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Dokument 62010CJ0491

Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 22. Dezember 2010.
Joseba Andoni Aguirre Zarraga gegen Simone Pelz.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Oberlandesgericht Celle - Deutschland.
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen - Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 - Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung - Elterliche Verantwortung - Sorgerecht - Kindesentführung - Art. 42 - Vollstreckung einer von einem zuständigen (spanischen) Gericht erlassenen Entscheidung, mit der die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird und für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde - Befugnis des ersuchten (deutschen) Gerichts, die Vollstreckung der Entscheidung im Fall einer schwerwiegenden Verletzung der Rechte des Kindes zu verweigern.
Rechtssache C-491/10 PPU.

Sammlung der Rechtsprechung 2010 I-14247

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2010:828

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

22. Dezember 2010(*)

„Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Elterliche Verantwortung – Sorgerecht – Kindesentführung – Art. 42 – Vollstreckung einer von einem zuständigen (spanischen) Gericht erlassenen Entscheidung, mit der die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird und für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde – Befugnis des ersuchten (deutschen) Gerichts, die Vollstreckung der Entscheidung im Fall einer schwerwiegenden Verletzung der Rechte des Kindes zu verweigern“

In der Rechtssache C‑491/10 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Celle (Deutschland) mit Entscheidung vom 30. September 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Oktober 2010, in dem Verfahren

Joseba Andoni Aguirre Zarraga

gegen

Simone Pelz

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter) sowie der Richter J.‑J. Kasel, M. Ilešič, E. Levits und M. Safjan,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des Ersuchens des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Oktober 2010 gemäß Art. 104b § 1 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, die Frage zu prüfen, ob es erforderlich ist, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund der Entscheidung der Ersten Kammer vom 28. Oktober 2010, das Ersuchen diesem Verfahren zu unterwerfen,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Aguirre Zarraga, vertreten durch das Bundesamt für Justiz, dieses vertreten durch A. Schulz als Bevollmächtigte,

–        von Frau Pelz, vertreten durch Rechtsanwältin K. Niethammer-Jürgens,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch J. M. Rodríguez Cárcamo als Bevollmächtigten,

–        der französischen Regierung, vertreten durch B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,

–        der lettischen Regierung, vertreten durch M. Borkoveca und D. Palcevska als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A.‑M. Rouchaud-Joët und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,

nach Anhörung des Generalanwalts

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Aguirre Zarraga und Frau Pelz wegen der Rückkehr ihrer Tochter Andrea, die sich derzeit mit ihrer Mutter in Deutschland aufhält, nach Spanien.

 Rechtlicher Rahmen

 Verordnung Nr. 2201/2003

3        Der 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das Haager Übereinkommen vom [25.] Oktober 1980 [über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980)], das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, sollten dessen Rückgabe in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können. Jedoch sollte eine solche Entscheidung durch eine spätere Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats ersetzt werden können, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Sollte in dieser Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet werden, so sollte die Rückgabe erfolgen, ohne dass es in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, eines besonderen Verfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung bedarf.“

4        Der 19. Erwägungsgrund dieser Verordnung lautet:

„Die Anhörung des Kindes spielt bei der Anwendung dieser Verordnung eine wichtige Rolle, wobei diese jedoch nicht zum Ziel hat, die diesbezüglich geltenden nationalen Verfahren zu ändern.“

5        Der 21. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 ist wie folgt gefasst:

„Die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen sollten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein.“

6        Der 24. Erwägungsgrund der Verordnung lautet:

„Gegen die Bescheinigung, die ausgestellt wird, um die Vollstreckung der Entscheidung zu erleichtern, sollte kein Rechtsbehelf möglich sein. Sie sollte nur Gegenstand einer Klage auf Berichtigung sein, wenn ein materieller Fehler vorliegt, d. h., wenn in der Bescheinigung der Inhalt der Entscheidung nicht korrekt wiedergegeben ist.“

7        Im 33. Erwägungsgrund der Verordnung heißt es:

„Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der [am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierten] Charta der Grundrechte der Europäischen Union [ABl. L 364, S. 1, im Folgenden: Charta der Grundrechte] anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der Grundrechtscharta der Europäischen Union zu gewährleisten …“

8        Art. 11 („Rückgabe des Kindes“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(1)      Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens [von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(2)      Bei Anwendung der Artikel 12 und 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ist sicherzustellen, dass das Kind die Möglichkeit hat, während des Verfahrens gehört zu werden, sofern dies nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erscheint.

(8)      Ungeachtet einer nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, ist eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wird, im Einklang mit Kapitel III Abschnitt 4 vollstreckbar, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.“

9        In Bezug auf die Anerkennung von Entscheidungen sieht Art. 21 der Verordnung vor:

„(1)      Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.

