von 1988.

(10)  ABl. C 175 vom 27.7.2007, S. 78-84.

ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 10-14.


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