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Document 52012IE1289

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Finanz- und Steueroasen, eine Bedrohung für den EU-Binnenmarkt“ (Initiativstellungnahme)

ABl. C 229 vom 31.7.2012, p. 7–12 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/7


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Finanz- und Steueroasen, eine Bedrohung für den EU-Binnenmarkt“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 229/02

Berichterstatter: Edgardo Maria IOZIA

Mitberichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Finanz- und Steueroasen, eine Bedrohung für den EU-Binnenmarkt.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 24. Mai) mit 144 gegen 30 Stimmen bei 13 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die EU muss mit allen Mitteln ihre Maßnahmen im Rahmen der G-20, der OECD und der Financial Action Task Force (FATF) intensivieren, um intransparenten Steuergebieten alsbald ein Ende zu setzen, und die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung der Kriminalität verpflichten, die in vielen dieser Gebiete ihre Basis hat.

1.2   Die Fortschritte, die innerhalb internationaler Foren wie der OECD und den G-20 bei den Standards für ein verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich erzielt worden sind, sollten die Europäische Union nicht daran hindern, höhere Standards anzuwenden, um die Beitreibung von rechtswidrig zum Nachteil des Binnenmarktes ins Ausland verbrachtem Kapital zu erleichtern.

1.3   Der EWSA fordert die EU-Institutionen auf, Maßnahmen zu beschließen, die den Missbrauch des „Sitzstaatprinzips“ durch künstliche Sitz- und Eigentumsregelungen verhindern, welche es Holdings ohne konkrete Aktivität oder Briefkastenfirmen ermöglichen, die wirtschaftlichen Eigentümer von der Zahlung von Steuern in ihrem Wohnsitzland abzuschirmen. Er begrüßt den Entschluss der Kommission, bis Ende des Jahres einen neuen Vorschlag bezüglich Steuer- und Finanzoasen vorzulegen, und hofft, dass die Widerstände einiger Mitgliedstaaten gegen ein wirksames Durchgreifen bei Aktivitäten zur Steuerumgehung und Steuerhinterziehung innerhalb der nationalen Steuersysteme überwunden werden können.

1.4   Die Kommission hat einen Richtlinienvorschlag [COM(2012) 85 final] veröffentlicht, in dem erstmals eine Regelung über die Sicherstellung und Einziehung von Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union vorgeschlagen wird. Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, die Einbeziehung von Steuervergehen im Zusammenhang mit der Nutzung von Steueroasen in den Anwendungsbereich der Richtlinie in Erwägung zu ziehen. Dieser Vorschlag ist Teil einer umfassenderen strategischen Initiative, die auf den Schutz der legalen Wirtschaft vor krimineller Unterwanderung gerichtet ist, und stützt sich auf Artikel 82 Absatz 2 sowie Artikel 83 Absatz 1 AEUV.

1.5   Bekanntlich handelt es sich bei den Steueroasen um eine beträchtliche Anzahl von Gebieten – insgesamt 44 – die der hoheitlichen Gewalt eines souveränen Staates unterliegen bzw. selbst souveräne Staaten sind. Selbst wenn sie keine souveräne Staaten sind, verfügen sie über eine weitreichende Verwaltungsautonomie und wenden hinsichtlich der Inhaberschaft und der Herkunft des Kapitals sowie der Funktionsweise der auf ihrem Gebiet niedergelassenen Finanzinstitute und Handelsunternehmen undurchsichtige Regelungen zur Steuerbefreiung und -ermäßigung an.

1.6   Besonders bedauerlich und gravierend sind nach Auffassung des EWSA jedoch die Praktiken von Rechts- und Steuerberatern und bestimmten Beratungsfirmen, die u.a. mithilfe von Werbung die Schaffung von juristischen Personen anbieten, um die Vorteile von Steuer- und Finanzoasen zu nutzen und so die für in Europa operierende Unternehmen geltenden Auflagen zu umgehen, insbesondere was deren Verpflichtungen zur Zahlung von Körperschaftssteuer sowie zur Transparenz der betrieblichen und finanziellen Transaktionen angeht.