(3)      Unbeschadet des Abschnitts 4 kann jede Partei, die ein Interesse hat, gemäß den Verfahren des Abschnitts 2 eine Entscheidung über die Anerkennung oder Nichtanerkennung der Entscheidung beantragen.

…“

10      In Art. 23 der Verordnung heißt es:

„Eine Entscheidung über die elterliche Verantwortung wird nicht anerkannt,

a)      wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, in dem sie beantragt wird, offensichtlich widerspricht, wobei das Wohl des Kindes zu berücksichtigen ist;

b)      wenn die Entscheidung – ausgenommen in dringenden Fällen – ergangen ist, ohne dass das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, und damit wesentliche verfahrensrechtliche Grundsätze des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, verletzt werden;

…“

11      Art. 42 („Rückgabe des Kindes“) der Verordnung lautet:

„(1)      Eine in einem Mitgliedstaat ergangene vollstreckbare Entscheidung über die Rückgabe des Kindes im Sinne des Artikels 40 Absatz 1 Buchstabe b), für die eine Bescheinigung nach Absatz 2 im Ursprungsmitgliedstaat ausgestellt wurde, wird in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und kann dort vollstreckt werden, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann.

Auch wenn das nationale Recht nicht vorsieht, dass eine in Artikel 11 Absatz 8 genannte Entscheidung über die Rückgabe des Kindes ungeachtet der Einlegung eines Rechtsbehelfs von Rechts wegen vollstreckbar ist, kann das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Entscheidung für vollstreckbar erklären.

(2)      Der Richter des Ursprungsmitgliedstaats, der die Entscheidung nach Artikel 40 Absatz 1 Buchstabe b) erlassen hat, stellt die Bescheinigung nach Absatz 1 nur aus, wenn

a)      das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, sofern eine Anhörung nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erschien,

b)      die Parteien die Gelegenheit hatten, gehört zu werden, und

c)      das Gericht beim Erlass seiner Entscheidung die Gründe und Beweismittel berücksichtigt hat, die der nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung zugrunde liegen.

Ergreift das Gericht oder eine andere Behörde Maßnahmen, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr in den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen, so sind diese Maßnahmen in der Bescheinigung anzugeben.

Der Richter des Ursprungsmitgliedstaats stellt die Bescheinigung von Amts wegen unter Verwendung des Formblatts in Anhang IV (Bescheinigung über die Rückgabe des Kindes) aus.

Das Formblatt wird in der Sprache ausgefüllt, in der die Entscheidung abgefasst ist.“

12      Art. 43 („Klage auf Berichtigung“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(1)      Für Berichtigungen der Bescheinigung ist das Recht des Ursprungsmitgliedstaats maßgebend.

(2)      Gegen die Ausstellung einer Bescheinigung gemäß Artikel 41 Absatz 1 oder Artikel 42 Absatz 1 sind keine Rechtsbehelfe möglich.“

13      Nach Art. 60 („Verhältnis zu bestimmten multilateralen Übereinkommen“) der Verordnung hat sie im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang u. a. vor dem Haager Übereinkommen von 1980.

 Verordnung (EG) Nr. 1206/2001

14      Die Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen (ABl. L 174, S. 1) sieht in Art. 10 Abs. 4 in Bezug auf die Nutzung moderner Kommunikationstechnologien vor:

„Das ersuchende Gericht kann das ersuchte Gericht bitten, die Beweisaufnahme unter Verwendung von Kommunikationstechnologien, insbesondere im Wege der Videokonferenz und der Telekonferenz, durchzuführen.

Das ersuchte Gericht entspricht einem solchen Antrag, es sei denn, dass dies mit dem Recht des Mitgliedstaats des ersuchten Gerichts unvereinbar oder wegen erheblicher tatsächlicher Schwierigkeiten unmöglich ist.

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

15      Aus der Vorlageentscheidung und den Verfahrensakten, die das vorlegende Gericht dem Gerichtshof übermittelt hat, geht hervor, dass die Vorgeschichte des Ausgangsrechtsstreits und die verschiedenen Verfahren, an denen die Parteien dieses Rechtsstreits beteiligt waren, wie folgt zusammengefasst werden können.

 Vorgeschichte des Ausgangsrechtsstreits

16      Herr Aguirre Zarraga, ein spanischer Staatsangehöriger, und Frau Pelz, eine deutsche Staatsangehörige, heirateten am 25. September 1998 in Erandio (Spanien). Aus dieser Ehe ist ihre am 31. Januar 2000 geborene Tochter Andrea hervorgegangen. Der gewöhnliche Aufenthaltsort der Familie befand sich in Sondka (Spanien).

