ISSN 1977-088X

doi:10.3000/1977088X.C_2012.024.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 24

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

55. Jahrgang
28. Januar 2012


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

475. Plenartagung am 26. und 27. Oktober 2011

2012/C 024/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Soziales Unternehmertum und soziale Unternehmen (Sondierungsstellungnahme)

1

2012/C 024/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Auswirkungen der Krise auf die Fähigkeit der europäischen Unternehmen, Klimaschutzinvestitionen zu tätigen (Sondierungsstellungnahme)

7

2012/C 024/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Behandlung und Nutzung von Industrie- und Bergbauabfällen für wirtschaftliche und Umweltzwecke in der Europäischen Union (Initiativstellungnahme)

11

2012/C 024/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Chancen und Herausforderungen für eine wettbewerbsfähigere europäische Holz- und Möbelindustrie (Initiativstellungnahme)

18

2012/C 024/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Dauerhafte Beschäftigungsperspektiven im Eisenbahnsektor, im Bereich des rollenden Materials und bei den Infrastrukturbauern: Welche Auswirkungen hat der industrielle Wandel auf die Beschäftigung und die Kompetenzbasis in Europa? (Initiativstellungnahme)

24

2012/C 024/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Stärkung des EU-Zusammenhalts und der EU-Koordinierung im Sozialbereich durch die neue Horizontale Sozialklausel nach Artikel 9 AEUV (Initiativstellungnahme)

29

2012/C 024/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Obdachlosigkeit (Initiativstellungnahme)

35

2012/C 024/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Cloud Computing in Europa (Initiativstellungnahme)

40

2012/C 024/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Entwicklung von Regionalgebieten für die Bewirtschaftung von Fischbeständen und die Kontrolle der Fischerei (Initiativstellungnahme)

48

2012/C 024/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Rolle der Zivilgesellschaft im Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien (Initiativstellungnahme)

51

2012/C 024/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die neue Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU und die Rolle der Zivilgesellschaft (Initiativstellungnahme)

56

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

475. Plenartagung am 26. und 27. Oktober 2011

2012/C 024/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB)KOM(2011) 121 endg. — 2011/0058 (CNS)

63

2012/C 024/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/96/EG zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem StromKOM(2011) 169 endg. — 2011/0092 (CNS) und der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über intelligentere Energiebesteuerung in der EU: Vorschlag für eine Änderung der EnergiesteuerrichtlinieKOM(2011) 168 endg.

70

2012/C 024/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung des Rates (EG) Nr. 1083/2006 im Hinblick auf rückzahlbare Beihilfe und FinanzierungstechnikenKOM(2011) 483 endg. — 2011/0210 (COD)

78

2012/C 024/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung gemeinsamer Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzstatus (Neufassung)KOM(2011) 319 endg. — 2009/0165 (COD)

79

2012/C 024/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Asylbewerbern (Neufassung)KOM(2011) 320 endg. — 2008/0244 (COD)

80

2012/C 024/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates zu Vorkehrungen für die finanzielle Abwicklung in Bezug auf bestimmte, hinsichtlich ihrer Finanzstabilität von Schwierigkeiten betroffene bzw. von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedrohte MitgliedstaatenKOM(2011) 482 endg. — 2011/0211 (COD)

81

2012/C 024/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates hinsichtlich bestimmter Vorschriften zur finanziellen Abwicklung für bestimmte Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sindKOM(2011) 481 endg. — 2011/0209 (COD)

83

2012/C 024/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1198/2006 des Rates über den Europäischen Fischereifonds hinsichtlich bestimmter Vorschriften zur finanziellen Abwicklung für bestimmte Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sindKOM(2011) 484 endg. — 2011/0212 (COD)

84

2012/C 024/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Online-Glücksspiele im BinnenmarktKOM(2011) 128 endg.

85

2012/C 024/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch — Europäischer Corporate-Governance-RahmenKOM(2011) 164 endg.

91

2012/C 024/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Binnenmarktakte — Zwölf Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen — Gemeinsam für neues WachstumKOM(2011) 206 endg.

99

2012/C 024/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Entwicklung der europäischen Dimension des SportsKOM(2011) 12 endg.

106

2012/C 024/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission: Lebensversicherung und Naturkapital: Eine Biodiversitätsstrategie der EU für das Jahr 2020KOM(2011) 244 endg.

111

2012/C 024/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 302/2009 über einen mehrjährigen Wiederauffüllungsplan für Roten Thun im Ostatlantik und im MittelmeerKOM(2011) 330 endg. — 2011/0144 (COD)

116

2012/C 024/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder sowie über Lebensmittel für besondere medizinische ZweckeKOM(2011) 353 endg. — 2011/0156 (COD)

119

2012/C 024/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für Richtlinie des Rates zur Festlegung von Anforderungen an den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen GebrauchKOM(2011) 385 endg. — 2011/0170 (NLE)

122

2012/C 024/28

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Funktionsweise und Anwendung der geltenden Fluggastrechte

125

2012/C 024/29

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union (Neufassung)KOM(2011) 402 endg. — 2011/0187 (COD)

131

2012/C 024/30

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Energieeffizienz und zur Aufhebung der Richtlinien 2004/8/EG und 2006/32/EGKOM(2011) 370 endg. — 2011/0172 (COD)

134

2012/C 024/31

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Offenes Internet und Netzneutralität in EuropaKOM(2011) 222 endg.

139

2012/C 024/32

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Weißbuch: Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum — Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden VerkehrssystemKOM(2011) 144 endg.

146

2012/C 024/33

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Präventivmaßnahmen zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch (ergänzende Stellungnahme)

154

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

475. Plenartagung am 26. und 27. Oktober 2011

28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Soziales Unternehmertum und soziale Unternehmen“ (Sondierungsstellungnahme)

2012/C 24/01

Berichterstatterin: Ariane RODERT

Mit Schreiben vom 6. Juni 2011 ersuchte Maroš ŠEFČOVIČ, Vizepräsident der Europäischen Kommission, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema

Soziales Unternehmertum und soziale Unternehmen“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 3. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 106 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Bei der Prüfung von Initiativen zur Förderung des sozialen Unternehmertums muss nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses der Begriff des sozialen Unternehmens im weiteren Sinne zugrunde gelegt werden, da Maßnahmen in Bezug auf alle Phasen der Existenz solcher Unternehmen erforderlich sind.

1.2   Soziale Unternehmen sind ein zentrales Element des europäischen Sozialmodells. Diese Unternehmen stehen in einem engen Verhältnis zur Europa-2020-Strategie und leisten einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft. Durch die Unterstützung und Förderung sozialer Unternehmen lassen sich ihr Wachstumspotenzial und die ihnen innewohnenden Möglichkeiten der gesellschaftlichen Wertschöpfung optimal nutzen. Der EWSA unterstützt die Bemühungen der Kommission um die Schaffung eines politischen Rahmens und eines Aktionsplans zur Förderung sozialer Unternehmen in Europa und betont, wie wichtig dessen umfassende Umsetzung sowohl auf europäischer wie auch auf einzelstaatlicher Ebene ist.

1.3   Angesichts unterschiedlicher nationaler Definitionen sollten soziale Unternehmen anhand gemeinsamer Merkmale beschrieben werden wie der sozialen Zielsetzung, der Reinvestition der Gewinne, der Vielfalt der Rechtsformen und der Beteiligung der Interessengruppen.

1.4   Die Mitgliedstaaten und die EU-Organe müssen dafür sorgen, dass soziale Unternehmen zu den gleichen Bedingungen wie andere Unternehmensformen bei staatlichen politischen Initiativen und Programmen für Unternehmen eingeschlossen und berücksichtigt werden. Grenzübergreifende Initiativen für soziale Unternehmen lassen sich am besten fördern, indem europäische Foren für den Austausch von Ideen und Mustervorhaben durch EU-Mittel finanziert werden.

1.5   Besserer Zugang zu Kapital und maßgeschneiderte Finanzierungsinstrumente sind für soziale Unternehmen besonders wichtig. Die Kommission sollte in den Mitgliedstaaten bereits existierende vorbildliche Verfahren und Innovationsinitiativen wie Hybridkapital und Formen der Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Kapital erfassen und bekannt machen und dafür Sorge tragen, dass der derzeitige ordnungspolitische Rahmen der EU die Entwicklung neuer Instrumente nicht behindert.

1.6   Von entscheidender Bedeutung ist, dass der nächste Programmplanungszeitraum für die Strukturfonds ausdrücklich Programme zur Förderung der Neugründung und Entwicklung sozialer Unternehmen umfasst. Die Kommission sollte Leitlinien für die Verknüpfung von Finanzinstrumenten aus verschiedenen Quellen und für deren Nutzung vorlegen.

1.7   Die Kommission sollte einen EU-weiten Vergleich von für soziale Unternehmen besonders geeigneten Konzepten für die öffentliche Finanzierung starten. Ferner sollte sie Ausschreibungen, bei denen soziale Aspekte eine Rolle spielen, fördern und deren Häufigkeit prüfen und die Frage der übergenauen, verkomplizierenden Umsetzung von Vorgaben bei Ausschreibungsverfahren angehen. Bei der Überprüfung der Regeln für staatliche Beihilfen sollte die Kommission prüfen, ob soziale Dienstleistungen von allgemeinem Interesse gänzlich ausgenommen werden können, bzw. eine Befreiung von der Mitteilungspflicht für öffentliche Dienstleistungen geringen Umfangs und für bestimmte soziale Dienstleistungen zulassen, um die Neugründung weiterer sozialer Unternehmen zu fördern.

1.8   Aufgrund der vielfältigen Rechtsformen und besonderen sozialen Aufgaben sozialer Unternehmen werden diesen in einigen Mitgliedstaaten steuerliche Begünstigungen gewährt. Diese Vorteile sollten überprüft und Informationen darüber im Sinne der Entwicklung geeigneter Vorschriften ausgetauscht werden.

1.9   Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten die Auflage konkreter Unterstützungsprogramme für die Entwicklung sozialer Unternehmen und die nächste Generation sozialer Unternehmer auf den Weg bringen.

1.10   Gemeinsam mit den sozialen Unternehmen sollte die Kommission aktiv werden und die Möglichkeit eines gemeinsamen europäischen Systems zur Erfassung der sozialen Auswirkungen prüfen und zur Nutzung der bestehenden Systeme anregen. Auch Initiativen zur Schaffung eines transparenteren Systems der Berichterstattung sollten weiter geprüft werden, weil damit mehr Vertrauen seitens der Investoren möglich wäre. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Untersuchung über bestehende soziale Gütezeichen einzuleiten mit dem Ziel, ein gemeinsames europäisches System oder einen Verhaltenskodex zu schaffen.

1.11   Soziale Unternehmen müssen in Forschungs-, Innovations- und Entwicklungsprogramme einbezogen werden. Außerdem sollten Initiativen ergriffen werden, um statistische Daten über soziale Unternehmen in Europa zu erfassen und zu verbreiten. Damit könnte eine Beobachtungsstelle für soziale Unternehmen auf EU-Ebene betraut werden.

1.12   Wie alle anderen Arbeitgeber müssen auch soziale Unternehmen die Vorgaben im Hinblick auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen erfüllen und die geltenden Tarifvereinbarungen einhalten, indem sie gewährleisten, dass diese korrekt angewandt werden.

1.13   Besondere Aufmerksamkeit ist den neuen Mitgliedstaaten zu schenken, in denen die Gründung sozialer Unternehmen unterstützt werden muss, und zwar durch die Öffnung öffentlicher Dienstleistungen, Maßnahmen zur gesellschaftlichen Integration und die Förderung verschiedener Formen sozialer Unternehmen wie der Sozialwirtschaft.

2.   Einleitung

2.1   In der Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte“ vom 27. Oktober 2010 (1) werden Maßnahmen zur Verwirklichung des Konzepts einer „in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“ vorgeschlagen. Dazu gehörte auch die „Initiative für soziales Unternehmertum“. Der Vorschlag war auch in der endgültigen Fassung der Mitteilung zur Binnenmarktakte vom April 2011 (2) eine zentrale Maßnahme und wurde zudem als Priorität hervorgehoben in der Stellungnahme des EWSA INT/548 (3), die im Rahmen der Konsultation zur Binnenmarktakte erarbeitet wurde.

2.2   Die Herausforderungen, vor denen Europa steht, erfordern Lösungen, die wirtschaftlichen Wohlstand und soziales Wohl vereinen. Die Förderung des sozialen Unternehmertums und der sozialen Unternehmen wird es insbesondere im derzeitigen rauen Wirtschaftsklima ermöglichen, ihr Wachstumspotenzial und die ihnen innewohnenden Möglichkeiten der gesellschaftlichen Wertschöpfung zu nutzen. Die Erschließung dieses Potenzials erfordert die Entwicklung und Umsetzung eines umfassenden politischen Rahmens, an dem ein breites Spektrum an Interessenträgern aller gesellschaftlichen Bereiche (zivilgesellschaftlich, privat, öffentlich) auf sämtlichen Ebenen (lokal, regional, national und europäisch) teilnimmt.

2.3   Das soziale Unternehmertum und die sozialen Unternehmen stehen für die unterschiedlichsten Ansätze mit verschiedene Akteuren und Bezeichnungen in den einzelnen Mitgliedstaaten. Diese Sondierungsstellungnahme trägt den Titel „Soziales Unternehmertum und soziale Unternehmen“: Der EWSA ist der Ansicht, dass in der gesamten Stellungnahme der weiter gehende Begriff „soziales Unternehmen“ (der das soziale Unternehmertum einschließt) verwendet werden sollte, da Maßnahmen in Bezug auf alle Phasen der Existenz solcher Unternehmen erforderlich sind.

2.4   In dieser Sondierungsstellungnahme sollen zentrale Bereiche herausgearbeitet werden, die für die Schaffung eines günstigen Umfelds für soziale Unternehmen in Europa von Bedeutung sind. Der EWSA hat sich mit diesem Thema seit Jahren in verschiedenen Stellungnahmen (4) beschäftigt und begrüßt es, dass sich die Kommission erneut mit sozialen Unternehmen befasst. Auch sollte die wichtige Arbeit gewürdigt werden, die verschiedene einschlägige Interessenträger über die Jahre hinweg geleistet haben und die zum Teil auch in diese Stellungnahme eingeflossen ist (5).

3.   Bemerkungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

3.1   Definition des Begriffs soziales Unternehmen

3.1.1   Auf der Grundlage verschiedener sprachlicher und kultureller Traditionen haben sich unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs soziales Unternehmen herausgebildet.

3.1.2   Der EWSA hält eine eindeutige Definition für erforderlich, um die Bemühungen zielgenau ausrichten zu können, schlägt jedoch statt einer Begriffsbestimmung eine Beschreibung vor, die auf gemeinsamen Merkmalen der sozialen Unternehmen beruht: Die betreffenden Unternehmen

verfolgen hauptsächlich soziale Ziele und keine Gewinnabsichten und generieren einen gesellschaftlichen Nutzen für die Allgemeinheit oder ihre Mitglieder;

sind überwiegend nicht gewinnorientiert, wobei die Überschüsse in erster Linie reinvestiert und nicht an private Aktionäre oder Eigentümer ausgeschüttet werden;

haben vielfältige Rechtsformen und Geschäftsmodelle: z.B. Genossenschaften, Gesellschaften auf Gegenseitigkeit, Freiwilligenorganisationen, Stiftungen und Unternehmen mit oder ohne Erwerbszweck, wobei häufig verschiedene Rechtsformen miteinander kombiniert werden bzw. die Form je nach den Erfordernissen geändert wird;

sind Marktbeteiligte, die Güter und Dienstleistungen produzieren (in vielen Fällen von allgemeinem Interesse), die häufig eine stark sozialinnovative Komponente aufweisen;

arbeiten als unabhängige Einheiten mit einem starken Element der Teilhabe und Mitbestimmung (Personal, Nutzer, Mitglieder), Governance und Demokratie (entweder repräsentativ oder offen);

gehen häufig auf eine Organisation der Zivilgesellschaft zurück oder stehen mit dieser in Verbindung.

3.1.3   Soziale Unternehmen leisten einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag und sind ein zentrales Merkmal des europäischen Sozialmodells. Sie tragen zur Verwirklichung der Europa-2020-Ziele bei, indem sie Arbeitsplätze schaffen, innovative Lösungen entwickeln, die den Bedürfnissen der Allgemeinheit entsprechen, und den sozialen Zusammenhalt, die Integration und die aktive Bürgerschaft stärken. Besonders wichtig sind sie für die Förderung der Teilhabe von Frauen, älteren Menschen, Jugendlichen, Minderheiten und Migranten. Auch ist festzustellen, dass viele soziale Unternehmen KMU und oft Teil der Sozialwirtschaft sind und dass einige von ihnen im Bereich der Integration in den Arbeitsmarkt aktiv sind.

3.1.4   Die Kommission muss in ihren laufenden Arbeiten zu den Rechtsstrukturen für die Sozialwirtschaft diese Merkmale berücksichtigen, um zu gewährleisten, dass alle Formen sozialer Unternehmen eingeschlossen sind. Die Kommission sollte auch erwägen, eine Studie zu den neuen Rechtsformen und anstehenden Rechtsetzungsinitiativen für soziale Unternehmen in einigen Mitgliedstaaten (6) durchführen und so deren Nutzen bewerten zu lassen.

3.2   Berücksichtigung sozialer Unternehmen in der öffentlichen Unternehmenspolitik

3.2.1   Öffentliche Maßnahmen, die der Entwicklung und dem Wachstum von Unternehmen dienen, betreffen verschiedene Bereiche wie die Wettbewerbspolitik, den Binnenmarkt sowie Finanzen und Innovation. Damit öffentliche politische Initiativen die Gründung und die Tätigkeit von Unternehmen auch wirklich erleichtern, müssen sie sowohl auf einzelstaatlicher wie auf europäischer Ebene soziale Unternehmen auf einer Ebene mit anderen Unternehmensformen berücksichtigen und einschließen, dabei jedoch deren Besonderheiten Rechnung tragen.

3.2.2   Soziale Unternehmen sind häufig auf lokaler Ebene angesiedelt, und eine Expansion ist nicht immer von offensichtlichem Interesse oder Vorrang. Anstatt in Wettbewerb zu treten oder ihr Modell auszuweiten, ziehen sie häufig andere Wachstumskonzepte vor. Dies gilt es bei der Untersuchung von grenzüberschreitenden Initiativen für soziale Unternehmen zu berücksichtigen. Die EU und die Mitgliedstaaten sollte Foren, den Austausch von Praktikanten, Workshops zum Thema soziale Innovation und Systeme zur Verbreitung erfolgreicher Projekte („Social Franchising“) finanzieren und unterstützen, mit denen sich neue Ideen und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit vielleicht besser fördern ließen.