1.7   Steueroasen verursachen Verzerrungen im Binnenmarkt: Sie erfordern daher ein gemeinschaftliches Handeln, das es ermöglicht, Steuergerechtigkeit zu gewährleisten und die durch diese Steueroasen ermöglichte destabilisierende Undurchsichtigkeit, Steuerhinterziehung und Korruption zu unterbinden. Auch die mögliche Einführung von Straftatbeständen in diesem Bereich darf nicht ausgeschlossen werden.

1.8   Sämtliche Hindernisse für den automatischen Informationsaustausch zwischen den Banken müssen ausgeräumt werden, damit die tatsächlichen Urheber bzw. Begünstigten der Transaktionen und Inhaber der Bankkonten leicht ermittelt werden können. Außerdem muss für die internationalen Unternehmen die Aufstellung eines nach Ländern aufgeschlüsselten Jahresabschlusses gefordert werden, in dem das Volumen der Geschäftstätigkeit, der Beschäftigten und der jeweils erzielten Gewinne für die einzelnen Länder ausgewiesen werden.

1.9   In sämtlichen genannten Bereichen müssen zusätzliche Anstrengungen unternommen werden, unbeschadet eventueller weiterer Fortschritte aufgrund weltweiter Initiativen innerhalb internationaler Organisationen, insbesondere der UNO und der OECD. Die betreffenden Maßnahmen müssen in einem Rahmen des Vertrauens und im Bemühen um gleichwertige Rechtsvorschriften verfolgt werden, wobei neue, höhere Standards für die internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung von Steueroasen angestrebt werden müssen.

1.10   Der EWSA dringt auf eine mit den wichtigsten Ländern – in erster Linie den Vereinigten Staaten – abgestimmte Initiative für einen möglichst globalen Ansatz zur Regulierung dieses Bereichs. Zugleich weist er jedoch darauf hin, dass die Schwierigkeit, ein einvernehmliches internationales Vorgehen festzulegen, die Maßnahmen der Europäischen Union keinesfalls hemmen oder verzögern darf. Die europäischen Standards – z.B. die der EU-Sparrichtlinie – zählen zu den besten der Welt. Das US-Gesetz „The Foreign Account Tax Compliance Act“ (FATCA) ist ein wichtiger Schritt der zuständigen US-Instanzen, um eine stärkere Einhaltung der Steuergesetze durch diejenigen US-Bürger zu gewährleisten, die ausländische Finanzinstrumente und Auslandskonten halten. Der amerikanische Fiskus verlangt von den ausländischen Finanzinstituten, die personenbezogenen Daten der Bürger mit finanziellen Interessen im Ausland „automatisch“ zu melden.

1.11   Unter den europäischen Ländern besitzt Belgien sehr ausgefeilte Rechtsvorschriften, die sich an dem Grundsatz „Vertraulichkeit geht vor Verbrechensbekämpfung“ orientieren. Das Bankgeheimnis wird vorgeschoben, um die steuerpolitische Agenda und die Entwicklung einer Strategie zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung hintanzustellen.

1.12   Es ist notwendig, integrierte politische Maßnahmen zu entwickeln und die verschiedenen Handlungsbereiche miteinander zu verknüpfen. Die internationalen Rechnungslegungsstandards wurden zum Schutz der Interessen der Investoren und des Marktes ersonnen: jetzt muss der Schwerpunkt auch auf den Interessen der Bürger liegen. Die Rolle des International Accounting Standards Board (IASB), bei dem es sich um eine private Einrichtung handelt, wie auch dessen Funktion hinsichtlich der Festlegung von Rechnungslegungsvorschriften sollte überdacht und sehr viel einfacher, klarer und transparenter gestaltet werden.

1.13   Der EWSA hält mit Bedauern fest, dass sich die Justiz-, Wirtschafts- und Polizeibehörden bereits seit langem darüber im klaren sind, dass die Korruptionsfälle mit öffentlichen Geldern, die illegalen Transaktionen unter Ausnutzung von Steueroasen zum Schaden der öffentlichen Finanzen, die Verheimlichung von Vermögen mittels Strohmännern sowie Geldwäsche und Bestechung größtenteils nicht möglich wären, wenn die dafür verantwortlichen Netzwerke sich nicht auf eine technisch-rechtliche Struktur stützen könnten, die ihnen Schutz im Austausch für erhebliche Vorteile bietet und die sich in einigen Fällen letztendlich an die Spitze dieser Netzwerke setzen kann. Dieser Sachverhalt erfordert ein Eingreifen der Union.