17      Nachdem sich das Verhältnis zwischen Frau Pelz und Herrn Aguirre Zarraga Ende 2007 verschlechtert hatte, trennten sie sich und stellten anschließend beide vor den spanischen Gerichten Scheidungsanträge.

 Verfahren vor den spanischen Gerichten

18      Sowohl Frau Pelz als auch Herr Aguirre Zarraga beantragten die Übertragung des Sorgerechts für das gemeinsame Kind auf sich allein. Mit Beschluss vom 12. Mai 2008 übertrug der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao (Gericht erster Instanz und Ermittlungsgericht Nr. 5 von Bilbao) das Sorgerecht vorläufig auf Herrn Aguirre Zarraga, wobei der Mutter ein Umgangsrecht eingeräumt wurde. Im Anschluss an diese Entscheidung wechselte Andrea in den Haushalt des Vaters.

19      Der genannte Beschluss beruhte u. a. auf den Empfehlungen der Equipo Psicosocial Judicial (gerichtlicher psychosozialer Dienst) in einem auf Ersuchen des befassten Gerichts erstellten Gutachten. Nach diesem Gutachten sollte das Sorgerecht dem Vater übertragen werden, da er am besten in der Lage sei, den Fortbestand des familiären, schulischen und sozialen Umfelds des Kindes zu gewährleisten. Da Frau Pelz wiederholt angekündigt hatte, dass sie sich mit ihrem neuen Partner und ihrer Tochter in Deutschland niederlassen wolle, war das Gericht der Ansicht, dass die Übertragung des Sorgerechts auf die Mutter den Ergebnissen des Gutachtens zuwiderlaufen und auch nicht dem Kindeswohl entsprechen würde.

20      Im Juni 2008 verlegte Frau Pelz ihren Wohnsitz nach Deutschland, wo sie nunmehr mit ihrem neuen Partner wohnt. Im August 2008 blieb Andrea, nachdem sie die Sommerferien bei ihrer Mutter verbracht hatte, bei dieser in Deutschland. Sie ist seitdem nicht mehr zu ihrem Vater nach Spanien zurückgekehrt.

21      Da Andrea seit 15. August 2008 entgegen dem Beschluss vom 12. Mai 2008 bei ihrer Mutter in Deutschland wohnte, erließ der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao am 15. Oktober 2008 auf Antrag von Herrn Aguirre Zarraga einen neuen Beschluss über einstweilige Maßnahmen, mit dem u. a. Andrea untersagt wurde, das spanische Hoheitsgebiet in Begleitung ihrer Mutter, eines Mitglieds von deren Familie oder einer ihrer Mutter nahestehenden Person zu verlassen. Ferner wurde durch diesen Beschluss das Frau Pelz zuvor gewährte Umgangsrecht bis zum Erlass einer endgültigen Entscheidung ausgesetzt.

22      Im Juli 2009 wurde das Verfahren über das Sorgerecht von Andrea vor demselben Gericht fortgesetzt. Das Gericht war der Ansicht, dass ein erneutes Gutachten und eine persönliche Anhörung von Andrea erforderlich seien und setzte Termine fest, an denen beides in Bilbao durchgeführt werden sollte. Weder Andrea noch ihre Mutter erschien jedoch zu diesen Terminen. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts war der Antrag von Frau Pelz abgelehnt worden, ihr und ihrer Tochter zuzusichern, dass sie nach deren Begutachtung und Anhörung freies Geleit für das Verlassen des spanischen Hoheitsgebiets erhalten. Das Gericht gab auch dem ausdrücklichen Antrag von Frau Pelz, die Anhörung mittels Videokonferenz durchzuführen, nicht statt.

23      Mit Urteil vom 16. Dezember 2009 übertrug der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao das alleinige Sorgerecht für Andrea auf deren Vater. Frau Pelz legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Audiencia Provincial de Bizkaya (Provinzialgericht von Biskaya) ein und beantragte u. a., eine Anhörung von Andrea durchzuführen.

24      Mit Urteil vom 21. April 2010 lehnte dieses Gericht den Antrag mit der Begründung ab, dass nach spanischem Verfahrensrecht die Vorlage von Beweisen in der Berufungsinstanz nur in bestimmten, gesetzlich ausdrücklich festgelegten Fällen möglich sei. Das bewusste Nichterscheinen einer im ersten Rechtszug ordnungsgemäß zu einer Sitzung geladenen Partei gehöre nicht zu diesen Fällen. Im Übrigen ist das Verfahren noch bei dem genannten Gericht anhängig.