3.3   Soziale Investitionen ankurbeln

3.3.1   Besonders wichtig für soziale Unternehmen ist es, den Zugang zu Kapital sowohl für Neugründungen als auch für das weitere Wachstum zu verbessern. Trotz des beträchtlichen Interesses von Finanzinstituten und sozialen Unternehmen an einer Zusammenarbeit fehlt es gegenwärtig an speziell für soziale Unternehmen entwickelten Finanzinstrumenten. Auf lokaler und nationaler Ebene sind einige innovative Finanzinstrumente im Entstehen begriffen. Die Kommission sollte die Erfassung und Verbreitung vorbildlicher Verfahren zur Förderung dieser innovativen Initiativen und des in den Mitgliedstaaten bereits vorhandenen Sachverstands auf den Weg bringen, um soziale Investitionen für soziale Unternehmen in Europa anzukurbeln. Hierbei sollte die Kommission die nachfolgenden Aspekte berücksichtigen.

3.3.1.1   Auf Grund ihrer Besonderheiten und vielfältigen Rechtsformen benötigen soziale Unternehmen andere Arten von Finanzinstrumenten als die übrigen Unternehmensformen. Eine maßgeschneiderte Form von Hybridkapital  (7) mit Elementen von Zuschüssen, Aktienkapital und Fremdkapital ist für soziale Unternehmen in der gesamten Spanne ihres Bestehens besser geeignet. Hybridkapital ist eine Kombination aus Zuschüssen (öffentlichen Zuschüssen, gemeinnützigen Fonds, Spenden) und Aktienkapital sowie Schuldtiteln bzw. Instrumenten der Risikoteilung. Finanzierungsinstrumente für Hybridkapital umfassen rückzahlbare und nicht rückzahlbare Zuschüsse, wandelbare Zuschüsse und Vereinbarungen über die Aufeilung der Gewinne. Hybridkapital impliziert oft ein enges Zusammenspiel zwischen öffentlichem und privatem Kapital.

3.3.1.2   Auch die Einführung speziell an soziale Unternehmen gerichteter Vermittlungsstellen sollte in Betracht gezogen werden. Diese spielen eine wichtige Rolle dabei, soziale Unternehmen und Investoren zusammenzubringen, Kapital und Informationen über Kapital bereitzustellen sowie Rat und Unterstützung zu geben. Hierfür gibt es eine Reihe interessanter Beispiele, die eingehender geprüft werden sollten (8).

3.3.1.3   Die Kommission sollte ihr Augenmerk auch auf verschiedene Arten neuer öffentlicher sozialer Investitionen  (9) und anderer Initiativen in der Finanzwirtschaft (Genossenschaftsbanken (10), Sozialbanken (11), Geschäftsbanken mit Sozialprogrammen (12)) sowie auf innovative Instrumente wie Sozialanleihen („Social Impact Bonds“) (13) richten. Angesichts zurückgehender öffentlicher Finanzmittel ist es besonders wichtig, diese Initiativen zu unterstützen.

3.3.2   Die Kommission muss unbedingt sicherstellen, dass der ordnungspolitische Rahmen der EU (d.h. die Vorschriften für staatliche Beihilfen) die Herausbildung dieser neuen Finanzinstrumente fördert, anstatt sie zu behindern.

3.3.3   Der nächste Programmplanungszeitraum für die Strukturfonds muss ausdrücklich Programme zur Gründung und Förderung sozialer Unternehmen enthalten und über einen längeren Zeitraum laufen, um eine nachhaltige Unterstützung in der schwierigen Anfangsphase zu gewährleisten. Damit soziale Unternehmen durch die Strukturfonds unterstützt werden können, sollte die Kommission auch Leitlinien mit bewährten Verfahren im Hinblick auf die Verknüpfung von Finanzinstrumenten aus verschiedenen Quellen und deren Nutzung vorlegen.

3.4   Die Art der öffentlichen Finanzierung modernisieren

3.4.1   Soziale Unternehmen produzieren häufig Güter und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, die hauptsächlich durch öffentliche Mittel finanziert werden. Mit den geltenden Rechtsvorschriften werden in der Praxis häufig große Privatakteure mit guter Kapitalausstattung begünstigt. Es sollten neue Rechtsinstrumente geschaffen bzw. bereits existierende weiterentwickelt werden, sodass sie besser auf soziale Unternehmen zugeschnitten sind. Die Kommission sollte einen EU-weiten Vergleich von für das soziale Unternehmertum besonders geeigneten Konzepten der öffentlichen Finanzierung starten.

3.4.2   Wie der EWSA in seiner Stellungnahme INT/570 (14) betont, muss die Teilnahme von KMU, einschließlich sozialer Unternehmen, an öffentlichen Ausschreibungen zunehmen. Alle Akteure müssen einen gleichberechtigten Zugang zum öffentlichen Auftragswesen haben. Die Vergabe öffentlicher Aufträge sollte durch die Straffung der Verwaltungsverfahren vereinfacht werden. Die Kommission kann viel dafür tun, effektive und einfache Vergabemodelle für soziale Unternehmen zusammenzutragen und bekannt zu machen.

3.4.3   In der EWSA-Stellungnahme zum öffentlichen Auftragswesen wird auch auf die Bedeutung innovativer, ökologischer und sozialer Aspekte im öffentlichen Auftragswesen hingewiesen. Hier ist der Kommissionsleitfaden „Sozialorientierte Beschaffung (15), in dem Möglichkeiten der Berücksichtigung sozialer und ökologischer Belange bei der Auftragsvergabe ermittelt werden, von zentraler Bedeutung und sollte daher einen höheren Stellenwert erhalten. Die Kommission sollte auch Schritte unternehmen, um die Häufigkeit von Ausschreibungen, bei denen soziale Aspekte berücksichtigt werden, zu fördern und zu messen.

3.4.4   Die Kommission muss energisch der übergenauen Anwendung von Verfahren der Auftragsvergabe (sog. „Gold Plating“) entgegentreten, die in einigen Mitgliedstaaten an der Tagesordnung ist, indem sie Alternativen, geeignetere und innovative Instrumente der öffentlichen Finanzierung stärker ins Bewusstsein rückt.

3.4.5   Die Vorschriften für staatliche Beihilfen stellen soziale Unternehmen oft vor Schwierigkeiten. Der EWSA unterstützt in seiner Stellungnahme TEN/455 (16) einen stärker diversifizierten und verhältnismäßigeren Ansatz mit der Forderung, nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale, territoriale und ökologische Aspekte zu berücksichtigen und die Effizienz anhand von Qualität, Ergebnissen und Nachhaltigkeit zu messen. Bei den laufenden Anstrengungen zur Vereinfachung und genaueren Formulierung von Beihilfevorschriften muss daher berücksichtigt werden, inwieweit soziale Unternehmen von einer etwaigen Überprüfung dieser Vorschriften betroffen sind. Es ist ferner wichtig, die bereits bestehenden Befreiungen von diesen Vorschriften hervorzuheben  (17).

3.4.6   Die Kommission sollte bei der Überprüfung der Vorschriften für staatliche Beihilfen erwägen, die Befreiungen auf alle Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse auszuweiten oder - wie vom EWSA vorgeschlagen - eine Befreiung von der Mitteilungspflicht für öffentliche Dienstleistungen geringen Umfangs und für bestimmte soziale Dienstleistungen vorzusehen. Die Ungewissheit und der zusätzliche Verwaltungsaufwand zur Einhaltung der Beihilfevorschriften könnten private Investoren und für Auftragsvergabe zuständige Beamte davon abhalten, soziale Unternehmen auszuwählen. Durch Befreiungen können Innovationen und Unternehmensneugründungen angekurbelt werden. Eine derartige Initiative müsste jedoch einen Mechanismus zur Verhinderung von Korruption enthalten.

3.4.7   Soziale Unternehmen haben unterschiedliche Rechtsformen und unterliegen deshalb häufig unterschiedlichen Steuervorschriften und steuerlichen Regelungen. Aufgrund ihrer sozialen Ziele und der begrenzten Gewinnausschüttung kommen soziale Unternehmen in einigen Mitgliedstaaten in den Genuss von Steuerermäßigungen und sonstigen steuerlichen Vergünstigungen. Diese müssen überprüft und bekannt gemacht werden, um die Entwicklung angemessener Regeln für soziale Unternehmen unabhängig von ihrer Rechtsform zu fördern.

3.5   Entwicklungsprogramme für soziale Unternehmen starten

3.5.1   Soziale Unternehmen benötigen Zugang zu eigens für sie entwickelten Unterstützungsprogrammen für ihre Entwicklung. Initiativen unter Beteiligung von „Drehkreuzen“, die eine betriebswirtschaftliche Unterstützung, Arbeitsplätze und Mentoring anbieten, haben sich ebenso wie Fortbildungsprogramme von Netzen sozialer Unternehmen während der Start-up-Phase als wirksam erwiesen. Besonderes Augenmerk sollte auf Programme zur Entwicklung der Investitionsfähigkeit gelegt werden. Die Entwicklung und der Austausch derartiger Unterstützungsprogramme sollte gefördert werden.

3.5.2   Es sind Anstrengungen zur Unterstützung der nächsten Generation sozialer Unternehmer erforderlich. Das soziale Unternehmertum sollte in der formalen, nichtformalen und informellen Bildung gefördert werden. Die Mitgliedstaaten sollten gemeinsam besondere Weiterbildungsmaßnahmen für soziale Unternehmen (18) nutzen.

3.5.3   Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten etablierte Akteure und Netze des sozialen Unternehmertums unterstützen und mit ihnen zusammenarbeiten. Soziale Unternehmen haben ihren Ursprung häufig im Freiwilligensektor oder in der Sozialwirtschaft. Letztere bieten eine ausgezeichnete Möglichkeit, um soziale Unternehmer und soziale Unternehmen anzusprechen.

3.6   Soziale Unternehmen stärker ins Blickfeld rücken und Vertrauen in sie aufbauen

3.6.1   Das soziale Unternehmertum muss stärker wahrgenommen und als gesellschaftlicher Schlüsselbereich anerkannt werden. Die Kommission sollte die Einführung eines europäischen Gütezeichens „Soziales Unternehmen“ prüfen, das die Wahrnehmung und Anerkennung sozialer Unternehmen sowie Vertrauen und Nachfrage stärken würde. Ein erster Schritt sollte eine von der Kommission in Auftrag gegebene und in Zusammenarbeit mit sozialen Unternehmen durchgeführte Studie zu bestehenden Gütezeichen und weiteren, in vielen Mitgliedstaaten bereits angewandten Zertifizierungssystemen (19) sein.

3.6.2   In Forschung und Politik wird Unternehmertum häufig mit gewinnorientierten privatwirtschaftlichen Unternehmen gleichgesetzt. Daher sollten Anstrengungen unternommen werden, um soziale Unternehmen kontinuierlich in Forschungs-, Innovations- und Entwicklungsprogramme einzubeziehen.

3.6.3   In den Mitgliedstaaten und in der EU insgesamt mangelt es an konsolidierten Statistiken über soziale Unternehmen. Die Nutzung von Satellitenkonten (20) sollte in allen Mitgliedstaaten gefördert werden. Darüber hinaus würde die Einrichtung einer Beobachtungsstelle für soziale Unternehmen auf EU-Ebene unter aktiver Einbeziehung des EWSA und der nationalen WSR in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten zu einer systematischen Erfassung und Zusammenschau von Kenntnissen sowie zu ihrer öffentlichen Verbreitung beitragen.

3.6.4   Der Nutzen der sozialen Unternehmen muss durch die Messung anderer Parameter als des rein wirtschaftlichen Wertes stärker ins allgemeine Bewusstsein gerückt werden. Es gibt mehrere Instrumente zur Abschätzung sozialer Folgen (21) sowie Methoden der Sozialbilanzierung, deren Nutzung für kleine Akteure häufig jedoch zu aufwendig ist. Die EU sollte gemeinsam mit sozialen Unternehmen, Forschern und Kapitalgebern die Nutzung der bestehenden Systeme fördern und Schritte zur Entwicklung eines einfacheren gemeinsamen europäischen Systems bzw. Verhaltenskodexes auf der Grundlage der bestehenden Systeme unternehmen.

3.6.5   Voraussetzung für den Aufbau von Vertrauen in soziale Unternehmen sind Rechenschaftspflicht und Transparenz. Die Finanzierung sozialer Unternehmen erfolgt häufig aus öffentlichen Mitteln, privaten Spenden und Mitgliedsbeiträgen. Um das Vertrauen der Investoren zu stärken, muss die Verwendung dieser Mittel durch ein offenes Berichtssystem, das eine standardmäßige EU-Methode sein könnte, stärker offengelegt werden. Durch erhöhte Transparenz und offene Berichterstattung würde auch der Gefahr vorgebeugt, dass sich soziale Unternehmen rasch auf mehr Gewinn orientieren und Führungskräfte und Vorstandsmitglieder überzogene Vergütungen erhalten.

3.6.6   Die Schaffung bestmöglicher Bedingungen für soziale Unternehmen erfordert Führung und einen ständigen Dialog zwischen allen gesellschaftlichen Bereichen. Dazu bedarf es einer Zusammenarbeit zwischen allen EU-Institutionen, den Mitgliedstaaten und der Gesellschaft insgesamt unter Leitung der Kommission, wobei den regionalen Gebietskörperschaften, die häufig zentrale Interessenträger sind, besonderes Gewicht zukommt. Der EWSA kann ebenso wie der Ausschuss der Regionen aufgrund seiner Zusammensetzung, seines Sachverstands und seiner engen Verbindung zu den Mitgliedstaaten in den nächsten Etappen dieses Prozesses eine gewichtige Rolle spielen.

3.7   Sonstige Bemerkungen

3.7.1   Soziale Unternehmen beschäftigen häufig Freiwillige, über deren Position Klarheit herrschen muss. In der Entscheidung des Rates vom 27. November 2009 (22) heißt es, dass Freiwilligentätigkeit „aus freiem Willen, eigener Wahl und eigenem Antrieb“ ausgeübt wird. Die Freiwilligentätigkeit ersetzt keine professionellen, bezahlten Arbeitsplätze, sondern bietet der Gesellschaft einen Mehrwert.

3.7.2   Wie alle anderen Arbeitgeber müssen auch soziale Unternehmen die Vorgaben im Hinblick auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen erfüllen und die geltenden Tarifvereinbarungen einhalten. Bei der Umsetzung der Bestimmungen des EU-Rechts und der nationalen Gesetze und/oder Tarifvereinbarungen im Bereich der Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer müssen soziale Unternehmen die am besten geeigneten und angemessensten Möglichkeiten finden, um die ordnungsgemäße Anwendung dieser Rechte zu gewährleisten.

3.7.3   Soziale Unternehmen sind aus den verschiedensten nationalen Zusammenhängen heraus entstanden. Der EWSA fordert die Kommission insbesondere auf, angemessene Unterstützung und Initiativen insbesondere auf die Entwicklung sozialer Unternehmen in den neuen Mitgliedstaaten zu richten. Wichtige Initiativen könnten darin bestehen, Änderungen der Sozialsysteme vorzunehmen, eine aktive Integrationspolitik zu verfolgen, die Entstehung von Akteuren der Sozialwirtschaft/sozialen Unternehmen zu fördern und den Markt für öffentliche Dienstleistungen zu öffnen.

3.7.4   Die EU sollte auch in Drittstaaten für das soziale Unternehmertum werben. Das EU-Modell für soziale Unternehmen sollte verbreitet werden, um zur Entwicklung ähnlicher Modelle in den Kandidatenländern und weltweit zu animieren.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  KOM(2010) 608 endg.

(2)  KOM(2011) 206 endg.

(3)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 47.

(4)  Siehe ABl. C 95 vom 30.3.1998, S. 99; ABl. C 117 vom 26.4.2000, S. 52; ABl. C 112 vom 30.4.2004, S. 105; ABl. C 234 vom 22.9.2005, S. 1; ABl. C 120 vom 20.5.2005, S. 10; ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 22; ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 84.

(5)  EMES Network (www.emes.net), Ciriec International (www.ciriec.ulg.ac.be), Cecop (www.cecop.coop).

(6)  Großbritannien: Community Interest Company (CIC) 2005, italienisches Gesetz 118/2006 und Erlass 155/2006, finnisches Gesetz Nr. 1351/2003, „Social Entrepreneurship Act“ in Slowenien 2011.

(7)  http://www.schwabfound.org/pdf/schwabfound/SocialInvestmentManual.pdf.

(8)  www.unltd.org.uk; www.commoncapital.org.uk; www.cafonline.org.

(9)  Die wichtigsten Akteure, die soziale Investitionen tätigen, sind Risikokapital für wohltätige Zwecke, Sozialinvestitionsfonds, Beratungsunternehmen für Finanzierungsfragen und Sozialbörsen. Näheres dazu in „Investor Perspectives on Social Enterprise Financing“ http://217.154.230.218/NR/rdonlyres/1FC8B9A1-6DE2-495F-9284-C3CC1CFB706D/0/BC_RS_InvestorPerspectivesonSocialInvestment_forweb.pdf. Ein Beispiel für eine Sozialinvestition ist das „Big Society Capital“ im Vereinigten Königreich, siehe: http://www.cabinetoffice.gov.uk/content/big-society-capital.

(10)  www.eurocoopbanks.coop.

(11)  www.triodos.be.

(12)  Initiative der Bankengruppe Intesa Sanpaolo für soziale Unternehmen; Banca Prossima; www.bancaprossima.com.

(13)  www.socialfinance.org.uk/sib.

(14)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 113.

(15)  http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=331&langId=de&pubId=606&type=2&furtherPubs=yes.

(16)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 26.

(17)  Wie etwa Unterstützung für die Arbeitnehmerfortbildung, Beschäftigungsbeihilfen, Hilfsleistungen für Menschen mit Behinderungen sowie kleinere Beihilfeleistungen.

(18)  www.sse.org.uk sowie verschiedene Masterprogramme für den Bereich soziales Unternehmertum (Universitäten Trento und Bocconi).

(19)  www.standardsmap.org/en und www.socialenterprisemark.org.uk.

(20)  http://unstats.un.org/unsd/publication/SeriesF/SeriesF_91E.pdf.

(21)  www.thesroinetwork.org; http://iris.thegiin.org; www.iso.org/iso/social_responsibility.

(22)  ABl. L 17 vom 22.1.2010, S. 43.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/7


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Auswirkungen der Krise auf die Fähigkeit der europäischen Unternehmen, Klimaschutzinvestitionen zu tätigen“ (Sondierungsstellungnahme)

2012/C 24/02

Berichterstatter: Josef ZBOŘIL

Der künftige polnische Ratsvorsitz beschloss am 30. November 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

Die Auswirkungen der Krise auf die Fähigkeit der europäischen Unternehmen, Klimaschutzinvestitionen zu tätigen“ (Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 6. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27 Oktober) mit 75 gegen 3 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Als der künftige polnische EU-Ratsvorsitz Ende November 2010 beschloss, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zu den Auswirkungen der Krise auf die Fähigkeit der europäischen Unternehmen, Klimaschutzinvestitionen zu tätigen, zu konsultieren, stand vor allem die Wirkung des europäischen Emissionshandelssystems (EU-EHS) im Vordergrund. Hatte das EU-EHS als Herzstück der EU-Klimapolitik während der Rezession 2009, die die EU nach dem Beginn der Finanzkrise Ende 2008 durchmachte, seine Funktion angemessen erfüllt?