1.14   Der EWSA dringt auf die Förderung einer koordinierten Strategie zur besseren Bekämpfung des Steuerbetrugs und vor allem der „mißbräuchlichen Praktiken“ sowie zur Einschränkung der Niederlassungsfreiheit im Falle von rein künstlichen Konstrukten allein zu steuerlichen Zwecken.

2.   Einleitung

2.1   Steueroasen sind Gebiete, wo Spitzenmanager der wichtigsten Finanz- und Industrieunternehmen der Welt, Persönlichkeiten des künstlerischen oder gesellschaftlichen Jetsets und Multimillionäre, die Geschäft und Vergnügen miteinander kombinieren, auf mehr oder weniger zwielichtige Persönlichkeiten treffen, die dieselben Finanzressourcen nutzen, um Kapital in Umlauf zu bringen und zu nutzen, das nicht nur auf Kosten der Legalität erzielt wurde, sondern auch durch Wirtschaftsdelikte und kriminelle Handlungen, die von schwersten Straftaten wie Tötungsdelikten bis hin zu Erpressung, Drogen- oder Waffenhandel, Fälschung, Betrug und Täuschung, Frauenhandel und Glücksspiel reichen. Diese Gebiete sind durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten gekennzeichnet wie z.B. ihre undurchsichtige Funktionsweise sowie ein niedriges Steuerniveau für Gebietsfremde, die überdies keine Wirtschaftstätigkeit in dem betreffenden Gebiet ausüben. Auf diese Weise wird ein schädlicher Wettbewerb mit einer heimlichen Struktur geschaffen, die zu einem absolut intransparenten Rechtsstatus führt.

2.2   Das Thema Steueroasen muss unter den drei folgenden grundlegenden Aspekten untersucht werden: die Steuervorschriften und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten der Steuerhinterziehung; die Lücken im Steuerrecht und die damit verbundene Bedrohung für die Finanzstabilität; die Undurchsichtigkeit der Informationen mit der Gefahr, dass die Steueroasen für kriminelle Machenschaften genutzt werden. Der gemeinsame Nenner bei diesen Aspekten, für die jeweils die OECD, der Rat für Finanzstabilität (FSB) und die Financial Action Task Force (FATF) zuständig sind, ist die Vertraulichkeit der Informationen und der schwierige Zugang zu ihnen. Durch die Beseitigung bzw. Reduzierung der intransparenten Informationslage könnten die Probleme und Gefahren von Steueroasen erheblich verringert werden. Die gegenwärtige Debatte in der OECD über die Standards sollte fortgesetzt werden mit dem Ziel, den Aufwand für die Steuerbehörden und die Gerichte zu verringern. Es besteht wirklich die Gefahr, dass zu schwache und zu komplizierte Standards vereinbart werden, nur um der öffentlichen Meinung zu gefallen (Window dressing). Die einfachste Lösung für dieses Problem wäre der automatische Informationsaustausch.

2.3   Das Phänomen von Steuer- und Finanzoasen ist eng mit der Geschichte des Kapitalismus verknüpft, die Beispiele reichen bis ins späte Mittelalter zurück. Die Französische Revolution und die industrielle Revolution markieren einen entscheidenden Meilenstein für das Entstehen und die Entwicklung von Steueroasen.

2.4   Das Phänomen hat in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg enorme Ausmaße angenommen und sich auf der ganzen Welt verbreitet – im pazifischen und karibischen Raum und auf Atlantikinseln, aber auch in kleinen und kleinsten europäischen Staaten. Allein in den Steuer-, Finanz- und Unternehmerparadiesen im geografischen Gebiet Europas wurden schätzungsweise 1 Mio. Firmen plus die doppelte Anzahl von Trusts gegründet. Laut Raymond Baker, Direktor von Global Finance Integrity, sind allein auf den Britischen Jungferninseln 619.916 Unternehmen registriert, d.h. 20 pro Einwohner.