 Verfahren vor den deutschen Gerichten

25      In Deutschland fanden zwei Verfahren statt.

26      Das erste Verfahren betraf den von Herrn Aguirre Zarraga auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 gestellten Antrag auf Rückführung seiner Tochter nach Spanien. Diesem Antrag wurde zunächst vom Amtsgericht Celle mit Beschluss vom 30. Januar 2009 stattgegeben.

27      Frau Pelz legte gegen diesen Beschluss Rechtsmittel ein. Mit Beschluss vom 1. Juli 2009 gab das Oberlandesgericht Celle dem Rechtsmittel statt, hob infolgedessen den Beschluss des Amtsgerichts auf und wies den Antrag von Herrn Aguirre Zarraga auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 2 des Haager Übereinkommens von 1980 zurück.

28      Das Oberlandesgericht Celle führte u. a. aus, die von ihm durchgeführte Anhörung von Andrea habe gezeigt, dass sie der von ihrem Vater verlangten Rückführung nachhaltig widerspreche und eine Rückkehr nach Spanien ausdrücklich ablehne. Der vom Gericht daraufhin herangezogene Sachverständige sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Meinung von Andrea angesichts ihres Alters sowie ihrer Reife zu berücksichtigen sei.

29      Das zweite Verfahren vor den deutschen Gerichten wurde aufgrund einer Bescheinigung eingeleitet, die der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao am 5. Februar 2010 gemäß Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 auf der Grundlage des von ihm am 16. Dezember 2009 verkündeten Scheidungsurteils ausgestellt hatte, in dem auch über das Sorgerecht für Andrea entschieden worden war.

30      Mit Schreiben vom 26. März 2010 übermittelte das Bundesamt für Justiz dem zuständigen Gericht der Bundesrepublik Deutschland, dem Amtsgericht Celle, das genannte Urteil samt Bescheinigung. Es wies das Amtsgericht darauf hin, dass die Entscheidung des spanischen Gerichts, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet worden sei, nach § 44 Abs. 3 des Gesetzes zur Aus- und Durchführung bestimmter Rechtsinstrumente auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts von Amts wegen zu vollstrecken sei.

31      Frau Pelz widersprach der Zwangsvollstreckung der mit der Bescheinigung versehenen Entscheidung und beantragte, sie nicht anzuerkennen.

32      Mit Beschluss vom 28. April 2010 stellte das Amtsgericht Celle fest, dass das Urteil des Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao weder anzuerkennen noch zu vollstrecken sei, da er Andrea vor Erlass seiner Entscheidung nicht angehört habe.

33      Am 18. Juni 2010 legte Herr Aguirre Zarraga gegen diese Entscheidung beim Oberlandesgericht Celle Beschwerde ein und beantragte, die Entscheidung aufzuheben, die Anträge von Frau Pelz zurückzuweisen und das Urteil des Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao von Amts wegen zu vollstrecken, soweit darin die Rückkehr von Andrea zu ihm angeordnet werde.

34      Das Oberlandesgericht Celle erkennt zwar an, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats im Fall einer gemäß Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 ausgestellten Bescheinigung grundsätzlich keine eigene Prüfungsbefugnis nach Art. 21 der Verordnung habe, meint jedoch, dass bei einem besonders gravierenden Grundrechtsverstoß etwas anderes gelten müsse.

35      Hierzu führt es zum einen aus, der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao habe die aktuelle Meinung von Andrea nicht ermittelt und sie daher bei seiner Entscheidung vom 16. Dezember 2009, die u. a. das Sorgerecht für dieses Kind betreffe, nicht berücksichtigen können. Zum anderen seien die Bemühungen des spanischen Gerichts um eine Anhörung des Kindes angesichts der Bedeutung, die der Berücksichtigung der Meinung des Kindes nach Art. 24 Abs. 1 der Charta der Grundrechte zukomme, nicht ausreichend gewesen.

36      Ferner stelle sich die Frage, ob das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats für den Fall, dass es trotz eines solchen Grundrechtsverstoßes keine Prüfungsbefugnis besitzen sollte, an eine Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 gebunden sein könne, deren Inhalt offensichtlich falsch sei. Die Bescheinigung des Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao enthalte nämlich insofern eine offensichtlich falsche Angabe, als es darin heiße, dass Andrea vom spanischen Gericht angehört worden sei, obwohl dies nicht geschehen sei.

37      Unter diesen Umständen hat das Oberlandesgericht Celle beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Hat das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats ausnahmsweise in Fällen gravierender Grundrechtsverstöße in der zu vollstreckenden Entscheidung des Ursprungsmitgliedstaats bei Grundrechts-Charta konformer Auslegung des Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine eigene Prüfungskompetenz?

2.      Ist das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats trotz einer nach Aktenlage vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats offensichtlich unzutreffend ausgestellten Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 zur Vollstreckung verpflichtet?