1.2

Die Treibhausgas- und CO2-Emissionsdaten für 2009 und 2010 belegen eindeutig, dass der Emissionsrückgang durch den Abschwung der Wirtschaftstätigkeit im Jahr 2009 bedingt war. Ferner ging der Konjunkturaufschwung 2010 mit einer starken Zunahme der Emissionen einher. Dies ließe darauf schließen, dass die vom EU-EHS ausgehenden Preissignale keine hinreichend starken Anreize bieten, um CO2-intensive Verfahren zu vermeiden und langfristige Investitionen in klimaverträglichere Technologien zu fördern. Glücklicherweise wurde das EU-EHS so angelegt, dass es auf diese Probleme reagieren kann. Es kann geändert und so überarbeitet werden, dass durch die Festlegung eines geeigneten Kohlenstoffpreises zum einen die erforderlichen Emissionsverringerungen erzielt und zum anderen die Emissionen derjenigen Industriesektoren ausgeglichen werden, für die sich die Anpassung am schwierigsten gestaltet. Für die Umstellung auf eine CO2-arme Wirtschaft sind Investitionen in grüne und ressourceneffiziente Technologien erforderlich, nicht eine Drosselung der Industrieproduktion.

1.3

Mit dem EU-EHS sollten ursprünglich die Kosten für die Eindämmung des Klimawandels optimiert werden. Dieses System wird nach wie vor als das wichtigste Instrument zur Emissionsminderung erachtet. Es muss dringend verbessert werden, um seine Wirksamkeit und Umweltintegrität wiederherzustellen.

1.4

Es wird immer deutlicher, dass mit einer Änderung des EU-EHS allein keine Klimaschutzpolitik gewährleistet werden kann, die sowohl die Umstellung auf CO2-ärmere bzw. -freie Energiequellen beschleunigt als auch ein stabiles Wirtschaftswachstum fördert. Dagegen sollten Anfangsinvestitionen in grüne und ressourceneffiziente Technologien in der europäischen verarbeitenden Industrie und im Energiesektor in erheblich größerem Maße durch öffentliche Mittel gefördert werden. So sollten Entwicklung und Einsatz beispielsweise stärker durch den Europäischen Strategieplan für Energietechnologie (SET-Plan) und die EU-Kohäsionspolitik gefördert werden.

1.5

Der Ausschuss empfiehlt daher, die erforderlichen Mittel bereitzustellen, um einen deutlichen und maßgeblichen Technologieschub sicherzustellen. Diese Mittel sollten über die Einnahmen der Mitgliedstaaten aus der Versteigerung von Emissionszertifikaten im Rahmen des EU-EHS aufgebracht werden. Der Ausschuss begrüßt außerdem den Vorschlag der Europäischen Kommission, die Energie- und CO2-Besteuerung in der EU zu harmonisieren. Er fordert die Mitgliedstaaten auf, den Großteil der zusätzlichen Einnahmen aus der Energie- und CO2-Besteuerung für Innovationen in die Cleantech-Industrie aufzuwenden.

1.6

Aufgrund der anhaltenden Unruhen in einigen OPEC-Ländern gab es bei dem Energiepreis in jüngster Zeit sehr große Schwankungen. In Verbindung mit den Auswirkungen der Reaktorunfälle in Fukushima hat diese Entwicklung der Debatte über Energiefragen eine neue Richtung verliehen. Einseitige Maßnahmen, die vor Kurzem von einigen Mitgliedstaaten eingeleitet wurden, sowie spekulative Entwicklungen auf den Rohstoffmärkten könnten schwerwiegende Auswirkungen auf die Entwicklung des EU-Energiesektors haben und sollten gründlich untersucht werden.

1.7

Die von der Europäischen Kommission in dem begleitenden Arbeitsdokument ihrer Dienststellen verwendeten Modelle für die Folgenabschätzung (PRIMES usw.) kommen zu sehr optimistischen Ergebnissen auf der makroökonomischen Ebene, die sich von den Forschungsergebnissen für die mikroökonomische Ebene, d.h. für einzelne Unternehmen bzw. Sektoren, unterscheiden bzw. wenn nicht sogar im Widerspruch zu diesen stehen. Ehe politische Schlussfolgerungen gezogen werden, sollten daher die makroökonomischen Bewertungen überarbeitet und mit der „Bottom-up“-Forschung in Einklang gebracht werden.

1.8

Der Ausschuss fordert Rat, Europäische Kommission und Europäisches Parlament dringend auf, die umfassende Umsetzung aller bestehenden CO2-Ziele für 2020 sicherzustellen und zu prüfen, ob das für 2020 gesetzte Klimagasminderungsziel im Hinblick auf die Erreichung der vereinbarten Reduzierung um 80 bis 95 % bis 2050 auf der Grundlage der bei den COP-17-Verhandlungen erzielten Fortschritte und der voraussichtlichen Wirtschaftsentwicklung der EU nicht auf 25 % erhöht werden sollte. Der Ausschuss erachtet es als wesentlich, in etwa vergleichbare wirtschaftliche Bedingungen für alle globalen Akteure beizubehalten. Damit eine derartige Vereinbarung aber auch wirklich greifen kann, müssten weitere Industrieländer gleichzeitig vergleichbare Anstrengungen unternehmen, und weitere Schlüsselakteure, vor allem Schwellenländer, müssten sich freiwillig auf höhere Emissionsreduktionsziele als Teil eines globalen, rechtsverbindlichen und umfassenden Übereinkommens über die Regelung nach Auslaufen des Kyoto-Protokolls verständigen.

1.9

Im Gefolge der COP 15 und der COP 16 ist mehr oder weniger deutlich geworden, dass in den internationalen Klimaverhandlungen ein neuer Kurs eingeschlagen worden ist, der viel mehr Raum für einen Bottom-up-Ansatz bietet. In dem „Fahrplan für den Übergang zu einer wettbewerbsfähigen CO2-armen Wirtschaft der EU“ (KOM(2011) 112 endg.) wird dieser grundlegenden Kursänderung weg von der Festlegung neuer verbindlicher Ziele hin zur Umsetzung von Maßnahmen Rechnung getragen. Mit diesem Fahrplan wird eine Diskussion mit den Mitgliedstaaten zu der Frage angestoßen, ob neue Ziele erforderlich sind. Sowohl „Top-down“-Zielvorgaben als auch eine „Bottom-up“-Politik für Technologieinnovation werden von Bedeutung sein. Die EU sollte diese Gelegenheit für echte Fortschritte beim Schopf packen und mit positivem Beispiel vorangehen.

1.10

Nach der Krise weist das Investitionsumfeld in der EU große Unterschiede auf, und angesichts des drohenden Rückfalls in die Krise verschlechtern sich die Aussichten immer mehr. Aufgrund der anhaltenden Schuldenkrise und der damit verbundenen höheren Sparzwänge scheinen die öffentlichen Mittel ganz allgemein immer knapper zu werden. KMU sind für derartige Veränderungen anfälliger, da sie stärker auf Bankfinanzierungen angewiesen sind als Großunternehmen, die Zugang zu den Kapitalmärkten haben.

1.11

Der absolut unerlässliche neue Investitionsschub in die Infrastruktur lässt weiter auf sich warten. Der Strom- und Gasinfrastruktur sollte insbesondere mit Blick auf den europäischen Energiebinnenmarkt erheblich mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden; zudem ist eine Nutzung erneuerbarer Energieträger in größerem Maßstab erforderlich. Ohne funktionsbereite und vollständige Vernetzung wird die Aussicht auf Fortschritte sehr trübe sein.

2.   Einleitung - Hintergrund

2.1

In ihrer Mitteilung zur „Analyse der Optionen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen um mehr als 20 % und Bewertung des Risikos der Verlagerung von CO2-Emissionen (1) beleuchtet die Europäische Kommission die verschiedenen Optionen für die Verwirklichung des neuen 30 %-Ziels innerhalb des Emissionshandelssystems (EHS) (d.h. in Sektoren, die im EU-EHS erfasst sind) und in weiteren Sektoren (in erster Linie Verkehrswesen, bebaute Umwelt und Landwirtschaft). Da in dieser Mitteilung die Frage der Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die Fähigkeit der europäischen Unternehmen, zusätzliche Klimaschutzinvestitionen zu tätigen, nicht aufgegriffen wird, hat der polnische Ratsvorsitz dieses Thema als Gegenstand einer EWSA-Stellungnahme vorgeschlagen.

2.2

Es wird allgemein anerkannt, dass sich die Eindämmung der CO2-Emissionen angesichts des kontinuierlichen Bevölkerungswachstums und der erheblichen Energieknappheit in den Entwicklungsländern weder leicht noch rasch bewerkstelligen lassen wird. Ein weiterer entscheidender Punkt ist der Ausstieg aus der fossilen Energieerzeugung unter dem Gesichtspunkt der Energieversorgungssicherheit. Es könnte das Argument ins Treffen geführt werden, dass in den Vereinbarungen von Kopenhagen und anschließend Cancún das Konzept von rechtlich bindenden Zielvorgaben aufgegeben (und somit die Wahrscheinlichkeit der Einführung eines weltweiten Emissionsrechtehandels verringert) wurde, da der Zeithorizont auf 2050 verschoben und die Bedeutung von technologischen Entwicklungen und Innovationsprozessen betont wurde. In der Vereinbarung von Cancún werden zahlreiche wichtige Ziele aufgelistet, darunter die drei folgenden Hauptziele:

Festlegung klarer Ziele für die Verringerung der menschengemachten Treibhausgasemissionen zur Begrenzung der Erderwärmung auf 2 °C;

Förderung der Beteiligung aller Länder an der Senkung dieser Emissionen im Einklang mit ihren unterschiedlichen Verantwortungen und Kapazitäten;

Sicherstellung der internationalen Transparenz der von den einzelnen Ländern ergriffenen Maßnahmen und Gewährleistung einer rechtzeitigen Überprüfung der weltweiten Fortschritte bei der Erreichung des langfristigen Ziels.

2.3

Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Festlegung eines angemessenen, allgemein akzeptierten Preises für Kohlenstoff für eine erfolgreiche Klimaschutzpolitik von entscheidender Bedeutung ist (siehe William D. NORDHAUS, „Economic Issues in a Designing a Global Agreement on Global Warming“). Ohne Angemessenheit und allgemeine Akzeptanz hat der Kohlenstoffpreis keinerlei Anreizfunktion. Es gilt, einen realistischen Rechtsrahmen zu schaffen; es bedarf praxistauglicher Mechanismen mit Anreizwirkung, damit die politischen Entscheidungen tatsächlich greifen können. Daher fordert der Ausschuss die Europäische Kommission auf, Optionen für die Stärkung des EU-EHS und kohärente Maßnahmen für Sektoren, die nicht im EU-EHS erfasst werden, aufzuzeigen.

2.4

Durch die Verbesserung der Energie- und Kraftstoffeffizienz konnten zwar einige (relativ kostengünstige) Erfolge bei der Verringerung der Treibhausgasemissionen erzielt werden, eine technologische Neuausrichtung und technologischer Fortschritt sind jedoch die einzige Lösung für einen schrittweisen Übergang in die nichtfossile Ära. Doch sind selbst für Effizienzmaßnahmen ein großmaßstäblicher Einsatz bestehender Technologien und die Entwicklung innovativer Lösungen erforderlich (siehe McKinsey Global Institute: „The Carbon Productivity Challenge: Curbing Climate Change and Sustaining Economic Growth“).

2.5

Energieintensive Industrien konnten ihre Energieeffizienz aufgrund kontinuierlicher Anstrengungen zur Verringerung der Betriebskosten steigern. Kein Unternehmer käme auf die Idee, den CO2-Ausstoß zu erhöhen, nur weil er über ungenutzte/umfangreiche Emissionsrechte verfügt. Die Auswirkungen der Effizienzmaßnahmen von Privathaushalten sind aufgrund des „Rebound-Effekts“ schwerer absehbar, demzufolge die Haushalte die durch wirksame Effizienzmaßnahmen erzielten Einsparungen psychologisch begründet in Vorteile wie z.B. erhöhte Raumtemperatur investieren. Dieser Effekt kann selbst die ehrgeizigsten Bemühungen zur Verbesserung der Energieeffizienz zum Scheitern bringen.

2.6

Die erneuerbaren Energieträger werden sicherlich ebenfalls zur Emissionsminderung beitragen, wenn auch möglicherweise in einem geringeren Umfang als oftmals angenommen: Die physikalischen, räumlichen und sozioökologischen Grenzen der derzeit verfügbaren Technologien für erneuerbare Energie werden manchmal nur unvollständig berücksichtigt, und die Überwindung dieser Grenzen durch technologische Innovation hat erhebliche finanzielle Auswirkungen. Die Verbesserung der Betriebs- und Kosteneffizienz der bekannten erneuerbaren Energieträger ist ebenfalls mit Kosten verbunden; diesem Aspekt wird in einigen Mitgliedstaaten durchaus Rechnung getragen, in anderen jedoch nicht.

2.7

Drei Aspekte müssen unbedingt bewältigt werden, doch wird es wohl für keinen dieser drei vor 2020 eine zufriedenstellende Lösung geben. Erstens muss für Energieträger mit Erzeugungsschwankungen ein vollintegriertes EU-weites intelligentes Netz mit begrenzter Aufnahmekapazität für die schwankende Einspeisung aus erneuerbaren Energieträgern über den erwarteten 35-40 % eingerichtet werden. Die deutsche Entscheidung für einen zügigen Atomausstieg hat sich jedoch als wichtiger Impulsgeber für Maßnahmen in diesem Bereich erwiesen. Zweitens sind für eine derartige Integration erhebliche Akkumulatorkapazitäten erforderlich. Und drittens muss die CCS-Technologie für eine langfristigere flächendeckende Anwendung ausgereift sein, wenn fossile Kraftstoffe auch in Zukunft verbreitet als Energiequelle genutzt werden. Bis diese drei kritischen Probleme gelöst sind, sind die konventionellen Energieträger samt ihrem Emissionsausstoß als Stromreserve für eine weitreichendere Verbreitung der verfügbaren erneuerbaren Energien unverzichtbar.

2.8

Energieeffizienzmaßnahmen bei Strom- und Wärmeerzeugung sind dermaßen teuer, dass sie angesichts der derzeitigen Sparzwänge wohl kaum umgesetzt werden können. Daher werden bahnbrechende Erfindungen neben einer flächendeckenden Anwendung und einer erheblichen Verbesserung der bestehenden Technologien für erneuerbare Energieträger eine wesentliche Rolle spielen, um die bis 2050 erhoffte Verringerung um 80 bis 90 % zu erreichen (siehe Internationale Energie-Agentur (IEA): „Energietechnologische Perspektiven 2010“).

2.9

Weitere Energieeffizienzsteigerungen bei Fertigungstechniken könnten ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Daher sind inkrementelle und radikale Innovationen für die gesamte Bandbreite der CO2-armen Technologien erforderlich. Ohne derartige Innovationen und Verbesserungen wird es schlicht unmöglich sein, die CO2-armen Energieträger in dem erforderlichen raschen Tempo und im großen Stile zu verbreiten, um die weltweite Energienachfrage zu decken und potenziellen Klimakatastrophen vorzubeugen. Diese grundlegende Herausforderung im Innovationsbereich muss unmittelbar und proaktiv angegangen werden.

3.   Analyse der EU-Emissionsdaten und Auswirkungen der Krise

3.1

Das Kommissionsdokument enthält eine Reihe von Argumenten, die, für sich betrachtet, durchaus den Schluss zulassen, dass die Verwirklichung der ehrgeizigen Klimaschutzziele zwar schwer, aber machbar ist. Empirischen Emissionsdaten für die EU den letzten Jahren ist entgegenzuhalten, dass im Jahr 2009 61 % der neuen Stromerzeugungskapazitäten in der EU auf erneuerbaren Energieträgern beruhten. Tatsächlich ist das Erreichen einer sicheren Grundlastversorgung aufgrund der Schwankungsbreite einiger erneuerbarer Energieträger kurzfristig nicht völlig unproblematisch.

3.2

Die Annahmen der Europäischen Kommission beruhen auf optimistischen Erwartungen in Bezug auf die Ergebnisse der Umsetzung der Richtlinie über erneuerbare Energiequellen und der individuellen Aktionspläne der Mitgliedstaaten. Außerdem wird fest von einer Erhöhung der Energieeffizienz um 20 % ausgegangen, obwohl Informationen aus den Mitgliedstaaten in einigen Fällen auf einen erheblich langsameren Fortschritt hindeuten. Mit Blick auf den zentralen Energieeffizienzaspekt bei der Strom- und Wärmeerzeugung (die so genannte Kohlenstoffintensität) werden Verzögerungen und Aufschübe bei der Umrüstung von Kraftwerken aller Voraussicht nach zu einem ernsthaften Problem und zu Energieengpässen führen. Darüber hinaus geht aus Analysen der Internationalen Energie-Agentur hervor, dass 80 % der Emissionen aus dem globalen Stromsektor bis 2020 bereits feststehen. Daher sind Investitionen, insbesondere in CCS-Technologien, auch in den kommenden zehn Jahren für eine CO2-arme Zukunft von entscheidender Bedeutung.

3.3

Schätzungen anerkannter Analysten zufolge(siehe Richard N. COOPER, Universität Harvard, „Europe’s Emission Trading System“, Juni 2010; Christian EGENHOFER, CEPS, Brüssel, „The EU ETS and Climate Policy Towards 2050“, Januar 2011) sind die Treibhausgasemissionen 2010 um 4 % gestiegen, wohingegen die in das EU-EHS einbezogenen Anlagen eine Zunahme um 3,2 % vermeldet haben. Die weltweiten Emissionen sind 2009 im Vergleich zu 2008 um 1,1 % gesunken; die EU (– 6,4 %) konnte ebenso wie die USA (– 6,5 %) und Japan (– 11,8 % ohne Emissionshandel) einen Rückgang verzeichnen, wohingegen China eine Zunahme um 9,1 % aufwies. Es ist klar, dass der Emissionsrückgang in den Industrieländern zwischen 2008 und 2009 in erster Linie auf die Rezession zurückzuführen war. Die vorläufigen Ergebnisse für 2010 bestätigen die Annahme, dass die Emissionen im Gleichschritt mit dem Konjunkturzyklus steigen und fallen.