2.5   Der derzeitige wirtschaftliche Rahmen ist gekennzeichnet durch die Globalisierung des Waren- und Dienstleistungsverkehrs, den freien Kapitalverkehr und die massive Nutzung neuer Technologien auch für internationale Finanz- und Handelstransaktionen. Obwohl es in den meisten Finanzinstituten eine für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen zuständige „Compliance“-Abteilung gibt, sind die tagtäglich in enormen Mengen anfallenden Transaktionen nicht ausreichend geregelt.

2.6   Der europäische Binnenmarkt, die Finanz- und Handelsmärkte im Hinblick auf ihr reibungsloses Funktionieren und die Wirtschaft im Hinblick auf ihre geordnete Entwicklung im Einklang mit gemeinsamen Regeln zur Wahrung des Gemeinwohls haben es mit enorme Geldmengen zu tun, die in entgegenkommenden Gebieten und Ländern geparkt sind, beschützt von mächtigen Interessen, die ganze Verwaltungen korrumpieren und gefügig machen können.

2.7   Die Steueroasen verursachen Verzerrungen sowohl auf makro- als auch mikroökonomischer Ebene. Auf makroökonomischer Ebene können sie die Stabilität der Finanzsysteme bedrohen. Darüber hinaus wird durch die Möglichkeit der Umgehung oder Hinterziehung der Steuern auf Immobilien- und/oder Finanzinvestititionen das Steueraufkommen der Staaten verringert, was unvermeidlich durch die Besteuerung der Einkünfte aus Arbeit wettgemacht werden muss: Steueroasen verzerren somit das korrekte Gleichgewicht der Besteuerung von Kapital und Arbeit. Auf mikroökonomischer Ebene findet eine Verzerrung zwischen Groß-, Klein- und Kleinunternehmen statt: die durch Steueroasen eröffneten Möglichkeiten der Steuerumgehung oder gar der aggressiven Steuerplanung nehmen bei diesen drei Unternehmenstypen in der Reihenfolge ihrer Nennung immer weiter ab.

2.8   In den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts wurden infolge der beiden Katastrophen in den Vereinigten Staaten von Amerika – den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington sowie der mit der Pleite von Lehman Brothers im September 2008 ausgelösten Finanzkrise –, konzertierte Aktionen der internationalen Gemeinschaft zur Regulierung der so genannten Steuer- und Finanzoasen gefördert.

3.   Finanz- und Steueroasen

3.1   Die unerwünschten Folgen derartiger Systeme haben vielfach zu strafrechtlicher Verfolgung wegen Finanzierung des internationalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität, wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche geführt; sie haben Systemrisiken auf den Finanzmärkten bewirkt und die Grundprinzipien des freien Wettbewerbs beschädigt.

3.2   Infolge dessen wurden, wie oben ausgeführt, in den letzten Jahren weltweite Maßnahmen angestoßen, und es wurde die Einrichtung geeigneter Strukturen und Mechanismen beschlossen, um gemeinsam auf die Bedrohungen für die nationale Sicherheit der Staaten und das Wohlergehen ihrer Bürger zu reagieren.

Bei den verschiedenen auf internationaler Ebene gefassten Beschlüssen wurde mit dem Übereinkommen des Gipfeltreffens der G-20 vom 2. April 2009 in London vielleicht ein entscheidender Durchbruch gegenüber den früheren Ansätzen erzielt.

3.3   Der EWSA befürwortet die Einführung von Maßnahmen zur Bekämpfung von Betrug und anderen illegalen Aktivitäten zu Lasten der finanziellen Interessen der EU und der Mitgliedstaaten sowie zur Gewährleistung der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden durch den Austausch von Informationen in Steuerfragen; er spricht sich außerdem dafür aus, der EU die Genehmigung zu erteilen, Verhandlungen mit Blick auf den Abschluss eines Abkommens zwischen der Europäischen Union einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Bekämpfung von direktem Steuerbetrug und direkter Steuerhinterziehung und zur Gewährleistung der Verwaltungszusammenarbeit durch den Austausch von Informationen in Steuerfragen aufzunehmen.