 Zum Eilverfahren

38      Mit Memorandum vom 19. Oktober 2010 hat der Präsident des Gerichtshofs gemäß Art. 104b § 1 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Erste Kammer um Prüfung der Frage ersucht, ob es erforderlich ist, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen.

39      Hierzu geht aus der Rechtsprechung hervor, dass der Gerichtshof die Eilbedürftigkeit einer Entscheidung in Fällen der Kindesentführung u. a. dann bejaht, wenn aufgrund der Trennung eines Kindes von dem Elternteil, dem – wie im Ausgangsverfahren – zuvor das Sorgerecht, sei es auch nur vorläufig, übertragen worden war, die Gefahr besteht, dass sich ihre Beziehungen verschlechtern oder Schaden nehmen und dass ein seelischer Schaden entsteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 2008, Rinau, C‑195/08 PPU, Slg. 2008, I‑5271, Randnr. 44, vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 30, vom 1. Juli 2010, Povse, C‑211/10 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 35, und vom 5. Oktober 2010, McB., C‑400/10 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 28).

40      Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass Andrea seit über zwei Jahren von ihrem Vater getrennt ist und dass aufgrund der Distanz und des gespannten Verhältnisses zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens eine ernste und konkrete Gefahr besteht, dass es für die Dauer des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens keinerlei Kontakt zwischen Andrea und ihrem Vater geben wird. Unter diesen Umständen wäre der Rückgriff auf das normale Verfahren bei der Behandlung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens geeignet, den Beziehungen zwischen Herrn Aguirre Zarraga und seiner Tochter ernsthaft oder sogar in irreparabeler Weise zu schaden und ihre Integration in ihr familiäres und soziales Umfeld für den Fall, dass sie letztlich nach Spanien zurückkehrt, noch stärker zu gefährden.

41      Daher hat die Erste Kammer am 28. Oktober 2010 auf Vorschlag des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen.

 Zu den Vorlagefragen

42      Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens das zuständige Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats ausnahmsweise der Vollstreckung einer Entscheidung, mit der die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird und für die vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats eine Bescheinigung auf der Grundlage von Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 ausgestellt wurde, mit der Begründung entgegenstellen kann, dass das letztgenannte Gericht nach den Angaben in der Bescheinigung seiner Pflicht, vor Erlass seiner Entscheidung über die Übertragung des Sorgerechts im Rahmen eines Scheidungsverfahrens das Kind zu hören, nachgekommen ist, diese Anhörung aber nicht stattgefunden hat und dadurch gegen Art. 42 nach dessen mit Art. 24 der Charta der Grundrechte konformer Auslegung verstoßen wurde.

43      Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunächst festzustellen, dass es sich in einem Kontext wie dem des Ausgangsverfahrens um ein widerrechtliches Zurückhalten eines Kindes im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 handelt.

44      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 120 und 121 seiner Stellungnahme ausgeführt hat, geht diese Verordnung aber von dem Postulat aus, dass durch das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes unter Verstoß gegen eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene gerichtliche Entscheidung das Wohl dieses Kindes schwerwiegend beeinträchtigt wird, und sieht daher Maßnahmen vor, die seine schnellstmögliche Rückkehr an seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort ermöglichen sollen. Hierzu hat die Verordnung ein System geschaffen, nach dem im Fall einer unterschiedlichen Beurteilung durch das Gericht des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes und das Gericht des Ortes, an dem es sich widerrechtlich befindet, das erstgenannte Gericht für die Entscheidung über die Rückkehr des Kindes ausschließlich zuständig bleibt.

45      Das einem solchen System zugrunde liegende Beschleunigungsgebot verlangt, dass unter derartigen Umständen die mit einem Antrag auf Rückgabe des Kindes befassten nationalen Gerichte rasch entscheiden. Zu diesem Zweck schreibt Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 diesen Gerichten im Übrigen vor, sich der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts zu bedienen und ihre Anordnung spätestens sechs Wochen nach ihrer Befassung mit dem Antrag zu erlassen, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.

46      Hinzuzufügen ist, dass das durch die Verordnung Nr. 2201/2003 geschaffene System, damit dieses Ziel erreicht wird, auf der zentralen Rolle des nach ihren Bestimmungen für die Entscheidung in der Hauptsache zuständigen Gerichts beruht und dass es, abweichend vom 21. Erwägungsgrund dieser Verordnung, nach dem die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein sollten, im 17. Erwägungsgrund der Verordnung heißt, dass bei widerrechtlichem Zurückhalten eines Kindes die Umsetzung einer Entscheidung, in der dessen Rückgabe angeordnet wird, erfolgen soll, ohne dass es in dem Mitgliedstaat, in dem sich das Kind befindet, eines besonderen Verfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung bedarf.