3.4

Das beunruhigendste Ergebnis einer sorgfältigen Bewertung des EU-EHS ist, dass dieses weltweit größte Emissionsrechtehandelssystem nicht in der Lage ist, eine erhebliche Senkung der CO2- bzw. Treibhausgasemissionen zu bewirken. Die Gesamt-CO2- und -Treibhausgasemissionen der EU sind seit 1990 leicht rückläufig; wird diese Tendenz für 2008 extrapoliert, hat das EU-EHS gerade einmal eine 2 %ige Verringerung der Emissionen im Vergleich zu den prognostizierten Ergebnissen ohne Einführung des EU-EHS gebracht. Unter Berücksichtigung der Folgen der Finanz- und Wirtschaftkrise 2008/2009 zeigen die Daten sogar, dass das EU-EHS, wenn überhaupt, nur sehr geringfügige unabhängige Auswirkungen auf den europäischen Treibhausgasausstoß hatte.

3.5

Alles in allem müssen der Emissionsrückgang im 4. Quartal 2008 sowie im gesamten Verlauf des Jahres 2009 und der Emissionsanstieg mit Beginn des 2. Quartals 2010 eindeutig auf Beginn (Ende 2008) und Ende (Mitte 2010) der Krise zurückgeführt werden. Es gibt kaum Belege dafür, dass systemische Veränderungen in diesem Zeitraum zu einer Verringerung des Klimagasausstoßes geführt haben.

3.6

Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die Industrie bereits herausragende beispielhafte Maßnahmen ergriffen hat: Sie hat ihre Emissionen stetig verringert, indem sie auf kohlenstoffeffizientere Kraftstoffe umgestiegen ist und wirksame Energieeffizienzmaßnahmen eingeführt hat. Dieser Prozess kann im kommenden Emissionshandelszeitraum bis 2020 beschleunigt werden, wenn bahnbrechende neue Technologien in mehr oder weniger allen im EU-EHS erfassten Sektoren entwickelt und eingesetzt werden.

3.7

Einige energieintensive Sektoren wie Stahl, Kalk und Zement nähern sich ihren physikalischen Grenzen der CO2-Effizienz. In naher Zukunft können größere Emissionsminderungen möglicherweise nur mehr mittels Produktionsdrosselung erzielt werden (siehe „Sustainable Steelmaking“, Boston Consulting Group, 2009)

3.8

Diese Verlagerung von CO2-Emissionen wird mit spezifischen Beschäftigungsniveaus in den Industriesektoren in Verbindung gesetzt, die von diesem Phänomen betroffen sind. Das genaue Beschäftigungsniveau in den einzelnen Mitgliedstaaten ist jedoch unterschiedlich. Der EU-Durchschnitt liegt schätzungsweise bei 3 %, wohingegen in Polen 9,5 % der aktiven Bevölkerung in diesen energieintensiven Sektoren beschäftigt sind.

3.9

Wie bereits in Ziffer 2.5 betont sind umfangreiche Technologieentwicklungen und der Einsatz neuer Technologien die Schlüsselfaktoren für die Verringerung des Klimagasausstoßes. In sämtlichen einschlägigen Dokumenten wird auf die ungelöste Frage der Mobilisierung der erforderlichen Mittel hingewiesen. Abgesehen von den Erträgen aus dem EU-EHS als möglicher, wenngleich auch unsicherer Quelle in ferner Zukunft ist keine weitere Finanzierungsquelle in Sicht. Selbst die laufenden FuE- und Markteinführungs-Programme der EU reichen nicht aus – dies gilt auch für den SET-Plan einschl. CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS).

3.10

Die jüngsten Aufstände und anhaltenden Unruhen in mehreren OPEC-Ländern in Verbindung mit dem Reaktorunglück von Fukushima haben zu einem weltweiten Umdenken in den Klimaschutzverhandlungen geführt. Dieser Mentalitätswandel könnte sogar Gelegenheit für den Abschluss eines ernsthaften globalen Übereinkommens bieten. Die EU sollte den vor Kurzem vorgelegten sehr ehrgeizigen US-amerikanischen Innovationsplan zur Kenntnis nehmen (siehe „The White House: Strategy for American Innovation“ (http://www.slideshare.net/whitehouse/a-strategy-for-american-innovation).

3.11

All diese Indikatoren weisen auf die Dringlichkeit hin, strukturelle Veränderungen in Betracht zu ziehen, um die Umstellung der Wirtschaft auf neue, CO2-arme Energieträger zu erleichtern und zu beschleunigen. Einige Experten und politisch Verantwortlichen befürworten zwar eine Abkehr vom Emissionsrechtehandel und eine Hinwendung zu einer CO2-Verbrauchssteuer, doch dürfte die mögliche Einführung einer genügend hohen neuen Steuer, deren Ertrag zur Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen bestimmt wäre, in der EU (von der globalen Ebene gar nicht zu sprechen) in weiter Ferne liegen. Dies sollte bei der Vorbereitung der nächsten Schritte in den Klimaverhandlungen eingehend analysiert werden. Das EU-EHS wird daher als beste Option in der EU erachtet, auch wenn es erheblicher und radikaler Reformen bedarf.

3.12

Nach der Krise weist das Investitionsumfeld in der EU große Unterschiede auf, und angesichts des drohenden Rückfalls in die Krise verschlechtern sich die Aussichten immer mehr. Aufgrund der anhaltenden Schuldenkrise und der damit verbundenen höheren Sparzwänge scheinen die öffentlichen Mittel ganz allgemein immer knapper zu werden. Im privaten Sektor ist die Lage in Bezug auf die Verfügbarkeit von Unternehmenskapital bislang relativ stabil, insbesondere in exportorientierten Industriezweigen. Die anhaltende Euro-Krise, die Verzögerungen bei der Annahme von Verordnungen (Basel III und Solvency II) und eine mögliche Verschlechterung der Wirtschaftsaussichten könnten jedoch die Verfügbarkeit von Bankkrediten über kurz oder lang beeinträchtigen. KMU sind für derartige Veränderungen anfälliger, da sie stärker auf Bankfinanzierungen angewiesen sind als Großunternehmen, die Zugang zu den Kapitalmärkten haben.

3.13

Einige erneuerbare Energieträger haben in letzter Zeit eine eher dynamische Entwicklung erfahren; allerdings sollte die Frage, ob dieser Boom auch wirklich gesund und nachhaltig ist, für die EU insgesamt und die einzelnen Mitgliedstaaten eingehend untersucht werden. Die finanziellen Auswirkungen von garantierten Energiepreisen könnten zu längerfristigen Wettbewerbsverzerrungen führen. Außerdem sind für den plötzlichen Anstieg des Anteils der erneuerbaren Energieträger sicherlich erhebliche Investitionen in die Übertragungsinfrastruktur erforderlich, um die Zuverlässigkeit und Sicherheit des Netzes zu gewährleisten.

3.14

Dieser absolut unerlässliche neue Investitionsschub in die Infrastruktur lässt zum Teil weiter auf sich warten. Der Strom- und Gasinfrastruktur sollte insbesondere aufgrund des jüngsten Beschlusses der Bundesrepublik Deutschland, bis 2022 den Atomausstieg zu vollziehen, erheblich mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Ohne funktionsbereite und vollständige Vernetzung wird die Aussicht auf Fortschritte sehr trübe sein.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  KOM(2010) 265 endg.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/11


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Behandlung und Nutzung von Industrie- und Bergbauabfällen für wirtschaftliche und Umweltzwecke in der Europäischen Union“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 24/03

Berichterstatter: Dumitru FORNEA

Ko-Berichterstatter: Zbigniew KOTOWSKI

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2011, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Behandlung und Nutzung von Industrie- und Bergbauabfällen für wirtschaftliche und Umweltzwecke in der Europäischen Union“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 27. September 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 61 Ja-Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Durch die Behandlung und Nutzung von Industrie- und Bergbauabfällen soll in erster Linie Abfall vermieden werden. Fragen wie Umweltverschmutzung, Gesundheitsrisiken und Pflege des Landschaftsbildes müssen dringlich und verantwortungsvoll angegangen werden. Kein Land kann es sich heute mehr leisten, das Wiederverwertungspotenzial der Abfälle zu negieren, die nach der Nutzung von Primärrohstoffen anfallen. Diese Abfälle ohne weitere Behandlung einfach abzulagern, weil es billiger ist, ist heute nicht mehr akzeptabel, wenn man die Kosten für die Umwelt, die menschliche Gesundheit und die Gesellschaft bedenkt.

1.2   Die Behandlung dieser Abfälle zu wirtschaftlichen Zwecken kann dazu beitragen, den Zustand der Umwelt und der Landschaft, die Beschäftigungslage und die sozialen Bedingungen für die betroffene Bevölkerung zu verbessern. Durch die Vermeidung der Verschmutzungsgefahr für Mensch und Umwelt würden die Lebensbedingungen in diesen Regionen verbessert – eine Win-Win-Situation. Daher sollte die nützliche Verwendung dieser Abfälle als Teil der Strategie für nachhaltige Entwicklung und als Ausgleich für die vor Ort betroffene Bevölkerung betrachtet werden.

1.3   Der Zivilgesellschaft, den Sozialpartnern, den Fachkräften in Bergbau, Metallurgie und Energiewirtschaft, der Wissenschaft, den Ausrüstungsherstellern sowie den Transport- und Handelsverbänden kommt eine entscheidende Bedeutung für eine bessere Information der Bürger und deren Sensibilisierung für die ökologischen, ökonomischen und sozialen Vorteile der Bewirtschaftung der enormen Abfallmengen zu, die im Bergbau und in der Hüttenindustrie sowie beim Betrieb von Kohlekraftwerken angefallen sind bzw. anfallen.

1.4   Die Kommunen können in dieser Frage eine wichtige Rolle spielen, indem sie einen offenen zivilen Dialog auf regionaler Ebene anregen, durch den Lösungen zum Umweltschutz, zur Abfallbehandlung und zur Wiederherstellung einer Grundlage für eine nachhaltige industrielle Entwicklung ermittelt werden können. Zu diesem Zweck sollte ein Netz aus öffentlichen und privaten Projekten bzw. Projekten im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften mit gemeinsamer Verantwortung für künftige Investitionen, Infrastruktur und Umweltschutz aufgebaut werden.

1.5   Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sollten innovative Instrumente und Maßnahmen entwickeln, um die effizienteste und nachhaltigste Bewirtschaftung der Industrie- und Bergbauabfälle auf der Grundlage von Forschungsergebnissen, Statistiken und wissenschaftlichen Fakten zu gewährleisten. Außerdem müssen durch eine angemessene Befragung der Interessenträger die bestehenden rechtlichen, politischen, verwaltungstechnischen und sozialen Hürden für die Bewirtschaftung dieser Abfälle beleuchtet werden.

1.6   Daher weist der Ausschuss auf die Notwendigkeit hin, wirksame Maßnahmen betreffend Industrie- und Bergbauabfälle im Rahmen der Europa-2020-Strategie zu entwickeln, die in einem übergreifenden Konzept ausdrücklich eine nachhaltige Industriepolitik mit innovativen Verfahren, Ressourceneffizienz und verbessertem Zugang zu Rohstoffen verknüpft.

1.7   Bei der Behandlung neuer mineralischer Abfälle sollten Informationen über die physikalischen und chemischen Eigenschaften dieser Abfälle mitgeliefert werden, um ausreichend Daten für Behörden und Unternehmen bereitzustellen, die potenzielle Wiederverwertungsverfahren oder Umweltschutzprogramme auf den Weg bringen wollen.

1.8   Im Rahmen der aktuellen politischen Initiativen zur Gewährleistung der Rohstoffversorgungssicherheit sollten die Finanzhilfen der EU und der Mitgliedstaaten für Forschung und Entwicklung von Technologien aufgestockt werden, die zur Behandlung von Bergbau- und Industrieabfällen und zur Rückgewinnung wertvoller Mineralien und Metalle dienen. Zu den Prioritäten sollte die Entwicklung von Technologien zählen, die die Rückgewinnung von kritischen Rohstoffen und von Stoffen ermöglichen, die eine Gefahr für die menschliche Gesundheit und die Umwelt sein können.

1.9   Nach Meinung der organisierten Zivilgesellschaft sollten im Rahmen der Europa-2020-Strategie die Ergebnisse der Umsetzung der Richtlinie 2006/21/EG bewertet werden. Sie ist bereit, Anmerkungen und Vorschläge für die Verbesserung ihrer Umsetzung zu unterbreiten und Initiativen für die nützliche Verwendung von Bergbauabfällen zu fördern.

1.10   Der Vorschlag für ein besseres Recycling und eine Reduzierung des Abfalls aus Festgesteinbergbau und Steinbrüchen sowie aus der Hüttenindustrie umfasst folgende Hauptpunkte:

Änderung des Rechtsstatus von Nebenprodukten als Ko-Produkte mit den gleichen Eigenschaften wie die Primärprodukte;

ausdrückliche Genehmigung der Verarbeitung von Nebenprodukten im Zuge einer speziellen Behandlung in der Primäranlage oder in eigenen Systemen, um dem Ko-Produkt die für dessen Nutzung erforderlichen Eigenschaften zu geben;

Förderung der Vermarktung von Ko-Produkten durch Erleichterung ihres Transports und ihrer Verwendung;

steuerliche Anreize für Verbraucher, die Ko-Produkte nutzen.

1.11   EU-Einrichtungen sollten vermehrt Informationen über die Auswirkungen der Abfälle aus Wärmekraftwerken auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit sowie die nützliche Verwendung von Kohlekraftwerksnebenprodukten bereitstellen. Forschung und Entwicklung müssen gefördert werden, um Anwendungen für Kohlekraftwerksnebenprodukte, Zukunftstechnologien sowie die Bewirtschaftung und Entsorgung von Asche zu verbessern.

1.12   Die EU sollte Projekte für die nützliche Wiederverwendung von Kohlekraftwerksnebenprodukten konzipieren und finanzieren und so zur nachhaltigen Entwicklung beitragen, indem diese Abfälle wiederverwertet werden und nicht auf Mülldeponien landen, sodass der Rohstoffabbaubedarf verringert wird sowie Energie- und Wasserressourcen gespart werden.

1.13   Außerdem sollte auf europäischer Ebene eine Umfrage durchgeführt werden, um mehr Informationen über Flugasche, Kesselsand, Schmelzkammergranulat, Gips aus Rauchgasentschwefelungsanlagen (REA), Produkte aus Trocken- oder Sprühabsorptionsverfahren (SAV-Produkte) und Wirbelschichtaschen zu sammeln. Kohlekraftwerke in der EU sollten aufgefordert werden, freiwillig Daten für diese Umfrage zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus muss ein Register bestehender Erzeugnisse und potenzieller Anwendungen von Kohlekraftwerksnebenprodukten eingerichtet und regelmäßig aktualisiert werden.

2.   Überblick

2.1   Im Rahmen der Durchführung des 6. Umweltaktionsprogramms wurde 2005 die thematische Strategie zur Vermeidung und Wiederverwendung von Abfällen angenommen. Nun hat die Europäische Kommission einen neuen Bericht (KOM(2011) 13 endg.) vorgelegt, in der sie die Fortschritte bei der Verwirklichung der Ziele dieser Strategie bewertet und neue Maßnahmen für die bessere Umsetzung der Strategie vorschlägt.

2.2   Die Frage der Industrie- und Bergbauabfälle ist von grundlegender Bedeutung für die europäischen Bürger und die organisierte Zivilgesellschaft. Die industrielle Zukunft Europas hängt in bestimmtem Maße davon ab, wie diese Frage gelöst wird. Derzeit besteht für eine erhebliche Zahl an Industrievorhaben die Gefahr, dass sie aufgrund des Widerstands der Bevölkerung vor Ort und der Organisationen der Zivilgesellschaft, die über die Auswirkungen von Industrie- und Bergbautätigkeiten auf die öffentliche Gesundheit und die Umwelt besorgt sind, blockiert bleiben.

2.3   Bedauerlicherweise beruhen die Vorbehalte der Zivilgesellschaft oftmals auf einem Mangel an Information und Transparenz. Daher müssen die Umweltverträglichkeitsprüfungen umfassend und korrekt durchgeführt werden, um eine akkurate Information und Beteiligung der Zivilgesellschaft zu gewährleisten.

2.4   Industrie- und Bergbauabfälle von stillgelegten oder in Betrieb befindlichen Industrie- und Bergbauanlagen sind nach wie vor ein erhebliches Problem für viele Mitgliedstaaten. Diese Abfälle können eine ernsthafte Gefahr für die Menschen vor Ort sein, aber auch Chancen bieten. Wenn sie einfach liegengelassen und keine Maßnahmen zur Verringerung der Umweltrisiken getroffen werden, können sie zur Gefahr werden. Sie können aber durchaus auch Chancen bieten, und zwar dann, wenn diese Abfälle die Ansiedelung von Wirtschaftstätigkeiten zur Rückgewinnung von Metallen und weiterer wiederverwertbarer Sekundärrohstoffe erleichtern.

2.5   Der Metallgehalt von Bergbauabfällen entspricht manchmal durchaus dem Metallgehalt von Erz oder übersteigt diesen sogar. Dies gilt auch für Abfälle aus der Hüttenindustrie: Die Rückgewinnungstechniken haben sich weiterentwickelt und bieten nunmehr die Möglichkeit, das Potenzial von Abfällen aus ehemaligen Industrieanlagen neu zu bewerten und diesen Bereich umweltfreundlich zu gestalten.

2.6   Da Absetzbecken und Abraumhalden in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen, sind es vielfach die lokalen Gebietskörperschaften, die sich mit den Industrie- und Bergbauabfällen befassen müssen. Daher können gerade auf dieser Ebene Möglichkeiten gefunden werden, diese „Herausforderung“ in eine Chance zu verwandeln, indem private Initiativen, öffentlich-private und administrative Partnerschaften zur Schaffung von Industrieparks mit dem Ziel einer vollständigen Verwertung der Abfälle gefördert werden, wozu horizontale und vertikale Ansätze in der verarbeitenden Industrie, der Bauwirtschaft und der Infrastruktur miteinander zu verbinden sind.

2.7   Im Mittelpunkt dieser Stellungnahme stehen drei Abfallkategorien, die in großen Mengen (Milliarden von Kubikmetern) in Europa anfallen und die für die Gesetzgeber in der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten von besonderem Interesse sind:

—   Bergbauabfälle (bzw. „mineralische Abfälle“ gemäß Richtlinie 2006/21/EG): Sie fallen bei Erkundung, Abbau und Verarbeitung von Kohle und nichtenergetischen Mineralien an. Mehrere 100 Millionen Tonnen aus in Betrieb befindlichen und stillgelegten Bergbauanlagen wurden oder werden nach wie vor in unterschiedlicher Entfernung von Siedlungen ohne Behandlung abgelagert (1). Stillgelegte oder aufgelassene Deponien können zu einer ernsthaften Gefahr für die Umwelt und die Anwohner werden.

—   Abfälle aus der Hüttenindustrie: Es handelt sich hier in erster Linie um Schlacke, Schlamm und Staub. Die Abfälle aus der Nichteisenmetallurgie können beispielsweise einen hohen Schwermetallgehalt aufweisen. Werden diese Abfälle nicht entsprechend behandelt, können sie schädliche Auswirkungen auf die Umwelt haben.