3.4   Gemäß dem vorgenannten Übereinkommen des G20-Gipfels wird die Methode der Analysen und Empfehlungen in der bisherigen Vorgehensweise der mit diesem Problem konfrontierten Organisationen und Foren aufgegeben und eine Verurteilung der „nicht kooperierenden Gebiete“, einschließlich sämtlicher Steuer- und Finanzparadiese, gefordert. Vorgeschlagen werden außerdem unilaterale, bilaterale und multilaterale Sanktionen, die schrittweise Abschaffung des Bankgeheimnisses sowie die regelmäßige Veröffentlichung von Listen der zuwiderhandelnden Gebiete.

3.5   Die anschließende Umsetzung dieser Verpflichtungen der G-20 ist jedoch sehr enttäuschend. Hierfür sind verschiedene Gründe anzuführen.

3.6   Viele Gebiete konnten sich von der Einstufung als nicht kooperierendes Rechtsgebiet freimachen, indem sie einfach mindestens 12 bilaterale Steuerabkommen unterzeichneten, nämlich untereinander (beispielsweise das Abkommen zwischen Liechtenstein und Monaco).

3.7   Kurz, es reicht aus, dass auf Ersuchen der für die Durchführung der einschlägigen Maßnahmen zuständigen Behörden (Finanzämter, Strafverfolgungsbehörden usw.) ein Informationsaustausch gewährleistet wird, ohne dass die Behörden des ersuchten Gebietes dies unter Berufung auf das nationale Interesse, das Bankgeheimnis oder ähnliche Gründe ablehnen können.

3.8   In diesen Fällen offenbart sich die Unwirksamkeit des bilateralen Vorgehens, weshalb auf die Verbesserung des Vorgehens auf internationaler (multilateraler) und auf den supranationalen Ebenen hingewirkt werden sollte.

Das Netzwerk Steuergerechtigkeit hat dies in seinem Bericht vom 4. Oktober 2011 bestätigt, in dem fast alle seit 2009 aufgesetzten bilateralen Abkommen als unwirksam eingestuft werden. Diese Organisation hat einen Schattenfinanzindex für mangelnde Steuertransparenz auf der Grundlage zweier Kriterien erstellt: Behinderung von Auskunftsersuchen zuständiger Behörden anderer Länder und Gewicht des vermutlich intransparenten Rechtsgebiets auf dem Weltmarkt.

3.9   Andererseits zeigen auch verschiedene Fachberichte (wie der der Organisation „Global Financial Integrity“), dass die illegalen Kapitalströme immer größer werden und um jährlich mehr als 10 % zunehmen, was verheerende Folgen hat, wie die Verschärfung der Staatsschuldenkrisen in vielen Ländern der internationalen Gemeinschaft und insbesondere in einigen EU-Mitgliedstaaten.

3.10   Leider hat nur die EU einen glaubhaften Handlungsrahmen in diesem Bereich abgesteckt, der allerdings auch nur unzureichend umgesetzt wird.

3.11   Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die Umsetzung der Richtlinie 2003/48/EG im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen (natürlicher Personen) in anderen Mitgliedstaaten.

3.12   Seit Inkrafttreten dieser Richtlinie wurden allerdings Verfahren für den automatischen Austausch von Steuerdaten zwischen allen Mitgliedstaaten eingerichtet und auf die Unterzeichnung von Abkommen mit den vier Staaten hingewirkt, die als größte Finanz- und Steueroasen in Europa eingestuft werden (Andorra, Liechtenstein, Fürstentum Monaco und San Marino).

3.13   Doch diese Staaten wie auch die Schweiz unterhalten jeweils unterschiedliche Beziehungen zur Europäischen Union, wodurch sich die Anwendung dieser Abkommen sehr kompliziert gestaltet. So ist zum Beispiel Liechtenstein zwar Unterzeichner des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, in Zivil- und Handelssachen jedoch nicht verpflichtet, auf dem gleichen Niveau mit den jeweiligen Verwaltungsbehörden zu kooperieren, da das Land nicht Vertragspartei des Lugano II-Übereinkommens vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist.

3.14   Es steht zu hoffen, dass diese Änderung des Rechtsstatus bald die erwarteten Veränderungen bewirkt, da mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, namentlich Artikel 8 Absatz 2 EUV (und die entsprechende Erklärung zu diesem Artikel, Nr. 3) die Schaffung struktureller Verbindungen mit den kleinen Nachbarstaaten unterstützt wird.

