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Dokument 62017CJ0478

Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 4. Oktober 2018.
IQ gegen JP.
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Cluj.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 15 – Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann – Anwendungsbereich – Art. 19 – Rechtshängigkeit.
Rechtssache C-478/17.

Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2018:812

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

4. Oktober 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 15 – Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann – Anwendungsbereich – Art. 19 – Rechtshängigkeit“

In der Rechtssache C‑478/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunalul Cluj (Landgericht Cluj, Rumänien) mit Entscheidung vom 17. Juli 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 9. August 2017, in dem Verfahren

IQ

gegen

JP

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits und A. Borg Barthet (Berichterstatter), der Richterin M. Berger und des Richters F. Biltgen,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der rumänischen Regierung, zunächst vertreten durch R. H. Radu, C.‑M. Florescu, und R. Mangu, dann durch C.‑R. Canţăr, C.‑M. Florescu und R. Mangu als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und D. Calciu als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Juli 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen IQ und JP wegen u. a. der Ausübung der elterlichen Verantwortung für ihre drei gemeinsamen Kinder nach ihrer Scheidung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 12 und 13 der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„(12)

Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.

(13)

Nach dieser Verordnung kann das zuständige Gericht den Fall im Interesse des Kindes ausnahmsweise und unter bestimmten Umständen an das Gericht eines anderen Mitgliedstaats verweisen, wenn dieses den Fall besser beurteilen kann. …“

4

Art. 1 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

„Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

b)

die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.“

5

Art. 2 Nr. 1 der Verordnung bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

‚Gericht‘ alle Behörden der Mitgliedstaaten, die für Rechtssachen zuständig sind, die gemäß Artikel 1 in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen“.

6

Kapitel II Abschnitt 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 enthält Zuständigkeitsvorschriften bezüglich der Ehescheidung, der Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und der Ungültigerklärung einer Ehe. In diesem Abschnitt 1 der Verordnung bestimmt Art. 3 („Allgemeine Zuständigkeit“) Abs. 1:

„Für Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig,

a)

in dessen Hoheitsgebiet

der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat …

…“

7

Kapitel II Abschnitt 2 der Verordnung sieht in den Art. 8 bis 15 eine Gesamtheit von Zuständigkeitsregeln auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung vor.

8

Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung bestimmt:

„(1)   Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)   Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.“

9

Art. 12 („Vereinbarung über die Zuständigkeit“) der Verordnung sieht in den Abs. 1 und 2 vor:

„(1)   Die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem nach Artikel 3 über einen Antrag auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe zu entscheiden ist, sind für alle Entscheidungen zuständig, die die mit diesem Antrag verbundene elterliche Verantwortung betreffen, wenn

a)

zumindest einer der Ehegatten die elterliche Verantwortung für das Kind hat

und

b)

die Zuständigkeit der betreffenden Gerichte von den Ehegatten oder von den Trägern der elterlichen Verantwortung zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt wurde und im Einklang mit dem Wohl des Kindes steht.

(2)   Die Zuständigkeit gemäß Absatz 1 endet,

a)

sobald die stattgebende oder abweisende Entscheidung über den Antrag auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe rechtskräftig geworden ist,

b)

oder in den Fällen, in denen zu dem unter Buchstabe a) genannten Zeitpunkt noch ein Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung anhängig ist, sobald die Entscheidung in diesem Verfahren rechtskräftig geworden ist,

c)

oder sobald die unter den Buchstaben a) und b) genannten Verfahren aus einem anderen Grund beendet worden sind.“

10

Art. 15 („Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann“) der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„(1)   In Ausnahmefällen und sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht, kann das Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls besser beurteilen kann,

a)

die Prüfung des Falls oder des betreffenden Teils des Falls aussetzen und die Parteien einladen, beim Gericht dieses anderen Mitgliedstaats einen Antrag gemäß Absatz 4 zu stellen, oder

b)

ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ersuchen, sich gemäß Absatz 5 für zuständig zu erklären.

(2)   Absatz 1 findet Anwendung

a)

auf Antrag einer der Parteien oder

b)

von Amts wegen oder

c)

auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung gemäß Absatz 3 hat.