47      Deshalb sieht die Verordnung Nr. 2201/2003 mit dem Ziel, eine rasche Vollstreckung insbesondere von Entscheidungen zu erreichen, mit denen – wie im Ausgangsverfahren – unter den in Art. 11 Abs. 8 der Verordnung genannten Umständen die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird, in ihren Art. 40 bis 45 ein spezielles Verfahren zur Herbeiführung der Vollstreckbarkeit dieser Entscheidungen in dem Mitgliedstaat vor, in dem sie ihre Wirkungen entfalten sollen.

48      So geht aus den Art. 42 Abs. 1 und 43 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 bei Auslegung im Licht der Erwägungsgründe 17 und 24 hervor, dass eine Entscheidung, mit der das nach dieser Verordnung zuständige Gericht die Rückgabe eines Kindes anordnet, in einem anderen Mitgliedstaat – wenn sie vollstreckbar ist und für sie im Ursprungsmitgliedstaat eine Bescheinigung im Sinne von Art. 42 Abs. 1 ausgestellt wurde – anerkannt wird und automatisch vollstreckbar ist, ohne dass die Möglichkeit besteht, sich ihrer Anerkennung entgegenzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteile Rinau, Randnr. 84, und Povse, Randnr. 70).

49      Folglich kann das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats lediglich die Vollstreckbarkeit einer solchen mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung feststellen.

50      Überdies ist die Erhebung einer Klage auf Berichtigung der vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats ausgestellten Bescheinigung oder die Geltendmachung von Zweifeln an der Echtheit dieser Bescheinigung nur nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats zulässig (vgl. in diesem Sinne Urteil Povse, Randnr. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung). Um eine rasche Vollstreckung der betreffenden Entscheidungen zu gewährleisten und zu verhindern, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 durch einen Verfahrensmissbrauch ihre Wirksamkeit verlieren, ist zudem selbst im Ursprungsmitgliedstaat gegen die Ausstellung einer Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung jeder andere Rechtsbehelf als eine Klage auf Berichtigung im Sinne ihres Art. 43 Abs. 1 ausgeschlossen (vgl. in diesem Sinne Urteil Rinau, Randnr. 85).

51      Ferner geht aus der Rechtsprechung hervor, dass im Rahmen der durch die Verordnung Nr. 2201/2003 geschaffenen klaren Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats und des Vollstreckungsmitgliedstaats, die auf die rasche Rückgabe des Kindes abzielt, Fragen, die die Rechtmäßigkeit der die Rückgabe anordnenden Entscheidung als solche betreffen, und insbesondere die Frage, ob die Voraussetzungen vorliegen, die es dem zuständigen Gericht ermöglichen, diese Entscheidung zu erlassen, vor den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats nach dessen Recht geltend zu machen sind (Urteil Povse, Randnr. 74).

52      Im Licht dieser Grundsätze ist Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 auszulegen, dem zufolge das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 1 nur ausstellt, wenn das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, sofern eine Anhörung nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erschien (Buchst. a), die Parteien die Gelegenheit hatten, gehört zu werden (Buchst. b), und das Gericht beim Erlass seiner Entscheidung die Gründe und Beweismittel berücksichtigt hat, die der nach Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung zugrunde liegen (Buchst. c).

53      Zunächst ist festzustellen, dass mit Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung kein anderer Zweck verfolgt wird als der, dem Gericht des Ursprungsmitgliedstaats den erforderlichen Mindestinhalt der Entscheidung zu erläutern, auf deren Grundlage die Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 1 ausgestellt wird.

54      Außerdem ist angesichts der in den Randnrn. 48, 50 und 51 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung festzustellen, dass Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 keine Befugnis des Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats vorsieht, die dort aufgestellten Voraussetzungen für die Ausstellung der Bescheinigung zu überprüfen.

55      Eine solche Befugnis würde nämlich die praktische Wirksamkeit des durch die Verordnung Nr. 2201/2003 geschaffenen und in den Randnrn. 44 bis 51 des vorliegenden Urteils beschriebenen Systems in Frage stellen.

56      Hat ein Gericht eines Mitgliedstaats die Bescheinigung nach Art. 42 ausgestellt, so ist das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats folglich verpflichtet, die mit der Bescheinigung versehene Entscheidung zu vollstrecken, ohne dass es sich deren Anerkennung oder Vollstreckbarkeit entgegenstellen kann.