3.15   Zur Regelung dieser Frage sollte idealerweise eine multilaterale Partnerschaft unterzeichnet werden, um diese nicht kooperierenden Rechtsgebiete in ein einheitliches Modell innerhalb des natürlichen geopolitischen und wirtschaftsrechtlichen Raums aufzunehmen.

3.16   Ebenso hat die Europäische Kommission beim Gerichtshof Klage gegen vier Mitgliedsstaaten wegen unterbliebener Umsetzung der Richtlinie 2005/60/EG bezüglich des Einfrierens von Vermögenswerten eingereicht.

3.17   Um ein Vorgehen mit echter supranationaler Wirkung zu fördern, muss sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss der entschiedenen Haltung anschließen, die das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom April 2011 (1) bezogen hat, in der unter anderem die Verbesserung der Bekämpfung mangelnder Transparenz bei den Informationen über grenzüberschreitende Finanztransaktionen gefordert wird. Denkbar ist auch ein Instrument zur Anzeige ähnlich der Kronzeugenregelung im Wettbewerbsrecht, um einen Anreiz für die Anzeige derartiger Verhaltensweisen zu schaffen, wobei die anzeigenden Akteure durch Herabsetzung der zu verhängenden Strafe wirtschaftlich belohnt werden.

3.18   Darüber hinaus wird in Ergänzung der vorstehenden Maßnahmen auf die dringende Notwendigkeit abgestimmter Verfahren auf G-20-Ebene hingewiesen, um Gesetzeslücken im Offshore-Bereich zu schließen, mit denen die geltenden steuerlichen Rechtsvorschriften in den wichtigsten Finanzzentren der Welt derzeit umgangen werden.

3.19   Auch innerhalb der Zuständigkeitsbereichs der EU müssen dringend verbindliche Ad-Hoc-Vorschriften des Sekundärrechts erlassen werden, die unter anderem Bestimmungen enthalten, wonach natürliche bzw. privatrechtliche Personen, die Vermögenswerte oder Gesellschaften mit Sitz in Steuer- und Finanzoasen kontrollieren, keine öffentlichen Mittel in Anspruch nehmen dürfen.

3.20   2009 schätzte die OECD das in diesen Oasen angelegte Kapital auf 7 bis 11 Billionen US-Dollar und legte eine entsprechende Liste vor, die der G-20-Gruppe als Grundlage für die Einleitung eines härteren Vorgehens gegen die Staaten diente, die die internationalen Übereinkommen über Transparenz im Bank- und Steuerwesen ganz oder teilweise nicht einhalten.

3.21   Der Bericht der OECD rief eine Protestwelle insbesondere in der Schweiz, in Luxemburg und natürlich in Uruguay hervor. Auch der Fall des US-Bundesstaates Delaware wurde heftig diskutiert.

3.22   Dass Delaware eine Art Steueroase ist, wissen die Amerikaner sehr wohl: Fast die Hälfte aller an der Wall Street und im Nasdaq notierten Gesellschaften haben ihren Sitz in diesem Bundesstaat (aus dem übrigens der Vizepräsident der Vereinigten Staaten Joe Biden kommt), um weniger lokale Steuern zu zahlen, da Gewinne dort nicht besteuert werden. Weniger bekannt ist allerdings die Tatsache, dass dieser kleine US-Bundesstaat südlich von Pennsylvania Offshore-Gesellschaften große Steuervorteile gewährt und sich damit als Alternative zu den Cayman-Inseln oder den Bermudas präsentiert, was Branchenkenner allerdings seit langem wissen. Gewinne von Gesellschaften mit Sitz in Delaware werden aus Transparenzgründen den Eigentümern zugeschrieben, die, wenn sie keine amerikanischen Bürger sind und die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft außerhalb der USA stattfindet, nicht der Besteuerung in den USA unterliegen.

3.23   Geldwäsche, Steuerhinterziehung, Korruption und Veruntreuung von Geldern sind die wichtigsten und verbreitetsten Triebkräfte für diese Oasen. Diese sind Ausgangspunkt für die Angriffe auf in Schwierigkeiten geratene Staatsanleihen und auch für die groß angelegten Kampagnen zum Schutz eines uneingeschränkten freien Kapitalverkehrs, bei denen Medien, Parteien und Vertreter der Institutionen mitmachen.