—   Abfälle aus Wärmekraftwerken: Schlacke und Asche aus Kraftwerken machen insbesondere in den Ländern, in denen die Kraftwerksbetreiber erhebliche Mengen minderwertiger Kohle einsetzen, einen großen Teil der Abfälle aus.

2.8   In all diesen Fällen können unsachgemäß bewirtschaftete Deponien unerfreuliche Auswirkungen für die Anwohner haben und große Flächen unbrauchbar machen, die ansonsten von wirtschaftlichem, sozialem und ökologischem Nutzen für die Umlandgemeinden sein könnten.

3.   Politischer und rechtlicher Rahmen zur Förderung der Behandlung von Industrie- und Bergbauabfällen

3.1   Mit der Europa-2020-Strategie, der EU-Industriepolitik (2), der EU-Strategie für Ressourceneffizienz (3), der EU-Strategie für Rohstoffe (4), der thematischen Strategie für Abfallvermeidung und -recycling (5) und der EU-Strategie für Innovation (6) werden folgende Aspekte gefördert:

ein nachhaltiges Wachstum in Europa durch eine ressourceneffiziente, grünere und wettbewerbsfähigere Wirtschaft;

ressourcenschonende Technologien und Produktionsmethoden sowie Investitionen in das Naturvermögen der EU;

die uneingeschränkte Anwendung der Abfallhierarchie, bei der die Abfallvermeidung Vorrang hat, gefolgt von der Vorbereitung für die Wiederverwendung und das Recycling und der energetischen Verwertung, während die Abfallbeseitigung nur das letzte Mittel ist;

die Überprüfung bestehender Regelungen, um den Übergang des Dienstleistungssektors und des verarbeitenden Gewerbes auf ressourceneffizienteres Wirtschaften einschließlich wirksameren Recyclings sowie Förderung der Kommerzialisierung und Übernahme wichtiger Schlüsseltechnologien zu unterstützen;

Investitionen in die Rohstoffgewinnungsbranche durch die Festlegung einer Raumordnungspolitik für mineralische Rohstoffe, die eine digitale geologische Datenbank und eine transparente Methodik zur Erkundung mineralischer Rohstoffe umfasst, bei gleichzeitiger Förderung von Recycling und Abfallvermeidung;

europäische Innovationspartnerschaften zur Beschleunigung von Forschung, Entwicklung und Markteinführung von Innovationen.

3.2   Die erste europäische Richtlinie über die Bewirtschaftung von Abfällen trat in den 1970er Jahren in Kraft. 1991 wurde im Rahmen der Richtlinie 91/156/EG der Europäische Abfallkatalog (EAK) aufgestellt; anschließend wurde die Richtlinie 91/689/EG über gefährliche Abfälle angenommen. 2008 wurde die Richtlinie 2008/98/EG veröffentlicht, die für diese Stellungnahme von besonderer Relevanz ist, da in Artikel 4 Absatz 1 eine genauere Definition der Abfallhierarchie enthalten ist: „a) Vermeidung; b) Vorbereitung zur Wiederverwendung; c) Recycling; d) sonstige Verwertung, z.B. energetische Verwertung und e) Beseitigung (7).

3.3   In der Richtlinie 2006/12/EG und im Beschluss Nr. 1600/2002/EG ist folgendes festgehalten:

für die noch erzeugten Abfälle gilt, dass ihr Gefährlichkeitsgrad auf die geringstmögliche Gefahrenstufe zu reduzieren ist;

Abfallvermeidung und Recycling sollen Vorrang haben;

die Menge der zu beseitigenden Abfälle ist auf ein Minimum zu reduzieren und die Abfälle sind sicher zu beseitigen;

die zu beseitigenden Abfälle sind so nah wie möglich am Erzeugungsort zu behandeln, sofern dies nicht zulasten der Effizienz der Abfallbehandlung geht.

3.4   Mit der Richtlinie 2006/21/EG über die Bewirtschaftung von Abfällen aus der mineralgewinnenden Industrie (die 2006 angenommen wurde und seit Mai 2008 in Kraft ist; eine Bewertung ihrer Umsetzung ist für November 2012 geplant)

sollen mögliche negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt infolge der Bewirtschaftung von Abfällen aus der mineralgewinnenden Industrie aus bestehenden oder neuen Einrichtungen vermieden werden;

sie umfasst eine Verpflichtung für die Betreiber, einen Abfallbewirtschaftungsplan aufzustellen, der im Einklang mit der Abfallhierarchie stehen muss, das heißt zunächst Erkenntnisse über die Abfälle, anschließend Vermeidung und dann Wiederverwendung; Recycling und schließlich Beseitigung;

sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, bis 2012 eine Bestandsaufnahme stillgelegter und aufgegebener Entsorgungseinrichtungen für Bergbauabfälle mit Gefahrenpotenzial für die Umwelt und die öffentliche Gesundheit durchzuführen (8).

4.   Behandlung von Bergbauabfällen

4.1   In den bisherigen Legislativvorschlägen wurden die Mitgliedstaaten aufgefordert, bis Mai 2012 eine Bestandsaufnahme von stillgelegten und aufgegebenen Entsorgungseinrichtungen für mineralische Abfälle mit Gefahrenpotenzial für die menschliche Gesundheit und die Umwelt durchzuführen und zu veröffentlichen.

4.2   2004 wurde vor dem EU-Beitritt der ersten osteuropäischen Länder in der PECOMINES-Studie (9) und dem Bericht über die Fallstudie zur Nutzung von Fernerkundung (10) eine erste Bewertung mehrerer Entsorgungseinrichtungen vorgenommen. Allerdings wurde in dieser Studie weder die physikalische noch die chemische Stabilität dieser Einrichtungen untersucht.

4.3   Es gibt bislang keine europaweite Datenbank der Standorte von Deponien für Bergbau- und sonstige Industrieabfälle und die physikalischen und chemischen Eigenschaften der dort gelagerten Abfälle. Mitgliedstaaten wie Spanien haben beispielsweise nationale Bewirtschaftungspläne für Abfälle aus der Rohstoffwirtschaft auf der Grundlage einschlägiger Statistiken über Zahl und Volumen der eingetragenen bestehenden und aufgelassenen Abfalldeponien, Absetzbecken und Teiche aufgestellt (11).

4.4   Einige Mitgliedstaaten haben Methoden zur Bewertung der Sicherheit aufgelassener Absetzbecken und Abfalldeponien entwickelt und angewendet und vorrangige Maßnahmen zur Vorbeugung erheblicher Verunreinigung festgelegt (z.B. das slowakische Umweltministerium). Bislang wurde allerdings keinerlei umfassende Untersuchung zur Bewertung der aktuellen wirtschaftlichen Rentabilität der Wiederaufarbeitung von Bergbauabfällen durchgeführt. Die Rentabilität der Wiederaufarbeitung hängt in großem Maße vom Marktpreis der einschlägigen Rohstoffe ab. Die Mitgliedstaaten sollten derartige Bewertungen vornehmen, um mögliche Win-Win-Situationen zu ermitteln.

4.5   Der Zugang zu diesen Abfalldeponien und Absetzbecken wäre Gegenstand der nationalen Rohstoff- und Raumplanungspolitik, auf die das Subsidiaritätsprinzip Anwendung findet und die von den einzelnen Mitgliedstaaten unter Wahrung der EU-Vorschriften für Folgenabschätzung und Bergbauabfälle sowie der Wasserrahmenrichtlinie gehandhabt werden müssen.

4.6   In der EU-Strategie für Rohstoffe wird eine Langzeitanalyse der Rohstoffnachfrage vorgeschlagen, die die Grundlage für die wirtschaftliche Prioritätensetzung bei der Wiederaufbereitung von Abfällen und Tailings sein könnte.

4.7   Durch die Sanierung von Abfalllagerstätten und Tailings mit oder ohne wirtschaftlichen Anreiz können Arbeitsplätze entstehen, der Umweltzustand verbessert sowie bessere soziale und Lebensbedingungen für die betroffene Bevölkerung geschaffen werden, da insbesondere die Landschaft verschönert und die Verschmutzungsgefahr gebannt wird.

4.8   Die Behandlung von Bergbauabfällen aus aufgelassenen Deponien sollte von folgenden Überlegungen geleitet sein:

Die Behandlung von Bergbauabfällen aus aufgelassenen Deponien, die eine Gefahr für die Sicherheit und die Gesundheit sind oder die Umwelt verschmutzen könnten oder die unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen einen wirtschaftlichen Wert bieten, sollte in Bezug auf ein rasches, aber umsichtiges Genehmigungsverfahren vorrangig behandelt werden; die Frage der Haftung der früheren Betreiber sollte geklärt werden, um Investitionen zu fördern (12).

Für die Behandlung von Bergbauabfällen aus aufgelassenen Deponien, die eine Gefahr für die Sicherheit und die Gesundheit sind oder die Umwelt verschmutzen könnten und die keinen wirtschaftlichen Wert haben, könnten öffentliche Mittel erforderlich sein (13).

Die Wiederaufarbeitung von Bergbauabfällen aus aufgelassenen Deponien, die keine Gefahr für die Sicherheit und die Gesundheit sind und die Umwelt nicht verschmutzen, die jedoch einen wirtschaftlichen Wert haben, sollte ermöglicht werden; die Frage der Haftung früherer Betreiber sollte geklärt werden, um Investitionen zu fördern.

4.9   Die Technologie zur Wiederaufarbeitung und Sanierung alter und überlasteter Abfalllagerstätten besteht teilweise bereits, erfordert aber neue Forschungsanstrengungen. Die Europäische Innovationspartnerschaft für Rohstoffe könnte zur Forschungsförderung in diesem Bereich genutzt werden und Mittel für ein Pilotprojekt bereitstellen. Das im Rahmen dieser Initiative erworbene Fachwissen könnte weltweit führend werden und in Europa und der ganzen Welt zum Einsatz kommen (z.B. die in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung eingesetzten Technologien). Die Erforschung weiterer Technologien und Verfahren könnte der europäischen Industrie eine Spitzenstellung sichern.

4.10   In dem Papier der Bergbauindustrie zur Abfallbewirtschaftung mittels der besten verfügbaren Techniken wird der Einsatz der BVT zur Abfalltrennung, die die künftige Wiederaufarbeitung von Tailings und anderen Abfällen verbessern würde, lediglich kurz erwähnt.

4.11   Die europäischen Strukturfonds spielen dabei eine zentrale Rolle. Mit ihnen werden bereits beträchtliche Investitionen in Forschung und Innovation finanziert. Für den derzeitigen Finanzierungszeitraum (2007-2013) stehen rund 86 Mrd. EUR zur Verfügung. Viele dieser Mittel sind noch nicht ausgegeben worden; sie sollten effizienter verwendet werden, um im Hinblick auf die Innovation und die Europa-2020-Ziele die größtmögliche Wirkung zu entfalten.

4.12   Die EU-Strukturfonds wurden bereits in der Vergangenheit gelegentlich verwendet, wenn die Entwicklung neuer regionaler Infrastruktur an die Sanierung und Aufbereitung ehemaliger Industrie- und Bergbaugebiete gekoppelt werden konnte. Bei den erfolgreichsten Initiativen erfolgt die Wiederaufarbeitung alter Tailings und Abraumhalden im Zuge der Errichtung einer neuen Bergbauanlage, was in den meisten Fällen die Rentabilität aufgrund der Größenvorteile erhöht.

4.13   Bislang werden nur sehr wenige EU-Mittel für die Behandlung und Nutzung von Bergbauabfällen zu wirtschaftlichen und Umweltzwecken in der EU verwendet. Einige europäische Initiativen und Projekte, wie die europäische Technologieplattform für nachhaltige Gewinnung mineralischer Rohstoffe, das EU-Projekt „ProMine“ und EuroGeoSource, haben allerdings finanzielle Unterstützung seitens der Europäischen Kommission erhalten. Sie sollen zur Entwicklung innovativer Technologien, zum Aufbau des einschlägigen Sachwissens und zur Einrichtung einer Datenbank der Bergbauabfälle beitragen.

5.   Hüttenabfälle - der Begriff Industrieabfall - Herausforderungen für die Umwelt - wirtschaftliche und soziale Chancen

5.1   Der Begriff Industrieabfall hat sich mit der Zeit nicht erheblich gewandelt, es gilt nach wie vor: „Ist es kein Produkt, ist es Abfall“. Vor dem Hintergrund neuerer umweltpolitischer Überlegungen (Stichwort „abfallfrei“) und wirtschaftlicher Faktoren in Verbindung mit der Rohstoffverknappung sollte der Begriff, was eigentlich das „Produkt“ einer Industrietätigkeit ist, grundlegend überarbeitet werden.

5.2   Heute sind komplexe Industrietätigkeiten auf die Herstellung zahlreicher „Ko-Produkte“ und nicht nur eines einzigen Produktes ausgerichtet (14). So wird beispielsweise bei der Zementerzeugung Hüttensand als wichtiger Bestandteil für viele Zementmischungen verwendet (15).

5.3   Nach geltendem EU-Recht dürfen in einem Herstellungsprozess neben dem Produkt lediglich Nebenprodukte und keine „Ko-Produkte“ erzeugt werden. Das bedeutet, dass ein Nebenprodukt, das nicht im Hauptherstellungsprozess verarbeitet wird, als Abfallerzeugnis angesehen wird, das wiederverwertet werden kann und somit unter das Abfallrecht fällt.

5.4   Dies ist eigentlich kein Definitionsproblem, denn Nebenprodukt und Ko-Produkt können als gleichbedeutend erachtet werden. Das Problem ist auf die Einschränkungen zurückzuführen, die nun gemäß den Rechtsvorschriften für Nebenprodukte anzuwenden sind. So kann gemäß Artikel 5 der Richtlinie 2008/98/EG ein Stoff oder Gegenstand nur dann als Nebenprodukt gelten, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: „a) es ist sicher, dass der Stoff oder Gegenstand weiter verwendet wird; b) der Stoff oder Gegenstand kann direkt , die über die normalen industriellen Verfahren hinausgeht, verwendet werden; c) und d) die weitere Verwendung ist rechtmäßig, d.h. der Stoff oder Gegenstand erfüllt alle einschlägigen Produkt-, Umwelt- und Gesundheitsschutzanforderungen für die jeweilige Verwendung und führt insgesamt nicht zu schädlichen Umwelt- oder Gesundheitsfolgen“.

5.5   Die in Deponien gelagerten Abfälle der Hüttenindustrie können zahlreiche gefährliche Stoffe wie Schwermetalle, auch in Form von Metallverbindungen, enthalten, die für die Erzeugung des „Produkts“ keinerlei Nutzen hatten. Bei der Deponierung erfordern diese Stoffe (16) außerdem oftmals eine Vorbehandlung gemäß Richtlinie 2006/12/EG.

5.6   Wird ein Sekundärprodukt als Ko-Produkt anerkannt, ist die Behandlung und/oder Verarbeitung im Zuge des Hauptherstellungsprozesses (wie derzeit) oder in eigenen Systemen zur Umwandlung des Ko-Produkts in ein neues Produkt möglich, das dann ohne Einschränkungen – abgesehen von der Deklarierung des Ko-Produkts – auf den Markt gebracht werden kann. Dies ist derzeit nur Unternehmen und Anlagen erlaubt, die zur Verarbeitung von Abfall gemäß der Richtlinie 2006/12/EG berechtigt sind.

5.7   Der Hauptnutzen für die Umwelt ist eine Verringerung der Schädigung von Boden und Landschaft. So ist für die Deponierung von 1 Mio. Tonnen Stahlschlacke (Schlacke aus der Kohlenstoffstahlerzeugung kann inertisiert werden) schätzungsweise ein Schüttvolumen von rund 900 000 m3 erforderlich. Außerdem würde ungefähr das gleiche Volumen an Abbauraum für Gesteinsmaterial eingespart (17). Ein weiterer Nutzen nach Inertisierung zur Wiederverwertung ist die Verringerung der in die Umwelt abgegebenen Emissionen (Staub und Metall).

5.8   Aus sozialer und wirtschaftlicher Sicht sind Tätigkeiten in Verbindung mit der Behandlung und Wiederverwertung von Hüttenabfällen innovative Tätigkeiten, für die neben Arbeitskräften auch Forschung und Entwicklung zur Verringerung der Umweltauswirkungen und der Kosten erforderlich sind. In Großbritannien wurde 2010 eine Studie über die Kompetenzen durchgeführt, die Unternehmer zur Sammlung, Bewirtschaftung und Behandlung von städtischem und industriellem Abfall benötigen (18).

6.   Abfälle aus Wärmekraftwerken - Nutzung der Kohlekraftwerksnebenprodukte

6.1   Kohle ist ein wichtiger Rohstoff, der in der Natur in großen Mengen vorkommt. Die weltweite Steinkohleproduktion belief sich 2008 auf 579 Mio. Tonnen und die Braunkohleproduktion auf 965 Mio. Tonnen (19). 27 % des weltweiten Primärenergiebedarfs werden über Kohle abgedeckt und 41 % des weltweiten Stroms aus Kohle erzeugt. Kohle wird auch weiterhin für die globale Stromerzeugung wichtig sein; 2030 werden 44 % der weltweiten Stromversorgung über Kohle erfolgen. Bei gleichbleibendem Produktionsvolumen werden die bekannten Kohlevorräte noch 119 Jahre vorhalten (20).

6.2   Nach der Verfeuerung von Kohle zur Strom- und Wärmeerzeugung bleiben riesige Abfallmengen zurück, die für die Anlieger in der EU und in anderen Teilen der Welt, in denen diese Arten von Abfall anfallen und deponiert werden, ein erhebliches Problem, aber auch eine Chance sind. Seit 1945 suchen amerikanische, deutsche und britische Unternehmen und Forschungseinrichtungen nützliche Verwendungszwecke für diese Abfälle, die als Kohlekraftwerksnebenprodukte eingestuft werden. Die wichtigsten Kohlekraftwerksnebenprodukte sind Flugasche, Kesselsand, Schmelzkammergranulat, Wirbelschichtaschen, Sprühabsorptionsprodukte (SAV-Produkte) und REA-Gips.

6.3   Der US-amerikanische Kohleascheverband (American Coal Ash Association, ACAA) wurde 1968 als Handelsorganisation gegründet, um Abfall aus kohlebefeuerten Kraftwerken wiederzuverwenden. Seine Aufgabe war es, eine umweltverträgliche, technisch solide und wettbewerbsfähige Bewirtschaftung und Nutzung von Kohlekraftwerksnebenprodukten zu fördern, die der Weltgemeinschaft zugutekommt (21).

6.4   Laut Berechnungen des ACAA stieg die Erzeugung von Kohlekraftwerksnebenprodukten in den USA von rund 25 Mio. Tonnen 1966 auf knapp 135 Mio. Tonnen 2008; im gleichen Zeitraum nahm die nützliche Verwendung dieser Produkte von 5 Mio. Tonnen auf 55 Mio. Tonnen zu.