57      Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass die in den Art. 23 und 31 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Gründe, die das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats berechtigen, eine Entscheidung über die elterliche Verantwortung nicht anzuerkennen oder nicht für vollstreckbar zu erklären, und zu denen ein offensichtlicher Widerspruch zur öffentlichen Ordnung dieses Mitgliedstaats sowie die Verletzung wesentlicher verfahrensrechtlicher Grundsätze des Mitgliedstaats zählen, nach denen das Kind die Möglichkeit gehabt haben muss, gehört zu werden, nicht als Gründe übernommen wurden, die eine solche Weigerung des Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats im Rahmen der Verfahren in Kapitel III Abschnitt 4 der Verordnung rechtfertigen können (vgl. in diesem Sinne Urteil Rinau, Randnrn. 91, 97 und 99).

58      Das vorlegende Gericht möchte jedoch mit seiner ersten Frage wissen, ob die genannte Auslegung auch dann geboten ist, wenn die Entscheidung des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats, die aufgrund der für sie ausgestellten Bescheinigung zu vollstrecken ist, in gravierender Weise gegen Grundrechte verstößt.

59      Hierzu ist festzustellen, dass die durch die Bestimmungen von Kapitel III Abschnitt 4 der Verordnung Nr. 2201/2003 geschaffene klare Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats und des Vollstreckungsmitgliedstaats (vgl. in diesem Sinne Urteil Povse, Randnr. 73) auf der Prämisse beruht, dass die genannten Gerichte in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen die Verpflichtungen einhalten, die ihnen die Verordnung im Einklang mit der Charta der Grundrechte auferlegt.

60      Insoweit sind, da die Verordnung Nr. 2201/2003 nicht gegen diese Charta verstoßen darf, die Bestimmungen von Art. 42 der Verordnung, mit denen das Recht des Kindes, gehört zu werden, umgesetzt wird, im Licht von Art. 24 der Charta auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil McB., Randnr. 60).

61      Im Übrigen heißt es im 19. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003, dass die Anhörung des Kindes bei ihrer Anwendung eine wichtige Rolle spielt, und in ihrem 33. Erwägungsgrund wird allgemeiner hervorgehoben, dass die Verordnung im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen steht, die mit der Charta der Grundrechte anerkannt wurden, und dass sie insbesondere darauf abzielt, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Art. 24 der Charta zu gewährleisten.

62      Hierzu ist zunächst festzustellen, dass sich Art. 24 der Charta und Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht auf die Anhörung des Kindes als solche beziehen, sondern auf die Möglichkeit des Kindes, gehört zu werden.

63      Zum einen verlangt Art. 24 nämlich in Abs. 1, dass die Kinder ihre Meinung frei äußern können und dass ihre Meinung in den Angelegenheiten, die sie betreffen, allein „in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise“ berücksichtigt wird, und nach Abs. 2 muss bei allen ein Kind betreffenden Maßnahmen dessen Wohl berücksichtigt werden; das Wohl des Kindes kann es daher rechtfertigen, von seiner Anhörung abzusehen. Zum anderen muss nach Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a das Kind die Möglichkeit gehabt haben, gehört zu werden, „sofern eine Anhörung nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erschien“.

64      Dies bedeutet, dass das Gericht, das über die Rückgabe eines Kindes zu entscheiden hat, die Zweckmäßigkeit einer solchen Anhörung beurteilen muss, da die Konflikte, die eine Entscheidung über die Übertragung des Sorgerechts auf einen Elternteil erforderlich machen, und die damit verbundenen Spannungen Gegebenheiten darstellen, unter denen sich die Anhörung des Kindes, insbesondere soweit sie gegebenenfalls seine physische Anwesenheit vor dem Richter erforderlich macht, als unangebracht oder sogar als dem seelischen Wohlergehen des Kindes, das oft den genannten Spannungen ausgesetzt ist und unter ihren nachteiligen Auswirkungen leidet, abträglich erweisen kann. Die Anhörung kann somit, auch wenn sie ein Recht des Kindes bleibt, keine absolute Verpflichtung darstellen, sondern muss im Einklang mit Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte Gegenstand einer Beurteilung jedes Einzelfalls anhand der mit dem Wohl des Kindes zusammenhängenden Erfordernisse sein.

65      Folglich verlangt das in Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte und in Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene Recht des Kindes, gehört zu werden, nicht zwingend die Durchführung einer Anhörung vor dem Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, sondern gebietet es, dass dem Kind die rechtlichen Verfahren und Bedingungen zur Verfügung gestellt werden, die es ihm ermöglichen, seine Meinung frei zu äußern, und dass das Gericht diese Meinung einholt.