Die Verweisung von Amts wegen oder auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats erfolgt jedoch nur, wenn mindestens eine der Parteien ihr zustimmt.

(3)   Es wird davon ausgegangen, dass das Kind eine besondere Bindung im Sinne des Absatzes 1 zu dem Mitgliedstaat hat, wenn

a)

nach Anrufung des Gerichts im Sinne des Absatzes 1 das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erworben hat oder

b)

das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hatte oder

c)

das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt oder

d)

ein Träger der elterlichen Verantwortung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hat oder

e)

die Streitsache Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung oder der Erhaltung des Vermögens des Kindes oder der Verfügung über dieses Vermögen betrifft und sich dieses Vermögen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet.

(4)   Das Gericht des Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, setzt eine Frist, innerhalb deren die Gerichte des anderen Mitgliedstaats gemäß Absatz 1 angerufen werden müssen.

Werden die Gerichte innerhalb dieser Frist nicht angerufen, so ist das befasste Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(5)   Diese Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats können sich, wenn dies aufgrund der besonderen Umstände des Falls dem Wohl des Kindes entspricht, innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Anrufung gemäß Absatz 1 Buchstabe a) oder b) für zuständig erklären. In diesem Fall erklärt sich das zuerst angerufene Gericht für unzuständig. Anderenfalls ist das zuerst angerufene Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(6)   Die Gerichte arbeiten für die Zwecke dieses Artikels entweder direkt oder über die nach Artikel 53 bestimmten Zentralen Behörden zusammen.“

11

Abschnitt 3 („Gemeinsame Bestimmungen“) von Kapitel II der Verordnung enthält u. a. Art. 19 („Rechtshängigkeit und abhängige Verfahren“), der in den Abs. 2 und 3 bestimmt:

„(2)   Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.

(3)   Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.

In diesem Fall kann der Antragsteller, der den Antrag bei dem später angerufenen Gericht gestellt hat, diesen Antrag dem zuerst angerufenen Gericht vorlegen.“

Rumänisches Recht

12

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Art. 448 Abs. 1 Nr. 1 des Codul de procedură civilă român (rumänische Zivilprozessordnung) vorsieht, dass erstinstanzliche Entscheidungen auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung vollstreckbar sind. Außerdem können erstinstanzliche Gerichtsentscheidungen auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung nach den rumänischen Prozessrechtsvorschriften nur aufgehoben werden, wenn dem Rechtsmittel der Berufung stattgegeben wird.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13

Aus der Ehe von JP und IQ sind drei Kinder hervorgegangen, die seit 2012 mit ihrer Mutter IQ im Vereinigten Königreich wohnen.

14

Am 26. November 2014 erhob die Klägerin IQ bei der Judecătoria Cluj-Napoca (Amtsgericht Cluj-Napoca, Rumänien) Scheidungsklage gegen ihren Ehemann JP mit Wohnsitz in Floreşti (Rumänien). Sie beantragte bei diesem Gericht auch, ihr die ausschließliche Ausübung der elterlichen Verantwortung für die drei aus der Ehe hervorgegangenen Kinder zu übertragen, deren Unterbringung bei ihr anzuordnen und JP zur Zahlung von Unterhalt für die drei Kinder zu verurteilen.

15

JP erhob Widerklage, mit der er beantragte, die einvernehmliche Scheidung – hilfsweise die Scheidung wegen gemeinsamen Verschuldens – auszusprechen, die Ausübung der elterlichen Verantwortung für die drei aus der Ehe hervorgegangenen Kinder beiden Elternteilen gemeinsam zu übertragen und eine Regelung betreffend die persönlichen Beziehungen zu den Kindern festzulegen.

16

In der mündlichen Verhandlung vom 28. September 2015 stellte die Judecătoria Cluj-Napoca (Amtsgericht Cluj-Napoca) nach Prüfung ihrer internationalen Zuständigkeit fest, dass sie für die Entscheidung über den Rechtsstreit zuständig sei. Da sich die Parteien auf eine einvernehmliche Scheidung einigten, stellte das Gericht fest, dass die Voraussetzungen für die Entscheidung über dieses Antragsbegehren erfüllt seien. Folglich sprach es die einvernehmliche Scheidung aus, trennte die Nebenanträge zur weiteren Prüfung von den die Scheidung betreffenden Anträgen ab und bestimmte einen Termin zur Beweisaufnahme.