6.5   Nach Schätzungen des europäischen Verbands für Kohlekraftwerksnebenprodukte (European Coal Combustion Products Association, ECOBA (22)) beläuft sich die jährliche Gesamterzeugung von Kohlekraftwerksnebenprodukten in der EU-27 auf mehr als 100 Mio. Tonnen und in der EU-15 auf 61 Mio. Tonnen; davon sind 68,3 % Flugasche, 17,7 % REA-Gips, 9,4 % Kesselsand, 2,4 % Schmelzkammergranulat, 1,5 % Wirbelschichtasche und 0,7 % SAV-Produkte.

6.6   Weltweit, aber auch in Europa selbst werden die potenziellen Nutzer von Kohlekraftwerksnebenprodukten nicht sachgemäß über die Eigenschaften und Vorteile der Nutzung dieser neuen Stoffe und Produkte informiert. Bis heute ist die US-amerikanische Industrie der größte Erzeuger und Verbraucher dieser Produkte, gefolgt von einigen wenigen europäischen Ländern, wie Deutschland und Großbritannien. Die Lage wandelt sich jedoch, und Länder wie China oder Indien werden die Führungsrolle bei Erzeugung und Verbrauch von Kohlekraftwerksnebenprodukten übernehmen (23).

6.7   Umweltvorteile der nützlichen Verwendung von Abfällen aus Kohlekraftwerken

verbesserte Umweltqualität rund um Kohlekraftwerke

Schonung natürlicher Ressourcen

Rückgang der Energienachfrage und der Treibhausgasemissionen

geringerer Deponie-Raumbedarf.

6.8   Bestehende Nutzungsmöglichkeiten für Kohlekraftwerksnebenprodukte

Zement- und Betonerzeugung: Flugasche dient als Bindemittel, das Beton zugegeben wird (24).

Verfestigung und Stabilisierung gefährlicher Abfälle

Verwendung von Kesselsand für Asphaltmischungen im Straßenbau

Verwendung von REA-Gips in der Landwirtschaft

Gewinnung von Cenosphären oder Metallen: Cenosphären können für Leichtbeton, Strukturwerkstoffe und die Synthese von Ultraleicht-Verbundwerkstoffen verwendet werden. Anwendungsbereiche sind Automobilindustrie, Luftfahrt, Reifen, Farben und Lacke, Bodenbeläge, Kabel, Rohre, Bau und Haushaltsgeräte.

Bodenschutz und Regenerierung aufgelassener Bergbauanlagen

Kesselsand wird für die Herstellung von (Lehm- bzw. Ton-) Ziegeln verwendet. Für die Herstellung von Ziegelsteinen aus Flugasche wird keine Brennofen-Energie benötigt; sie können einen hohen Gehalt an Recyclingmaterialien aufweisen.

Gewinnung von Germanium aus Flugasche

Entwicklung neuer Farben und weiterer Umweltanwendungen: Die aus Kohlekraftwerksnebenprodukten hergestellten Farben sind wasser-, säure- und lösemittelresistent.

Holzersatzprodukte

Nutzung von Flugasche zur Abwasserbehandlung, für Schwermetalle wie Cadmium oder Nickel

Forschung zur Umwandlung toxischer Flugasche in Metallschaum für die Automobilindustrie.

6.9   In Europa landen große Mengen an Flugasche auf Deponien oder werden für Billiganwendungen verwendet – mit einigen wenigen Ausnahmen (wie den Niederlanden und Deutschland). Dies ist auf die Qualität der Asche in der EU zurückzuführen, die nicht immer für hochwertige Anwendungen geeignet ist, aber auch auf die mangelnde Information und Förderung der Verwendungszwecke von Kohlekraftwerksnebenprodukten in zahlreichen Erzeugnissen. Aufgrund der Umweltanforderungen an Kohlekraftwerke und der Bemühungen der Industrie um eine effiziente und umweltfreundliche Kohlefeuerung wird sich die Qualität der Flugasche in Zukunft wohl verbessern.

6.10   Es sind weitere Studien und Forschungsarbeiten notwendig, um die Faktoren zu verstehen, die die Nutzung von Kohlekraftwerksnebenprodukten beeinflussen. Ziel sollte die intelligente Nutzung dieser Produkte sein. Hierfür sind neben einem leistungsbasierten Klassifizierungssystem für Flugasche und FuE-Programmen zur Verbesserung des Umwandlungsverfahrens von Kohlekraftwerksnebenprodukten in neue, innovative Werkstoffe und zur Förderung des bestehenden Wissens über die Zusammensetzung, Morphologie und Struktur von Flugasche-Cenosphären auch innovative Wirtschafts-, Management- und Logistiklösungen erforderlich.

6.11   Die rechtliche Definition von Kohlekraftwerksnebenprodukten als Abfall ist ein Hindernis, das die nützliche Verwendung dieser Abfälle aus Kohlekraftwerken behindert. Die aktuelle Klassifizierung ist eine harmonisierte Liste der Abfälle, die auf der Grundlage neuer Erkenntnisse und Forschungsergebnisse überarbeitet werden kann. Kohlekraftwerksnebenprodukte, die nicht Gegenstand des Abfallrechts sind, können dann in die REACH-Verordnung aufgenommen werden.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Nach Angaben des Ministeriums für Wirtschaft, Handel und Unternehmensförderung gibt es in Rumänien 77 Bergeteiche mit einem Volumen von 340 Mio. Kubikmetern und einer Fläche von 1 700 Hektar sowie 675 Abraumhalden mit einem Volumen von 3,1 Mrd. Kubikmetern und einer Fläche von 9 300 Hektar.

(2)  KOM(2010) 614 endg.

(3)  KOM(2011) 21 endg.

(4)  KOM(2011) 25 endg.

(5)  Jüngster Bericht KOM(2011) 13.

(6)  KOM(2010) 546 endg.

(7)  Allerdings ist keinerlei Vorschrift für die Verringerung der Schädlichkeit von Abfällen enthalten, wenn sie entgegengenommen werden oder sich bereits in der Deponie befinden.

(8)  Zur Unterstützung der Mitgliedstaaten wurde vor Kurzem ein Leitfaden für die Durchführung dieser Bestandsaufnahme veröffentlicht.

(9)  G. Jordan und M. D. Alessandro: „Mining, Mining Waste and Related Environmental Issues: Problems and Solutions in Central and Eastern European Candidate Countries“, PECOMINES, JRC 2004 (EUR 20 868 EN).

(10)  A.M. Vijdea, S. Sommer, W. Mehl: „Use of Remote Sensing for Mapping and Evaluation of Mining Waste Anomalies at National to Multi Country Scale“, PECOMINES, JRC 2004 (EUR 21 885 EN).

(11)  In dem „Plan Nacional de Residuos de Industrias Extractivas 2007-2015“ ist festgehalten, dass Spanien über 988 eingetragene Schlammteiche und Absetzbecken mit einem Gesamtvolumen von 325 878 800 m3 verfügt. Das Gesamtvolumen des zwischen 1983-1989 angefallenen Bergematerials betrug rund 1 375 673 315 m3. Davon waren 47,2 % so genannte wild deponierte Tailings.

(12)  Die „Good Samaritan“-Initiative der US-amerikanischen Bundesumweltschutzbehörde (EPA) ist ein interessantes Modell zur Klärung von Haftungsfragen.

(13)  Dies sollte nur für aufgelassene Stätten gelten, für die kein haftbarer Betreiber ermittelt werden kann.

(14)  Dieses Konzept ist jedoch nicht neu. Es wird lediglich ein in der Landwirtschaft weit verbreitetes Konzept auf den Industriesektor übertragen, in der organische Abfälle als Dünger in den Boden zurückverbracht oder als Kraftstoff genutzt werden.

(15)  Die europäische Zementnorm EN 197-1 enthält neun Arten von Zement in der Liste der Bestandteile. Hüttensand wird in Gewichtsanteilen zwischen 6 und 95 % verwendet.

(16)  So enthalten Filterstäube von Lichtbogenöfen (LBO) (über 1,2 Mio. Tonnen aus der Kohlenstoffstahlerzeugung laut Schätzung für die EU-27) Eisen (10-40 %) wie auch Zink (21- 40 %), Blei (bis zu 10 %) sowie Kadmium und Kupfer (bis zu 0,7 %). Schlacke (27 Mio. Tonnen aus der Kohlenstoffstahlerzeugung – Sauerstoffaufblaskonverter (SAK) und Lichtbogenofen (LBO) – laut Schätzungen für die EU-27) kann Flüssigstahltröpfchen (bis zu 10 %) sowie Eisen- (10-30 %), Mangan- (3-9 %) und Chromoxide (1-5 %) enthalten.

(17)  Die in der EU-27 jährlich anfallende Abfallmenge von 27 Mio. Tonnen entspricht ihrem Volumen nach schätzungsweise einem 20 m hohen Haufen auf der doppelten Fläche von Mailand.

(18)  http://www.viridor.co.uk/news/recycling-waste-industry-labour-market-investigation-published/

(19)  IEA-Bericht 2008.

(20)  Quelle: World Coal Association.

(21)  Laut der Website der ACAA ist der Verband auch in der Forschung tätig, erstellt Berichte, Untersuchungen und Industriedokumente und bietet Expertise für die Wiederverwertung von Kohleasche, Schmelzkammergranulat und REA-Gips. Japan verfügt über eine ähnliche Einrichtung, das Zentrum für Kohleaschenutzung.

(22)  Der Verband wurde 1990 gegründet und umfasst heute 86 % der Erzeugung von Kohlekraftwerksnebenprodukten in der EU-27.

(23)  Die prognostizierte Energienachfrage in Indien wird 2020 rund 260 000 MW betragen, wobei 70 % des Stroms aus Kohlekraftwerken kommen wird, die 273 Mio. Tonnen Kohlekraftwerksnebenprodukte erzeugen werden.

(24)  Laut ACAA enthalten mehr als 50 % der in den USA erzeugten Betonprodukte Flugasche.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/18


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Chancen und Herausforderungen für eine wettbewerbsfähigere europäische Holz- und Möbelindustrie“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 24/04

Berichterstatter: Josef ZBOŘIL

Ko-Berichterstatter: Patrizio PESCI

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Chancen und Herausforderungen für eine wettbewerbsfähigere europäische Holz- und Möbelindustrie

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 27. September 2011 an. Berichterstatter war Josef ZBOŘIL, Ko-Berichterstatter Patrizio PESCI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 120 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die europäische Holz- und Möbelindustrie (wie auch die Zellstoff- und Papierindustrie) nutzt hauptsächlich den natürlichen, nachwachsenden Rohstoff Holz und spielt bei der Entwicklung einer umweltschonenden Wirtschaft eine bedeutende Rolle. Der EWSA hat jedoch festgestellt, dass die Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität der holzverarbeitenden Industrien derzeit durch einige äußerst inkohärente politische Maßnahmen und Initiativen zwischen gewissen Bereichen der EU-Politik erheblich beeinträchtigt werden.

1.2   In der Nachfrage nach dem Rohstoff Holz steht die Branche derzeit einer wachsenden Konkurrenz aus dem Bereich der erneuerbaren Energien gegenüber, da die Nutzung von Biomasse (und Holz ist einer der wichtigsten Brennstoffe für die Energiegewinnung aus Biomasse) durch Subventionen und andere Maßnahmen gefördert wird. Außerdem bereiten die Bereiche Investitionen, Forschung, Aus- und Weiterbildung, das Anwerben des Berufsnachwuchses und verwaltungstechnische Beschränkungen im Zusammenhang mit öffentlichen Ausschreibungen Probleme. Ferner macht dem Möbelsektor ein drastischer Preisanstieg bei Rohstoffen wie Leder, Plastik, Naturfasern und Erdölderivaten zu schaffen.

1.3   Der EWSA ruft die europäischen und einzelstaatlichen Institutionen dazu auf, ernsthafte Anstrengungen bei der Anpassung und Erstellung rechtlicher Rahmenbedingungen zu machen, welche die Wettbewerbsfähigkeit steigern und den Zugang zur Versorgung mit diesem Rohstoff für die Holzverarbeitungs- und Möbelbranche und die Zellstoff- und Papierindustrie vereinfachen können. Der EWSA weist auf die Notwendigkeit einer umfassenden Studie über die Probleme in Zusammenhang mit der Holzversorgung der holzverarbeitenden Industrien und des Sektors der erneuerbaren Energien (Biomasse) hin.

1.3.1   Der EWSA ruft die Kommission dazu auf, in Zusammenarbeit mit der Forst- und Holzindustrie geeignete spezifische Maßnahmen zur Behebung dieser Probleme auszuarbeiten. Um die Zusammenarbeit zu vereinfachen, schlägt der EWSA vor, eine informelle, neutrale und interinstitutionelle Sachverständigengruppe, die auch mit den betreffenden Interessengruppen in Verbindung stünde, zum Thema „Holz als nachhaltiger Rohstoff“ einzurichten. Die CCMI ist selbstverständlich daran interessiert, diesem Gremium anzugehören.

1.4   Die europäische Studie „EUwood“ (1) zeigt, dass der Holzverbrauch für Energieerzeugung von 346 Mio. Festmeter (3,1 Exajoule) im Jahr 2010 auf voraussichtlich 573 Mio. Festmeter (5 EJ) im Jahr 2020 ansteigen wird und 2030 bei 752 Mio. Festmeter (6,6 EJ) liegen könnte. Diese Ergebnisse basieren auf der Annahme, dass der Holzanteil bei der Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen von 50 % im Jahr 2008 auf 40 % im Jahr 2020 zurückgehen wird. Für 2025 wird eine Versorgungslücke von 200 Mio. Festmetern Holz erwartet, für 2030 von 300 Mio. Festmetern.

1.5   Im Einklang mit den Empfehlungen in der Mitteilung der Europäischen Kommission über Rohstoffe plädiert der EWSA für eine Aufnahme von Holz als Grundrohstoff in die Europäische Innovationspartnerschaft für Rohstoffe. In diesem Zusammenhang könnten insbesondere die Möglichkeiten für die Wiederverwendung und –verwertung von Holz untersucht werden.

1.6   Die forstbezogenen Bereiche der EU-Politik sollten eine aktive Forstwirtschaft unterstützen. Der EWSA schlägt insbesondere vor, dass die Kommission die Anpflanzung von „Energieholz mit kurzer Umtriebszeit“ fördern sollte. Es sollte ebenfalls nach Maßnahmen gesucht werden, die gewährleisten, dass industriell verwertbares Holz nicht für die Energiegewinnung aus erneuerbaren Energieträgern verwendet wird.

1.7   Der EWSA unterstreicht die Notwendigkeit einer aktiven Förderung „grüner“ Gebäude, für die während ihres gesamten Lebenszyklus umweltfreundliche und ressourcenschonende Strukturen und Verfahren eingesetzt werden. Zu diesem Zweck könnte der EWSA sachdienlicherweise gemeinsam mit den entsprechenden Kommissionsdienststellen eine jährliche Veranstaltung (z.B. einen Workshop) über nachhaltiges Bauen und eine umweltgerechte Gestaltung organisieren.

1.8   Der EWSA begrüßt den Vorschlag von Kommissionsvizepräsident Antonio Tajani, vor Unterzeichnung eines Handels- und Partnerschaftsabkommens zwischen der EU und Drittländern eine „Wettbewerbsfähigkeitsprüfung“ einzuführen. Der Ausschuss ist ebenfalls der Meinung, dass jedwede anderen politischen Initiativen (z. B. in den Bereichen Energie-, Handels-, Umwelt-, Sozial- und Verbraucherschutzpolitik) vor ihrer Realisierung auf ihre Auswirkungen auf die industrielle Wettbewerbsfähigkeit geprüft werden müssen.

1.9   Um die Produktivität zu erhöhen und im Wettbewerb weiter vorn zu liegen, braucht der Sektor Arbeitnehmer, die in ihren fachlichen Qualifikationen und Technologiekenntnissen auf dem neuesten Stand sind. Der EWSA begrüßt den proaktiven Ansatz des Sektors für den Schutz von Arbeiternehmern gegen die Einwirkung schädlicher Stoffe am Arbeitsplatz sowie sein Engagement für Beschäftigungs- und Weiterentwicklungssicherheit, den Schutz von Gesundheit und Wohlbefinden der Arbeitnehmer, die Entfaltung von Fähigkeiten und Kompetenzen und die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben.

1.10   Bisher gelang es nur mit mäßigem Erfolg, auf EU-Ebene Akzeptanz für Forschungs- und Innovationsprojekte im holzverarbeitenden und Möbelsektor zu finden. Um der europäischen Holz- und Möbelindustrie eine stärkere Unterstützung für Forschung und Entwicklung zu bieten, müssen künftige Programme den besonderen Problemen und Bedürfnissen der KMU stärker Rechnung tragen.

1.11   Der EWSA betont die Bedeutung einer engen Zusammenarbeit zwischen der Industrie und den EU-Institutionen und nationalen Einrichtungen bei der Bekämpfung von Produktfälschungen. Der EWSA unterstützt daher die Schaffung eines Einheitlichen Europäischen Patents und fordert die Einführung eines „Produktblatts“ für Möbel. Die Entwicklung von Technologien zur Authentizitätsprüfung könnte dabei ebenfalls von großer Hilfe sein. Der EWSA schlägt vor, europäische Maßnahmen zur Stärkung der nationalen Zollkapazitäten zu ergreifen und einen „Europäischen/Nationalen Anti-Fälschungstag“ einzuführen.

2.   Die Holz- und Möbelindustrie in der Europäischen Union  (2)

2.1   Die Holz- und Möbelindustrie ist eine wichtige, nachhaltige, innovative und umweltverträgliche Branche, die 2008 einen Umsatz von ca. 221 Mrd. EUR verzeichnete und 2,4 Mio. Beschäftigte in mehr als 365 000 Unternehmen, überwiegend kleinen und mittleren Unternehmen, aufwies. Fast die Hälfte dieses Umsatzes entfällt auf die Möbelindustrie, gefolgt von der Herstellung von Holzbauelementen (19,3 %), der Sägeholzindustrie (13,9 %) und der Herstellung von Holzwerkstoffplatten (9,2 %). Die allgemeine Wirtschafts- und Finanzkrise hat die gesamte Branche stark getroffen und 2009 zu einem Umsatzeinbruch um mehr als 20 % gegenüber 2008 geführt. Die europäische Papier- und Zellstoffindustrie macht den anderen Teil der forstbasierten Industrie aus, mit einem Jahresumsatz von 71 Mrd. EUR und einer Produktion von 36 Mio. Tonnen Zellstoff und 89 Mio. Tonnen Papier.