3.24   Eine schlechte Steuerpolitik leistet Steuerbetrug und Steuerhinterziehung Vorschub und hat erhebliche Auswirkungen auf die nationalen Haushalte und das Eigenmittelsystems der EU.

3.25   Ein großer Teil der multinationalen Unternehmen ist so strukturiert, dass sie in den verschiedenen Rechtsgebieten, in sie tätig sind, Vorteile durch Steuerumgehung erzielen. Die unterschiedliche steuerliche Behandlung in den einzelnen Rechtsgebieten bevorteilt große internationale oder gut etablierte Unternehmen gegenüber kleinen nationalen oder noch jungen Firmen. Diese Strategien der Steuerumgehung stehen in Widerspruch zu den Grundsätzen des fairen Wettbewerbs und der Unternehmensverantwortung. Zudem werden diese Gebiete zur Operationsbasis für Organisationen und Unternehmen, die Waren ohne die von der EU geforderten Ursprungsbescheinigungen und Garantien in den Binnenmarkt einführen, was zum großen Schaden der Verbraucherinteressen und mitunter auch der öffentlichen Gesundheit geschieht. Zu diesem Zweck wird zum Beispiel das so genannte „transfer pricing“ missbraucht, bei dem die Preise für Transaktionen innerhalb einer Unternehmensgruppe auf der Grundlage von Bewertungskriterien festgelegt wird, die an die Steuerlast der Gruppe gekoppelt sind, statt für die Bewertung die normalen Marktbedingungen anzusetzen.

3.26   Multinationale Unternehmen verfügen mit Sicherheit über die erforderlichen Ressourcen, um ohne größeren Verwaltungsaufwand folgende Kennziffern nach Ländern aufgeschlüsselt öffentlich ausweisen zu können: Umsatz, Geschäftsgewinn, Transaktionen innerhalb der Gruppe, Gewinn vor Steuern, Steuer. Wenn auf diese Informationen öffentlich zugegriffen werden könnte, würde deutlicher, wer missbräuchliches transfer pricing oder eine aggressive Steuerplanung praktiziert.

3.27   Das Fehlen steuerlicher Kontrollen oder die Existenz schwacher Aufsichtsvorschriften, die mangelnde Transparenz der Informationen zur Ermittlung der natürlichen und juristischen Personen oder beliebige andere rechtliche oder administrative Umstände ermöglichen den von diesen Gebieten aus operierenden Unternehmen eine fast völlige Straffreiheit und nicht zu tolerierende Wettbewerbsvorteile sowie Schutz vor dem Vorgehen der Gerichte und Behörden von Drittstaaten.

3.28   Der EWSA verurteilt ausdrücklich die Rolle der Steueroasen bei der Förderung und Ausnutzung von Steuerumgehung und Steuerhinterziehung sowie Kapitalflucht. Die EU muss ihr eigenes Vorgehen gegen diese Erscheinungen intensivieren und konkrete Strafmaßnahmen beschließen.

3.29   Die internationale Gemeinschaft ist sich des schweren Schadens bewusst, die diese Gebiete dem Welthandel, den öffentlichen Finanzen in den einzelnen Staaten, der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und, wie die sich seit 2008 hinziehende Krise zeigt, auch der unmittelbaren Stabilität der Finanzsysteme zufügen, und hat deshalb einige zögerliche Maßnahmen zur Ermittlung und schrittweisen Abschaffung solcher Gebiete eingeleitet.

3.30   Die Ergebnisse der vereinten Anstrengungen von G-20 und UNO sowie der Bemühungen im Rahmen der OECD reichen nach wie vor nicht aus, um den Problemen im Zusammenhang mit Steueroasen und extraterritorialen Finanzzentren zu begegnen. Ihnen müssen deshalb entschlossene, wirksame und konsequente Maßnahmen folgen.

3.31   Die Aktionen der G-20-Gruppe, der Financial Action Task Force (FATF) und der OECD haben die schwere Last der durch Steueroasen und Finanzparadiese verursachten Schäden bislang jedoch nur geringfügig erleichtert.