17

Mit Zivilurteil gab die Judecătoria Cluj-Napoca (Amtsgericht Cluj-Napoca) der Klage von IQ und der Widerklage von JP teilweise statt, übertrug die Ausübung der elterlichen Verantwortung für die drei aus der Ehe hervorgegangenen Kinder beiden Eltern gemeinsam, bestimmte den Aufenthalt der Kinder am Wohnsitz von IQ und legte den von JP gegenüber den Kindern geschuldeten Unterhalt sowie eine Regelung betreffend die persönlichen Beziehungen des Vaters zu den Kindern fest.

18

Am 7. September 2016 legten IQ und JP gegen diese Entscheidung beim vorlegenden Gericht, dem Tribunalul Cluj (Landgericht Cluj, Rumänien), Berufung ein.

19

Vor diesem Gericht beantragt IQ, ihr die ausschließliche Ausübung der elterlichen Verantwortung zu übertragen und eine restriktivere Regelung betreffend die persönlichen Beziehungen des Vaters zu den Kindern festzulegen. JP seinerseits beantragt, diese Regelung auszuweiten.

20

Am 26. Dezember 2016 beantragte IQ beim High Court of Justice (England & Wales), Family Division (family court), Birmingham (Hoher Gerichtshof [England & Wales], Familienabteilung [Familiengericht], Birmingham, Vereinigtes Königreich), eine Unterlassungsverfügung gegen JP. Am 3. Januar 2017 beantragte sie ferner bei diesem Gericht, über das Sorgerecht für die Kinder und die Modalitäten des Umgangsrechts von JP zu entscheiden.

21

Am selben Tag erließ das vorgenannte Gericht eine einstweilige Maßnahme, mit der dem Vater das Sorgerecht für die Kinder verwehrt wurde, bis endgültig über diese Sache entschieden sei. Außerdem forderte es das vorlegende Gericht am 2. Februar 2017 auf, sich in der Rechtssache für unzuständig zu erklären, da der Aufenthaltsort der Kinder mit Zustimmung der Eltern im Vereinigten Königreich festgelegt worden sei.

22

Mit Beschluss vom 6. Juli 2017 beantragte der High Court of Justice (England & Wales), Family Division (family court), Birmingham (Hoher Gerichtshof [England & Wales], Familienabteilung [Familiengericht], Birmingham), beim rumänischen Gericht, die Rechtssache nach Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 an ihn zu verweisen, und begründete dies damit, dass er aufgrund dessen, dass die drei betroffenen Kinder zumindest seit dem Jahr 2013 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich hätten, und zwar während des gesamten Verfahrens vor den rumänischen Gerichten, ein Gericht, das den Fall besser beurteilen könne, im Sinne dieser Bestimmung sei.

23

Das vorlegende Gericht führt aus, dass im vorliegenden Fall die Rechtssache bei dem Gericht, das um Verweisung ersucht werde, im Berufungsverfahren anhängig sei und dass bereits eine erstinstanzliche Entscheidung vorliege.

24

Dieses Gericht fragt sich, wie mit der letztgenannten Entscheidung zu verfahren ist, da diese nach Art. 448 Abs. 1 Nr. 1 der rumänischen Zivilprozessordnung grundsätzlich in dem Sinne vollstreckbar ist, dass JP die Vollstreckung dieses Urteils beantragen kann, solange es nicht aufgehoben worden ist.

25

Würde das vorlegende Gericht die Rechtssache aber gemäß Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 an den High Court of Justice (England & Wales), Family Division (family court), Birmingham (Hoher Gerichtshof [England & Wales], Familienabteilung [Familiengericht], Birmingham), verweisen, könnte es nicht mehr über die bei ihm von IQ und JP eingelegte Berufung entscheiden, so dass die erstinstanzliche Entscheidung gemäß der rumänischen Zivilprozessordnung bestehen bliebe.