66      Mit anderen Worten verpflichten zwar Art. 24 der Charta der Grundrechte und Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats nicht dazu, das Kind in allen Fällen im Rahmen einer Anhörung zu hören, und lassen ihm damit einen gewissen Ermessensspielraum, doch wenn das Gericht beschließt, das Kind zu hören, verlangen diese Bestimmungen, dass es nach Maßgabe des Kindeswohls und unter Berücksichtigung der Umstände jedes Einzelfalls alle geeigneten Maßnahmen im Hinblick auf eine solche Anhörung trifft, damit die praktische Wirksamkeit der genannten Bestimmungen gewahrt wird und dem Kind eine tatsächliche und wirksame Möglichkeit geboten wird, sich zu äußern.

67      Mit dem gleichen Ziel muss das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, im Rahmen des Möglichen und stets unter Berücksichtigung des Kindeswohls, auf alle ihm nach seinem nationalen Recht zur Verfügung stehenden Mittel sowie auf die der grenzüberschreitenden gerichtlichen Zusammenarbeit eigenen Instrumente zurückgreifen, zu denen gegebenenfalls die in der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehenen Mittel gehören.

68      Folglich kann das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats eine den Anforderungen von Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 entsprechende Bescheinigung erst ausstellen, nachdem es geprüft hat, dass nach Maßgabe des Kindeswohls und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls die Entscheidung, auf die sich diese Bescheinigung beziehen soll, unter Beachtung des Rechts des Kindes, sich frei zu äußern, erlassen wurde und dass dem Kind unter Berücksichtigung der nationalen verfahrenstechnischen Mittel und der Instrumente der internationalen gerichtlichen Zusammenarbeit eine echte und wirksame Möglichkeit zur Äußerung geboten wurde.

69      Wie in Randnr. 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist es jedoch allein Sache der nationalen Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats, die Rechtmäßigkeit der genannten Entscheidung anhand der insbesondere durch Art. 24 der Charta der Grundrechte und Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 aufgestellten Erfordernisse zu überprüfen.

70      Wie in Randnr. 46 des vorliegenden Urteils hervorgehoben worden ist, beruhen die durch die Verordnung geschaffenen Systeme der Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen nämlich auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der Charta der Grundrechte anerkannten Grundrechte zu bieten.

71      In diesem Kontext müssen daher, wie der Generalanwalt in Nr. 135 seiner Stellungnahme ausgeführt hat, die Verfahrensbeteiligten in der Rechtsordnung des Ursprungsmitgliedstaats die Rechtsschutzmöglichkeiten nutzen, die es gestatten, die Rechtmäßigkeit einer gemäß Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung in Frage zu stellen.

72      Hinsichtlich des Ausgangsrechtsstreits ergibt sich zum einen aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten, dass bei der Audiencia Provincial de Bizkaya noch ein Berufungsverfahren anhängig ist. Zum anderen hat die spanische Regierung in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass es gegen die Entscheidung der Audiencia Provincial wiederum ein innerstaatliches Rechtsmittel gebe, und zwar zumindest einen „recurso de amparo“ vor dem Verfassungsgericht, in dessen Rahmen u. a. etwaige Verstöße gegen Grundrechte wie das Recht des Kindes, gehört zu werden, gerügt werden könnten.

73      Es ist daher Sache dieser Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats, zu prüfen, ob die Entscheidung, für die eine Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 ausgestellt wurde, gegen das Recht des Kindes, gehört zu werden, verstößt.

74      Nach alledem sind unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens für die Prüfung der Frage, ob das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, das die mit einer Bescheinigung versehene Entscheidung erlassen hat, gegen Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 verstoßen hat, allein die Gerichte dieses Mitgliedstaats zuständig, und das zuständige Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats kann sich in Anbetracht der vom genannten Gericht des Ursprungsmitgliedstaats ausgestellten Bescheinigung der Anerkennung und Vollstreckung der betreffenden Entscheidung nicht entgegenstellen.

75      Unter Berücksichtigung aller dieser Erwägungen ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass sich unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens das zuständige Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats der Vollstreckung einer mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung, mit der die Rückgabe eines widerrechtlich zurückgehaltenen Kindes angeordnet wird, nicht mit der Begründung entgegenstellen kann, dass das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, das diese Entscheidung erlassen hat, gegen Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 nach dessen mit Art. 24 der Charta der Grundrechte konformer Auslegung verstoßen habe, da für die Beurteilung der Frage, ob ein solcher Verstoß vorliegt, ausschließlich die Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats zuständig sind.

 Kosten

76      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens kann sich das zuständige Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats der Vollstreckung einer mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung, mit der die Rückgabe eines widerrechtlich zurückgehaltenen Kindes angeordnet wird, nicht mit der Begründung entgegenstellen, dass das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, das diese Entscheidung erlassen hat, gegen Art. 42 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 nach dessen mit Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union konformer Auslegung verstoßen habe, da für die Beurteilung der Frage, ob ein solcher Verstoß vorliegt, ausschließlich die Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats zuständig sind.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.

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