3.32   Es gilt, die nicht kooperierenden Staaten und Gebiete zu ermitteln, die Einhaltung der Vorschriften zu bewerten und abschreckende Maßnahmen zu ergreifen, um die Einhaltung zu fördern. Der Ausschuss ist zudem der Ansicht, dass der OECD-Rahmen für die Bekämpfung von Steueroasen unbefriedigend ist, wobei das Kriterium, nach dem ein Staat als kooperierend eingestuft wird, verbessert und qualitativ aufgewertet werden muss. Überdies sollte die OECD es nicht zulassen, dass Staaten allein deshalb von ihrer schwarzen Liste genommen werden, weil sie die Einhaltung der Grundsätze des Informationsaustausches versprochen haben, ohne aber eine wirksame Anwendung dieser Grundsätze vorzusehen.

3.33   Es gibt hinreichende Anhaltspunkte um anzunehmen, dass die Finanzkrise zum Teil durch komplexe und kaum transparente Transaktionen von Akteuren mit Sitz in Staaten und Gebieten verursacht wurde, in denen das Steuergeheimnis gilt, wodurch den Anlegern und den Käufern dieser Finanzprodukte erhebliche Schäden entstanden sind. Steueroasen sind Fluchtorte für außerbilanzmäßige Geschäfte der Finanzinstitute und für komplexe Finanzprodukte, die nicht zur Innovation des Finanzsektors beigetragen haben und dessen Stabilität gefährden. Es gibt ausreichende Beweise dafür, dass zahlreiche ausländische Direktinvestitionen insbesondere in den Entwicklungsländern aus Steueroasen stammen.

3.34   Die Europäische Union ist sich der Lage bewusst und einige ihrer Institutionen haben deshalb regelmäßig derartige Praktiken verurteilt. Leider ist es der EU nicht gelungen, einen supranationalen verwaltungstechnischen Rechtsrahmen zu fördern, der den Spielraum der Straflosigkeit einengt.

3.35   Das Vorgehen der EU richtete sich vor allem auf die Abschaffung von ungefähr 100 schädlichen steuerlichen Regelungen in Rechtsgebieten ihrer Mitgliedstaaten mit schwacher finanzieller Kontrolle oder in Drittstaaten außerhalb der EU. In diesem Zusammenhang hat die Europäische Union 2009 und 2010 zwei Mitteilungen und einen Verhaltenskodex über verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veröffentlicht. Zudem gibt es in diesem Bereich drei EU-Richtlinien, eine über die Einnahmen aus Vermögenswerten, die wegen Steuerhinterziehung beschlagnahmt wurden, eine über die Verwaltungszusammenarbeit und eine über die Besteuerung von Zinserträgen (die derzeit überarbeitet wird). Darüber hinaus ist es gängige Praxis, dass die EU in ihre mit Drittstaaten geschlossenen Abkommen über Assoziierung, Handel und Kooperation Klauseln über die Einhaltung verantwortlicher Vorgehensweisen aufnimmt.

3.36   Dessen ungeachtet gibt es nur wenige Fortschritte, weil die Zuständigkeiten im Bereich der Untersuchung und der Sanktionen bei den Mitgliedstaaten liegen.

3.37   Nach Ansicht der Banken hat das besagte US-Gesetz deutlich gezeigt, dass der einseitige Erlass derartiger Maßnahmen den Finanzinstituten unüberwindliche Probleme bereitet, die sich aus der Unvereinbarkeit der durch das FATCA aufgestellten Pflichten für Mitteilung, Einbehaltung und Rechnungsabschluss mit der EU-Gesetzgebung und/oder dem innerstaatlichen Recht des Landes, in dem das Finanzinstitut seinen Sitz hat, ergeben.

3.38   Am 4. März 2009 hielt der damalige britische Premierminister eine wichtige Rede vor dem amerikanischen Kongress, in der er die amerikanischen Partner aufrief, sich gemeinsam für ein global reguliertes Wirtschaftssystem als Gegenentwurf zur Ausnutzung der Finanzsysteme zur bloßen persönlichen Bereicherung einzusetzen.

Brüssel, den 24. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 6. April 2011 zu dem Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften und der Betrugsbekämpfung – Jahresbericht 2009 (2010/2247(INI).


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