26

Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Cluj (Landgericht Cluj) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Bezieht sich der in Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 verwendete Ausdruck „Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist“ sowohl auf das Gericht, das in erster Instanz über die Rechtssache entscheidet, als auch auf das Gericht, das über ein Rechtsmittel entscheidet? Fraglich ist, ob eine Verweisung der Rechtssache nach Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann, erfolgen darf, wenn das zuständige Gericht, das von einem Gericht, das den Fall besser beurteilen kann, um Verweisung der Rechtssache ersucht wird, ein Berufungsgericht ist, während es sich bei dem Gericht, das den Fall besser beurteilen kann, um ein Gericht handelt, das in erster Instanz entscheidet.

2.

Falls die erste Frage bejaht wird: Wie soll das zuständige Gericht, das die Rechtssache an das Gericht verweist, das den Fall besser beurteilen kann, mit der erstinstanzlichen Entscheidung verfahren?

Zu den Vorlagefragen

27

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation dadurch gekennzeichnet ist, dass die beiden Gerichte, das rumänische und das des Vereinigten Königreichs, ihre Zuständigkeit aus der Verordnung Nr. 2201/2003 herleiten.

28

Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht nämlich hervor, dass die rumänischen Gerichte ihre Zuständigkeit geprüft haben und sich nach Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 für zuständig erklärt haben, während das später angerufene Gericht des Vereinigten Königreichs seine Zuständigkeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung aus Art. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 herleitet, da die drei Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich haben, wo sie mit ihrer Mutter seit dem Jahr 2012 nach wie vor leben.

29

Wie der Generalanwalt in Nr. 47 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist zur Beantwortung der Vorlagefragen zu prüfen, ob Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass er in einer Situation anwendbar ist, in der die Gerichte der beiden betroffenen Mitgliedstaaten nach den Art. 8 und 12 dieser Verordnung zur Entscheidung in der Hauptsache zuständig sind.

30

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 den Gerichten eines Mitgliedstaats, die für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig sind, ermöglicht, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falles an das Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, zu verweisen, wenn dieses Gericht den Fall oder Teil des Falles besser beurteilen kann und sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht.

31

Dieser Art. 15, der zu Abschnitt 2 des Kapitels II der Verordnung Nr. 2201/2003 gehört, der eine Gesamtheit von Zuständigkeitsregeln für Verfahren enthält, die die elterliche Verantwortung betreffen, normiert eine besondere Zuständigkeitsregel, die eine Ausnahme von der allgemeinen Zuständigkeitsregel gemäß Art. 8 der Verordnung bildet, nach der die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig sind (Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 29).

32

Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ermöglicht demnach die Verweisung eines gegebenen Falles an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats als dem des normalerweise zuständigen Gerichts, wobei eine solche Verweisung ausweislich des 13. Erwägungsgrundes der Verordnung zum einen bestimmten Voraussetzungen unterliegt und zum anderen nur ausnahmsweise erfolgen darf (Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 47).

33

Daraus folgt, dass Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 dem Gericht, das normalerweise für die Entscheidung auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung – sei es nach der allgemeinen, in Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung aufgestellten Regel oder durch Vereinbarung über die Zuständigkeit nach Art. 12 der Verordnung – zuständig ist, gestattet, seine Zuständigkeit hinsichtlich des gesamten oder eines bestimmten Teils des Falles, mit dem es befasst ist, auf ein Gericht zu übertragen, das normalerweise sachlich unzuständig ist, aber in der vorliegenden Situation als das Gericht anzusehen ist, das den Fall „besser“ beurteilen kann.

34

Um festzustellen, welches Gericht den gegebenen Fall am besten beurteilen kann, ist insbesondere das Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu bestimmen, zu dem das Kind eine „besondere Bindung“ hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 50).

35

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind, um das Vorliegen einer solchen Bindung in einem bestimmten Fall zu ermitteln, die in Art. 15 Abs. 3 Buchst. a bis e der Verordnung Nr. 2201/2003 abschließend aufgeführten Umstände heranzuziehen. Folglich sind vom Verweisungsmechanismus von vornherein die Fälle ausgeschlossen, in denen es an diesen Gesichtspunkten fehlt (Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 51).