2.2   Die Möbelindustrie steht für 51 % der Beschäftigung innerhalb des Sektors, wobei in Italien mit 363 000 Beschäftigen die meisten Menschen in diesem Sektor arbeiten, gefolgt von Polen, Deutschland, Spanien und Großbritannien. In den neuen Mitgliedstaaten der EU sind besonders viele Menschen in diesem Wirtschaftszweig tätig: 34 % aller Arbeitnehmer sind in der holzverarbeitenden Industrie beschäftigt. Holzverarbeitung und Möbelindustrie bieten oft Beschäftigung in abgelegenen oder weniger industrialisierten oder entwickelten Gebieten und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur ländlichen Wirtschaft. Die Zellstoff- und Papierindustrie beschäftigt direkt 235 000 und indirekt 1 Million Menschen. 60 % aller Arbeitsplätze befinden sich in ländlichen Gebieten.

2.3   Da die Branche hauptsächlich einen natürlichen, nachwachsenden Rohstoff - Holz – verwendet und nachweislich über eine gute Bilanz in Sachen Nachhaltigkeit verfügt, ist sie Vorreiter bei der Entwicklung einer grünen Wirtschaft - einem der Hauptziele der EU für die Zukunft. Auch die Papier- und Zellstoffindustrie ist sehr umweltfreundlich. Von den Rohstoffen wird die Hälfte der für die Papierherstellung verwendeten Fasern wiederverwendet. Bei der anderen Hälfte werden die Ressourcen ebenfalls gut eingesetzt: 20 bis 30 % dieser Fasern sind Rückstände aus anderen Industrien, 40 bis 60 % sind Abfälle aus der Forstwirtschaft und lediglich 20 bis 30 % stammen aus Holzeinschlag.

2.4   Leider gibt es gewisse Inkohärenzen bei einigen Teilen bestimmter EU-Politikbereiche, die die Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität des Sektors derzeit erheblich beeinträchtigen. Die europäische Holz- und Möbelindustrie sieht sich einer zunehmenden Konkurrenz um den Rohstoff Holz durch den Sektor der Energiegewinnung aus erneuerbaren Energiequellen gegenüber, da die Nutzung von Biomasse (und Holz ist einer der wichtigsten Brennstoffe bei der Energiegewinnung aus Biomasse) durch Subventionen und andere Maßnahmen gefördert wird. Auf Schwierigkeiten stößt die Branche auch bei Investitionen in Anlagen, bei der Forschung, der Aus- und Weiterbildung und dem Anwerben von Berufsnachwuchs. Durch verwaltungstechnische Beschränkungen in Zusammenhang mit öffentlichen Ausschreibungen entsteht zusätzlicher Druck auf den Sektor.

2.5   Die Branche ist einer zunehmenden Konkurrenz von Billiganbietern aus Schwellenländern ausgesetzt und mit einer wachsenden Zahl von technischen Handelshemmnissen konfrontiert. Darüber hinaus macht der Möbelindustrie nicht nur der schwierige Zugang zu Holz als Rohstoff, sondern auch der drastische Preisanstieg bei Rohstoffen wie Leder, Plastik, Naturfasern und Erdölderivaten zu schaffen.

2.6   Wenn sich die europäischen Institutionen nicht für die Erstellung rechtlicher Rahmenbedingungen einsetzen, die die Wettbewerbsfähigkeit stimulieren und die Rohstoffversorgung für die Holzverarbeitungs- und Möbelbranche sicherstellen, wird die Zukunft der gesamten Branche ungewiss bleiben.

3.   Auswirkungen der europäischen Rechtsvorschriften über erneuerbare Energieträger auf die Nachfrage nach Holz

3.1   Der EWSA hat ernsthafte Bedenken bezüglich der Auswirkungen des „Klimawandel- und Energie-Pakets“ der Kommission auf die Entwicklung der erneuerbaren Energiequellen und auf die allgemeine Verfügbarkeit von Holz, dem Rohstoff der Industrie. Der EWSA hält es für enttäuschend, dass es durch die Einführung unangemessener Beihilferegelungen für erneuerbare Energieträger mit dem Ziel des Einhaltens der Klimaziele rentabler geworden ist, Holz direkt zu verbrennen, als es für Produktionszwecke zu nutzen. Dies hatte ernste Auswirkungen auf die Holzversorgung von holzverarbeitenden Unternehmen und auf die Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität dieser Unternehmen insgesamt.

3.2   Der EWSA fordert die Europäische Kommission dringend auf, eine umfassende Studie über die Probleme in Zusammenhang mit der Verfügbarkeit von Holz für die forstbasierte Industrie und den Sektor der erneuerbaren Energieträger (Biomasse) durchzuführen. Der EWSA rät der Kommission, in Zusammenarbeit mit der Holzwirtschaft geeignete spezifische Maßnahmen zu erarbeiten, um diese Probleme anzugehen. Um die Zusammenarbeit zu vereinfachen, schlägt der EWSA vor, eine informelle, neutrale und interinstitutionelle Sachverständigengruppe, die auch mit den betreffenden Interessengruppen in Verbindung stünde, zu dem Thema „Holz als nachhaltiger Rohstoff“ einzurichten. Die CCMI ist selbstverständlich daran interessiert, diesem Gremium anzugehören.

3.3   Der EWSA unterstützt die Forderung der Holz- und Papierindustrie nach einem ausgewogenen Ansatz für die Nutzung von Holzbiomasse als Energieträger, um Marktverzerrungen in Bezug auf Verfügbarkeit und Preis forstlicher Rohstoffe für die verarbeitenden Industrien zu vermeiden. Zudem sollte berücksichtigt werden, dass viele Holzwerkstoffplattenhersteller ihre Kapazitäten zwischen Juni 2009 und Juni 2011 herunterfahren mussten, nicht aus finanziellen oder technischen Gründen, sondern aufgrund eines Mangels an verfügbaren Rohstoffen.

3.4   Obwohl Holzbiomasse bei weitem über die höchste Energiedichte (Energiefluss in Watt pro Quadratmeter) von Biomasse verfügt, muss beachtet werden, dass diese Energiedichte gleichwohl sehr gering ist (0,6 W/m2) und z.B. ein holzbefeuertes Kraftwerk mit einer Kapazität von 1 GW, einem Kapazitätsfaktor von 70 % und einer Konversionseffizienz von 35 % eine jährliche Holzernte von etwa 330 000 ha Plantagenholz erfordern würde, was einer Forstfläche von fast 58 × 58 km entspricht (3). Um die europäischen Ziele für erneuerbare Energien mit dem erwarteten Anteil an Biomasse zu erfüllen, wären 340 – 420 Mio. Festmeter (fm) Holzbiomasse erforderlich.

3.5   Im Hinblick auf die Förderung erneuerbarer Energieträger und der Nutzung von Biomasse hält der EWSA es für unerlässlich, dass

die Mitgliedstaaten in ihren Handlungsplänen für erneuerbare Energieträger die Menge an Holzbiomasse im Land oder in der Region bewerten, die tatsächlich für die Energieerzeugung verfügbar ist, und der Menge gegenüberstellen, die von der holzverarbeitenden Industrie als Rohstoff genutzt wird, bevor Maßnahmen zur Förderung des Einsatzes erneuerbarer Energieträger getroffen werden;

Beihilfen für die direkte Verbrennung von Holz vermieden werden, um das natürliche Gleichgewicht zwischen der Verwendung des Rohmaterials Holz und der Nutzung von Biomasse zur Energiegewinnung wiederherzustellen;

angemessene Verfahren angewandt werden, um eine bestmögliche Wiederverwendungs- und -verwertungsrate für Abfallholz und Produktionsabfälle zu erreichen;

das Prinzip der Kaskadennutzung gefördert wird (Herstellung von Erzeugnissen und deren Wiederverwendung, Instandsetzung und Wiederverwertung, Nutzung des Energieinhalts);

Maßnahmen für eine erhöhte Holzmobilisierung aus Wäldern und anderen Quellen vonseiten der europäischen und nationalen Institutionen getroffen werden (4) und die Anpflanzung von schnellwüchsigen Holzsorten mit kurzen Umtriebszeiten zur Energiebiomasseerzeugung unterstützt wird.

3.6   Wirtschaftlich gesehen, wird die Wertschöpfung pro Tonne Trockenholz in der Holzwerkstoffindustrie auf 1 044 EUR und bei der Verwendung als Bioenergierohstoff auf 118 EUR beziffert. Was die Beschäftigung angeht, so bietet die Holzwerkstoffindustrie 54 Personenstunden pro Tonne Trockenholz im Vergleich zu nur zwei Stunden im Bioenergiesektor (5). Im Hinblick auf den Kohlenstoffkreislauf weist die Holzwerkstoffindustrie weitaus größere Vorteile in Bezug auf Beschäftigung und Mehrwert auf als die direkte Verbrennung von Holz.

3.7   Der holzverarbeitende Sektor trägt seit Jahrzehnten zu einer nachhaltigen Nutzung von Energie und natürlichen Ressourcen bei und hat bei der Erzeugung erneuerbarer Energie Pionierarbeit geleistet. Dies ist ein weiterer wichtiger Beitrag zur Eindämmung des Klimawandels.

3.8   Darüber hinaus wurden durch Investitionen in moderne Anlagen und Verfahren bedeutende Energieeinsparungen erzielt - der Großteil der für die industrielle Holzverarbeitung benötigten Energie wird aus nicht wiederverwertbarer Holzbiomasse gewonnen. So stammen bis zu 75 % der zur Herstellung von Holzerzeugnissen erforderlichen Energie aus Holzabfällen und -resten. Durch Investitionen in innovative Technologien verbessert der Sektor zudem kontinuierlich die Wiederverwertungsraten von Holz.

3.9   Holz ist eine begrenzte Ressource, die die holzverarbeitende Industrie so effizient wie möglich einsetzen muss. In den vergangenen 20 Jahren hat der Sektor logistische Netze zur Sammlung und Verwertung von Recyclingholz entwickelt. Der EWSA stellt jedoch fest, dass in einigen Mitgliedstaaten entgegen der Zielsetzungen der europäischen Deponierichtlinie (1991/31/EG) wertvolle Holzressourcen auf Mülldeponien landen. Der EWSA ruft die Kommission dazu auf, eine ordnungsgemäße Durchführung der europäischen Deponierichtlinie zu gewährleisten, damit für industrielle Zwecke oder für die Erzeugung erneuerbarer Energien geeignetes Holz nicht vergeudet wird.

4.   Holz als vielseitige Lösung für energiesparendes Bauen

4.1   Die Energieeffizienz ist ein zentrales Element der EU-Strategie Europa 2020 für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum. Energieeffizienz ist „eine der kosteneffizientesten Möglichkeiten, die Energieversorgungssicherheit zu verbessern und die Emissionen von Treibhausgasen und anderen Schadstoffen zu senken“ (6).

4.2   In der EU entfallen 40 % des Energieverbrauchs und 36 % der CO2-Emissionen auf Gebäude. Die Energieleistung von Gebäuden ist auf kurze und lange Sicht der Schlüssel zur Erreichung der Klima- und Energieziele der EU.

4.3   Holz als Baumaterial kann dazu beitragen, die Energieleistung von Gebäuden kostenwirksam zu verbessern. In zahlreichen internationalen wissenschaftlichen Studien wurde festgestellt, dass Gebäude mit Holzstruktur geringere Treibhausgasemissionen aufweisen als vergleichbare Gebäude mit Stahl- bzw. Betonstruktur (um jeweils 26 % bzw. 31 %). Darüber hinaus verbrauchten bei Wohngebäuden Häuser mit Stahl- bzw. Betonstruktur 17 % bzw. 18 % mehr graue Energie und verursachten 14 % bzw. 23 % mehr Luftverschmutzung als ein Haus mit Holzstruktur. Der Sektor kann somit eine wichtige Rolle für das Erreichen der EU-Roadmap 2050-Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 80 % bis 2050 spielen.

4.4   Der EWSA unterstreicht die Notwendigkeit einer Förderung des umweltschonenden Bauens mit umweltgerechten und ressourcenschonenden Strukturen und Verfahren während des gesamten Lebenszyklus der Gebäude: vom Entwurf über den Bau, den Unterhalt, die Wartung und die Renovierung bis hin zum Abbruch. Dabei sollte auch die Erstellung einer Ökobilanz (life cycle assessment, LCA) zur Ermittlung der Materialien mit den geringsten Auswirkungen auf die Erderwärmung gefördert werden.

4.5   Der EWSA bedauert, dass es immer noch rechtliche Schranken oder einstellungsbedingte Hindernisse gibt, die eine stärkere Verwendung von Holz im Wohnungsbau in der EU erschweren. Auf nationaler Ebene sollten Ad-hoc-Initiativen unternommen werden, um den Kenntnisstand über Holz als Baumaterial bei den kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften zu verbessern. Hinzu kommt ein Mangel an geeigneten Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, nicht nur in der holzverarbeitenden Industrie, sondern auch in verwandten Berufszweigen (Bauingenieure, Architekten usw.), der eines der Haupthindernisse für eine umfangreicher Nutzung von Holz als Baumaterial darstellt.

4.6   Die positive Rolle von Holz im Wohnungsbau wird in den derzeit verwendeten Bewertungskriterien für umweltschonendes Bauen leider nicht immer anerkannt. Einige der Einstufungssysteme wirken der Verwendung von Holz vielmehr entgegen. Der EWSA fordert daher die Verwendung allgemein anerkannter Methoden zur Lebenszyklusanalyse, die alle Vor- und Nachteile des Baumaterials, einschließlich der Kohlenstoffspeicherung, mit einbeziehen.

4.7   Eine breitere Verwendung von Holzerzeugnissen ist die umweltfreundlichste Lösung. Durch die Nutzung des gesamten Potenzials von Holz (Speicher- und Ersatzfunktion) im Bauwesen könnte Europa die CO2–Emissionen um 300 Mio. Tonnen (zwischen 15 und 20 %) (7) reduzieren. Der EWSA stellt fest, dass durch den Einsatz umweltschonender Baumaterialien konkrete Energieeinsparungen in Gebäuden erzielt werden können.

4.8   In Bezug auf die laufende Debatte über den Klimawandel und insbesondere die Diskussion über Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF) fordert der EWSA die Behörden allgemein auf,

Holzerzeugnisse als Kohlenstoffspeicher anzuerkennen (8);

die Verwendung von Materialien, die wie Kohlenstoffspeicher wirken, aber weniger Kohlenstoff und andere, für den „ökologischen Fußabdruck“ entscheidende Ressourcen verbrauchen, zu fördern.

5.   Herausforderungen und Chancen der Globalisierung für die Holz- und Möbelindustrie

5.1   Geografische Entfernungen schützen heutzutage nicht mehr gegen die Konkurrenz.

5.2   Die Globalisierung hat die europäische Holz- und Möbelindustrie in vielen Bereichen beeinflusst:

Es besteht ein Einfuhrdruck aus Billiglohnländern, insbesondere aus Asien, und nicht nur bei Gebrauchsgütern wie Möbeln oder Holzfußböden (Parkett und Laminat), sondern auch bei Sperrholz, für das bereits ein Antidumpingzoll eingeführt wurde. Sperrholz- und Möbelpreise geraten durch die Konkurrenz, insbesondere aus China, immer mehr unter Druck.

Rundholz (Buche, Eiche, Pappel) wird nach China ausgeführt und kommt in Form von (Halb-) Fertigerzeugnissen zurück auf den europäischen Markt. Laut den chinesischen Zollbehörden wurden in den ersten vier Monaten des Jahres 2010 11 Mio. m3 Rundholz eingeführt, 24 % mehr als im gleichen Zeitraum 2009. 2009 betrug der Wert importierter Holzverarbeitungserzeugnisse im strengen Sinne des Wortes 7 Mrd. EUR. Seit vielen Jahren ist China der größte ausländische Möbellieferant in die EU. Seit 2008 kommen über 50 % der Gesamteinfuhren nach Europa aus China. Die europäischen Möbeleinfuhren aus China liegen heute um 46,9 % höher als noch 2005, obwohl die Gesamtmöbeleinfuhren heute wertmäßig nur um 12,6 % höher liegen, was die Vorherrschaft Chinas deutlich macht.

5.3   Die europäischen Institutionen sollten für Bedingungsgleichheit Sorge tragen, dergestalt dass für die europäischen Hersteller und für ihre Konkurrenten die gleichen Marktregeln gelten. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA den Vorschlag des Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Antonio Tajani, einen „Wettbewerbsfähigkeitstest“ einzuführen, bevor ein Partnerschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und einem Drittland unterzeichnet wird. In Zukunft sollten Handels- und Investitionsvereinbarungen zwischen EU- und Nicht-EU-Staaten vor Beginn der Verhandlungen eine vollständige Folgenabschätzung vorausgehen. Der Ausschuss ist ferner ebenfalls der Meinung, dass jedwede anderen politischen Initiativen (z.B. in den Bereichen Energie-, Handels-, Umwelt-, Sozial- und Verbraucherschutzpolitik) vor ihrer Realisierung auf ihre Auswirkungen auf die industrielle Wettbewerbsfähigkeit geprüft werden sollten.

5.4   Da viele Auswirkungen der Globalisierung weder verlangsamt noch verhindert werden können, wird die europäische Holz- und Möbelindustrie weitere Fortschritte in Richtung innovativer Segmente machen müssen. Der Sektor hat sich bereits darauf konzentriert, Wettbewerbsvorteile zu erzielen wie etwa:

eine flexible Produktion, die eine Fertigung entsprechend den Kundenwünschen ermöglicht;

hohe Qualitätsstandards und moderne Technologien;

hochklassiges Design;

Entwicklung von Werten über den Preisaspekt hinaus (z.B. Markenbildung, Kauferlebnis);

Integration von Beratungs- und Servicedienstleistungen;

kurze Lieferzeiten mit geringen Lagerbeständen.

5.5   Die europäische Industrie konzentriert sich also auf einen „endlosen“ Innovationsprozess in Bezug auf Technologie, Funktionalität und Ästhetik. Sehr innovative und originelle Nischenprodukte sind unerlässlich, will man mit der chinesischen Industrie konkurrieren, die heute Erzeugnisse aller Art zu viel niedrigeren Preisen als in Europa fertigen kann.

6.   Soziale Aspekte

6.1   Aufgrund zahlreicher äußerer Stressfaktoren, wie der Globalisierung der Märkte, einem schnelleren technischen Wandel und der jüngsten globalen Finanzkrise steht der Holzverarbeitungs- und Möbelsektor unter gewaltigem Druck. Die Marktstrategien müssen neu ausgerichtet werden, damit dieser Sektor wettbewerbsfähig bleiben und weiterhin einen wichtigen Teil der europäischen Wirtschaft ausmachen kann. Die Herausforderungen umfassen dabei insbesondere Rentenregelungen, ein unterdurchschnittliches Ausbildungsniveau der Arbeitskräfte und die Fähigkeit, junge Arbeitnehmer anzuziehen und zu halten und das Qualifikationsprofil zu ändern. Die demografische Entwicklung der Arbeitnehmer dieser Branche sollte genau verfolgt werden, und außerdem sollten im Voraus entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um ein künftiges Gedeihen des Sektors nicht zu erschweren.