36

Es ist jedoch festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation – in der die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich, dem Mitgliedstaat, bezüglich dessen das Vorliegen einer besonderen Bindung festgestellt werden müsste, hatten und noch immer haben – keinem der in dieser Bestimmung genannten Umstände entspricht.

37

Insbesondere bezieht sich der in Art. 15 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 genannte Umstand, dass „das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hatte“, zwangsläufig auf eine Situation, in der das Kind in dem Mitgliedstaat, bezüglich dessen das Vorliegen einer besonderen Bindung festgestellt werden muss, seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, aber nicht mehr hat.

38

Außerdem zeugen alle in Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 genannten Umstände – wenn nicht ausdrücklich, so zumindest ihrem Wesen nach – von einer Nähe des Kindes zu dem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, dessen Gerichte für die Entscheidung normalerweise gemäß Art. 8 Abs. 1 bzw. Art. 12 der Verordnung zuständig sind (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 52).

39

Daraus folgt, dass das in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 bezeichnete Gericht eines anderen Mitgliedstaats – zu dem das Kind eine besondere Bindung hat –, das den Fall besser beurteilen kann, nicht das normalerweise für die Entscheidung in der Hauptsache auf der Grundlage von Art. 8 bzw. 12 der Verordnung zuständige Gericht sein kann.

40

Nach alledem ist Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen, dass er in einer Situation, in der die Gerichte der beiden Mitgliedstaaten nach den Art. 8 und 12 dieser Verordnung zur Entscheidung in der Hauptsache zuständig sind, nicht anwendbar ist.

41

Es ist zunächst festzustellen, dass jede gegenteilige Auslegung dem in Rn. 32 des vorliegenden Urteils angeführten und im 13. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 sowie im Wortlaut von Art. 15 der Verordnung klar zum Ausdruck gebrachten Willen des Unionsgesetzgebers, dem in dieser Bestimmung vorgesehenen Verweisungsmechanismus Ausnahmecharakter zu verleihen, widerspräche.

42

Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 in ihren Kapiteln II und III u. a. Regeln über die Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidungen im Bereich der elterlichen Verantwortung festlegt, wobei diese Regeln die Rechtssicherheit gewährleisten sollen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2016, Mikołajczyk, C‑294/15, EU:C:2016:772, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Eine Auslegung von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin, dass er eine Verweisung eines Falles erlaubt, obwohl die Anwendungsvoraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt sind, würde gegen die mit dieser Verordnung festgelegten Regeln über die Zuständigkeitsverteilung und daher gegen das vom Unionsgesetzgeber verfolgte Ziel der Rechtssicherheit verstoßen.

44

Schließlich hätte eine solche Auslegung in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zur Folge, dass Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003, der auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung Situationen lösen soll, in denen Gerichte verschiedener Mitgliedstaaten zuständig sind, seines Sinns entleert würde.

45

Diese Bestimmung sieht nämlich vor, dass, wenn bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht werden, das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aussetzt, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.

46

Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung erfüllt sind. Daher ist es Sache des später angerufenen High Court of Justice (England & Wales), Family Division (family court), Birmingham (Hoher Gerichtshof [England & Wales], Familienabteilung [Familiengericht], Birmingham), das Verfahren von Amts wegen auszusetzen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen vorlegenden Gerichts geklärt ist.

47

Wie in Rn. 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt, hat das vorlegende Gericht seine Zuständigkeit geprüft und sich nach Art. 12 der Verordnung Nr. 2201/2003 für zuständig erklärt. Gleichwohl hat dieses Gericht noch zu prüfen, ob seine Zuständigkeit nicht gemäß Abs. 2 dieses Artikels endete.

48

Da Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003, wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils ausgeführt, dahin auszulegen ist, dass er in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht anwendbar ist, müssen die Fragen zur Auslegung der Voraussetzungen der Durchführung dieser Vorschrift nicht beantwortet werden.

49

Nach alledem ist festzustellen, dass Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass er in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der die beiden angerufenen Gerichte nach Art. 12 bzw. 8 dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig sind, nicht anwendbar ist.

Kosten

50

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass er in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der die beiden angerufenen Gerichte nach Art. 12 bzw. 8 dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig sind, nicht anwendbar ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Rumänisch.

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