6.2   Ein Schlüsselfaktor ist die Verfügbarkeit ausgebildeter und qualifizierter Arbeitskräfte. Die besonderen Fähigkeiten, die der Herstellungsprozess von Möbeln oder Holzerzeugnissen erfordert, können den Erfolg des Produktes selbst bestimmen. Die Ausbildung der Arbeitskräfte muss sich nicht nur an den traditionellen Modellen, sondern auch an den neuen Markterfordernissen und der technischen Entwicklung orientieren.

6.3   Ein besonderer Problemfaktor ist derzeit der steigende Altersdurchschnitt der Beschäftigten in den meisten Teilsektoren der Branche und die geringe Anziehungskraft bei jungen Arbeitnehmern. Der Sektor braucht Arbeitskräfte, die in Bezug auf Qualifikationen und Technologien ausbildungsmäßig auf dem neuesten Stand sind.

6.4   Die Industrie arbeitet mit ihren Branchenverbänden und Gewerkschaften (9) zusammen, um diese Probleme des Mangels an qualifizierten Arbeitskräften zu lösen und den Sektor für junge Arbeitnehmer attraktiv zu machen. Ein zentraler Aspekt für die Wettbewerbsfähigkeit des Sektors ist somit die Gewährleistung einer ausreichenden Anzahl an qualifizierten Arbeitnehmern, um der Nachfrage im Sektor gerecht zu werden. Die Berufsausbildungsgänge sollten an den Arbeitskräftebedarf angepasst werden.

6.5   Die Industrie setzt sich über Projekte der bestmöglichen Praxis in den Bereichen Sicherheit und Gesundheitsschutz mit Unterstützung der Europäischen Kommission für den Schutz der Arbeitnehmer gegen Schadstoffbelastung am Arbeitsplatz ein. Die Projekte „REF-Wood“ und „Weniger Staub“ sind die besten Beispiele für die Bemühungen der holzverarbeitenden Industrie, für ihre Arbeitnehmer eine gesunde Arbeitsumgebung zu schaffen. Diese Initiativen der europäischen Sozialpartner zielten darauf ab, die Arbeit durch bessere Arbeitsbedingungen zu verbessern, und sollen zu einer Folgenabschätzung und zur Festlegung weiterer Maßnahmen führen, die die Verwirklichung der von den Sozialpartnern festgelegten Ziele ermöglichen. Die Holzverarbeitungs- und Möbelbranche hält es für unerlässlich, Beschäftigungs- und Entwicklungssicherheit zu gewährleisten, Gesundheit und Wohlbefinden der Arbeitnehmer zu erhalten, Fähigkeiten und Kompetenzen weiterzuentwickeln und ein gesundes Gleichgewicht zwischen Berufs- und Privatleben zu ermöglichen. Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass es Sozialchartas über die Rechte und Pflichten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf Unternehmensebene gibt.

6.6   Es sollte hervorgehoben werden, dass die europäische Holz- und Möbelindustrie aufgrund ihrer erneuerbaren Rohstoffe und ihres niedrigen Energieverbrauchs und auch durch die oft ländliche Lage ihrer Fertigungsstätten ein enormes Potenzial für die Schaffung umweltfreundlicher Arbeitsplätze in ländlichen Gebieten birgt.

7.   Forschung und Innovation

7.1   Um Zugang zu den europäischen Programmen für Forschung und Entwicklung zu erhalten, hat der europäische holzverarbeitende Sektor zusammen mit seinen Partnern aus der Zellulose- und Papierindustrie und den Waldbesitzern die „Forest-Based Sector Technology Platform (FTP)“ gegründet. Dadurch wurden zwar zweifellos Möglichkeiten im F&E-Bereich auf EU-Ebene eröffnet, doch wurden Projekte aus den Bereichen Holzverarbeitung und Möbelherstellung bisher nur mit mäßigem Erfolg auf EU-Ebene angenommen, da nur wenige KMU über die zur Teilnahme erforderlichen Ressourcen verfügen.

7.2   EU-Kooperationsprogramm wie die ERA-NETs sind besser auf die Bedürfnisse von KMU zugeschnitten und bieten auch Unternehmen des Sektors spezifische Möglichkeiten.

7.3   Um der Holz- und Möbelindustrie in Europa bessere Unterstützung in den Bereichen Forschung und Entwicklung zu bieten, sollten künftige EU-Forschungs- und Entwicklungsprogramme deswegen stärker auf die Bedürfnisse von KMU ausgerichtet sein, um diesen den Zugang zu den Programmen zu erleichtern und den gängigen Bedürfnissen der Unternehmen gerecht zu werden.

7.4   Der EWSA fordert die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten daher auf, diesen Anmerkungen gebührend Rechnung zu tragen, auch vor dem Hintergrund der derzeitigen öffentlichen Konsultation zum Grünbuch über einen gemeinsamen strategischen Rahmen für die zukünftige Finanzierung von Forschung und Innovation in der EU. Darüber hinaus ermutigt der EWSA die europäischen Institutionen, neue Initiativen zu erwägen, um die Entwicklung der nichttechnologischen Innovation voranzutreiben.

7.5   Innovation muss sich „natürlich“ entwickeln und kann nicht auf Befehl erbracht werden. Nationale und europäische Behörden können jedoch den Innovationsprozess unterstützen, indem sie für Rahmenbedingungen sorgen, bei denen es sich für Unternehmen lohnt, Zeit und Geld in ihre Zukunft zu investieren.

7.6   Die europäische Rohstoffpolitik hat sich in der Vergangenheit auf die kritischen Rohstoffe konzentriert und nicht so sehr auf andere Rohstoffe, wie Holz oder Recyclingpapier. Um dieser offensichtlichen Schwachstelle der EU-Politik abzuhelfen, plädiert der EWSA im Einklang mit den Empfehlungen in der Mitteilung der Europäischen Kommission über Rohstoffe für eine Einbeziehung von Holz als Grundrohstoff in die Europäische Innovationspartnerschaft für Rohstoffe.

8.   Rechte des geistigen Eigentums und Produktfälschung

8.1   Damit die EU in einer globalen Wirtschaft trotz zunehmender internationaler Fälschungen und Markenpiraterie in vielen Sektoren konkurrenzfähig bleiben kann, müssen Schutz und Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums auf der Tagesordnung ganz oben stehen. Der EWSA unterstreicht die Notwendigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der gewerblichen Schutzrechte, insbesondere durch die Schaffung eines Einheitlichen Europäischen Patents.

8.2   Der EWSA weist auf die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen Industrie und Regierungsbehörden (auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene) zur Bekämpfung von Fälschungen hin. Beamte des öffentlichen Dienstes und Zollmitarbeiter müssen besser informiert und die Verbraucher stärker sensibilisiert werden. Auch die Entwicklung von entsprechenden Technologien, mit denen echte von gefälschter Ware leichter unterschieden werden kann, dürfte hilfreich sein. Der EWSA rät zu europäischen Maßnahmen zur Stärkung der nationalen Zollbehörden im Kampf gegen den Handel mit gefälschten Waren.

8.3   Die von Confindustria im letzten Jahr organisierte italienische Initiative eines „Nationalen Anti-Fälschungstags“ in Rom und mehreren anderen italienischen Städten wäre hier als gutes Beispiel zu nennen. Der EWSA fordert die europäischen Institutionen auf, auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene ähnliche Veranstaltungen zu organisieren.

8.4   Gefälschte Möbelerzeugnisse können gesundheitsschädlich oder sogar lebensgefährlich sein. Aus diesem Grund ersucht der EWSA die Europäische Kommission, ein „Produktblatt“ für Möbel einzuführen, um die Rechte des geistigen Eigentums zu stärken und den Handel mit gefälschten Waren zu bekämpfen. Dieses Informationsblatt sollte dem erworbenen Produkt beiliegen, um die notwendige Transparenz in den Handelsbeziehungen zwischen Herstellern, Händlern und Verbrauchern zu gewährleisten. Auf dem europäischen Markt angebotenen Möbelerzeugnissen sollten mindestens folgende Informationen beigefügt werden: die rechtmäßige Bezeichnung oder die Bezeichnung laut GZT-Nomenklatur des Produktes, der Firmenname des Herstellers oder des Einführers, die Herkunft des Produkts, die Angabe jeglicher im Produkt enthaltener und für den Menschen oder die Umwelt schädlicher Materialien oder Substanzen, Angaben zu den verwendeten Materialien und den Produktionsverfahren, sofern sie für die Qualität oder Eigenschaften des Produkts von Bedeutung sind, und die Gebrauchsanleitung.

8.5   Der Ausschuss hält es für dringend erforderlich, die Holz- und Möbelindustrie durch wirtschaftliche Reformen zu unterstützen, die Produktförderung auf internationaler Ebene zu stärken und einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Die EU sollte außerdem die Schwellenländer auffordern, ihre nationalen Systeme zu reformieren, um bürokratische Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, oder gesetzes- oder verwaltungsbedingte Ungleichheiten, die durch die Zollerhebung entstehen können, auszugleichen. Darüber hinaus könnte der Rechtsrahmen verbessert werden, um klare Regelungen für europäische Unternehmen zu schaffen, die in Drittlandsmärkte investieren möchten.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Quelle: Europäische Studie „Real potential for changes in growth and use of EU forests. EUwood“, Seite 45, Kapitel 3.5 zum künftigen Bedarf an Holzenergie: „… Der Holzverbrauch für Energieerzeugung wird voraussichtlich von 346 Mio. Festmeter (3,1 EJ) im Jahr 2010 auf 573 Mio. Festmeter (5 EJ) im Jahr 2020 ansteigen und 2030 bei 752 Mio. Festmeter (6.6 EJ) liegen. Diese Ergebnisse basieren auf der Annahme, dass der Holzanteil bei der Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen von 50 % im Jahr 2008 auf 40 % im Jahr 2020 zurückgehen wird.“

(2)  Datenquelle: European Panel Federation (EPF) Jahresbericht 2009-2010.

(3)  Vaclav Smil: Power Density Primer – Understanding the Spatial Dimension of the Unfolding Transformation to Renewable Electricity Generation, Mai, 2010.

(4)  „Mobilisation and efficient use of wood and wood residues for energy generation“. Bericht der Ad-hoc Arbeitsgruppe II an den Ständigen Ausschuss für die Forstwirtschaft über die Mobilisierung und effiziente Nutzung von Holz und Holzabfällen zur Energieerzeugung.

(5)  Tackle Climate Change: Use Wood. CEI-Bois-Veröffentlichung, November 2006.

(6)  Energieffizienzplan 2011 - KOM (2011)109 endg.

(7)  CEI-Bois: www.cei-bois.org

(8)  Dušan Vácha, TSU Internship, Harvested Wood Products, approaches, methodology, application, IPCC/NGGIP/IGES, Kanagawa, Japan, Mai 2011.

(9)  Siehe z.B. die Pfleiderer AG Sozialcharta (PASOC), die am 30. November 2010 in Frankfurt am Main unterzeichnet wurde. http://www.pasoc.innopas.eu/fileadmin/docs/press/sozialcharta/Vereinbarung_mit_Unterschriften.pdf


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/24


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Dauerhafte Beschäftigungsperspektiven im Eisenbahnsektor, im Bereich des rollenden Materials und bei den Infrastrukturbauern: Welche Auswirkungen hat der industrielle Wandel auf die Beschäftigung und die Kompetenzbasis in Europa?“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 24/05

Berichterstatter: Brian CURTIS

Ko-Berichterstatterin: Monika HRUŠECKÁ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2011, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Dauerhafte Beschäftigungsperspektiven im Eisenbahnsektor, im Bereich des rollenden Materials und bei den Infrastrukturbauern: Welche Auswirkungen hat der industrielle Wandel auf die Beschäftigung und die Kompetenzbasis in Europa?“ (Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 27. September 2011 an. Berichterstatter war Brian CURTIS, Ko-Berichterstatterin war Monika HRUŠECKÁ.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 104 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der europäische Sektor für Eisenbahnmaterial hat seine Fähigkeit bewiesen, umwelt- und nutzerfreundliche Verkehrslösungen auf dem neuesten Stand der Technik zu liefern, die den hohen Anforderungen in Bezug auf die Mobilität und die Senkung der CO2-Emissionen genügen. Der Abschwung innerhalb des europäischen Marktes und der begrenzte Zugang zu anderen Märkten werden die Führungsposition der europäischen Industrie untergraben. Die ehrgeizige europäische Verkehrsagenda kann ohne eine starke, in Europa angesiedelte Industrie nicht umgesetzt werden. Der EWSA empfiehlt die folgenden Maßnahmen, um die strategische Stellung dieser Branche in Europa zu festigen und zu stärken.

1.2

Es muss eine umfassende Bestandsaufnahme der Engpässe bei den wichtigsten nationalen und grenzüberschreitenden Schienenverkehrsverbindungen vorgenommen werden.

1.3

Ein Vergleich der operationellen Stadtverkehrssysteme in europäischen Metropolregionen und Verkehrslösungen nach dem neuesten Stand der Technik unter dem Blickwinkel der Energie- und Umwelteffizienz sollten dabei als Bezugsgröße dienen.

1.4

EU-Hersteller sollten den gleichen Zugang zu Drittstaatsmärkten haben wie Hersteller aus Drittstaaten zum europäischen Markt.

1.5

Es wird eine umfassende Industriepolitik benötigt, die umfangreiche Investitionen in konventionelle Systeme beinhaltet. Ausbleibende Investitionstätigkeit würde bedeuten, dass weitere Arbeitsplätze und Qualifikationen in diesem strategisch wichtigen Sektor verlorengehen. Dies wiederum würde zu einer gefährlichen Schwächung des Sektors führen.

1.6

Die Europäische Eisenbahnagentur hat zwar technische Spezifikationen für die Interoperabilität herausgegeben, doch ist ein integriertes Schienennetz noch lange keine Realität, was offenkundige Hindernisse für einen gesamteuropäischen Schienenverkehr schafft. Nach Auffassung des EWSA muss angesichts des aktuellen Zustands die Europa-2020-Strategie umfassend eingesetzt werden, die u.a. einen festen Rahmen für die Koordinierung zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten in Angelegenheiten vorsieht, die nicht direkt von Verordnungen oder Rechtsvorschriften der EU abgedeckt werden, jedoch von erheblicher Bedeutung für den Binnenmarkt sind.

1.7

Eine deutliche Ausweitung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit auch unter Einbeziehung von Hochschulen, Forschungszentren und entsprechend ausgebildeten Nachwuchskräften ist von vitaler Bedeutung für die Standardisierung der Entwicklung, Konzipierung und Herstellung moderner Züge, die für mehrere Schienen- und Signalsysteme geeignet sind. Allein dies würde die europäische Industrie ankurbeln. Die Förderung der Nutzung des Schienenverkehrs sollte durch eine Vielfalt an Maßnahmen unterstützt werden, um Verkehrsverdichtungen und CO2-Emissionen zu senken. Um einen Wandel der Gewohnheiten herbeizuführen, müssen gleichzeitig die Kapazitäten, die Attraktivität und Nutzerfreundlichkeit des Schienenverkehrs in einem Umfeld lauteren Wettbewerbs - auch mit anderen Verkehrsträgern - gesteigert werden.

1.8

Die EU und die Regierungen der Mitgliedstaaten sollten Innovationstätigkeiten als Faktor zur Aufrechterhaltung und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Europas befürworten und unterstützen, wie in der EU-2020-Strategie vorgeschlagen. Als vorrangige Konzepte in diesem Bereich wären zu nennen: Vereinfachung der Technologie, Gewährleistung der Qualität der angebotenen Dienstleistungen (in Bezug auf Sicherheit, Komfort, Regelmäßigkeit und Kapazität usw.), Senkung des Energieverbrauchs und Verringerung des CO2-Fußabdrucks.

1.9

Die technologische Entwicklung geht Hand in Hand mit der Entwicklung von Kompetenzen und Wissen innerhalb des Sektors und der Fähigkeit, junge Ingenieure anzuwerben (Kampf um Talente). Die Anforderungen potenzieller Nutzer und anderer Akteure treiben die technische Entwicklung voran, daher müssen die Sozialpartnerschaft und die Einbindung der maßgeblichen Akteure ausgebaut werden.

1.10

Auf mittel- und langfristige Sicht sollte die Einrichtung eines europäischen Qualifikationsrates für den Sektor ins Auge gefasst werden, um festzustellen, welche Qualifikationen und Arbeitsplätze in diesem Sektor benötigt werden. Deshalb ist es wichtig, dass aktuelle Forschungsarbeit durchgeführt wird und genaues Datenmaterial über die Beschäftigungslage im Schienenverkehrsbereich zusammengetragen wird, um den künftigen Bedarf definieren zu können.

1.11

Ohne eine umfassende Industriepolitik und entsprechende Mittelbereitstellung wird der Fragmentierungsprozess weitergehen und der europäische Markt seine Führungsposition einbüßen. Nur ein wachsender Inlandsmarkt wird dem Sektor die Beibehaltung der derzeitigen Beschäftigtenzahlen in Europa ermöglichen.

2.   Einleitung

2.1

Der Schienengüter- und -personenverkehr ist in einer modernen Volkswirtschaft ein Schlüsselfaktor; er entspricht dem Interesse der breiten Öffentlichkeit und hat für die politischen Entscheidungsträger strategische Bedeutung für die Steigerung der Mobilität und der Logistikströme bei gleichzeitiger Verringerung der Umweltbelastung. Er ermöglicht energieeffiziente Mobilität bei niedrigsten CO2-Emissionen und stellt eine verkehrstechnische Antwort auf die überlasteten Autobahnen und Stadtgebiete dar. Bei mittellangen Verkehrsverbindungen könnte die Schiene eine Alternative zum Flugzeug sein, im Kurzstreckenverkehr und örtlichen Verbindungen könnte der Schienenverkehr das Straßenverkehrsaufkommen senken.

2.2

Für eine umweltfreundliche und mobile europäische Gesellschaft sowie für die weitere Integration der Europäischen Union als Ganzes und der neuen Mitgliedstaaten im Besonderen ist ein leistungsfähiges Verkehrsnetz von zentraler Bedeutung. Mit den derzeit vorhandenen Netzen kann weder von der Kapazität noch von der Qualität her ein größerer Marktanteil für die Schiene erzielt werden.

2.3

Die ständig steigenden Kraftstoffpreise und die Abhängigkeit vom Erdöl, das zunehmende Umweltbewusstsein und die Eindämmung der CO2-Emissionen werden allesamt das Nutzungsprofil der verschiedenen Verkehrsträger beeinflussen. Deswegen müssen der Schienenverkehr aufgewertet und geeignete neue Infrastruktur geschaffen werden. Der Weltmarkt wird von China beherrscht, das in großem Maßstab in den Ausbau und die Modernisierung seines innerstädtischen und regionalen Schienennetzes investiert. Andere Schwellenländer, wie etwa Indien, Russland, Brasilien und Saudi Arabien, führen ebenfalls Großprojekte durch oder haben solche Vorhaben geplant. Das Wachstum außerhalb und der Abschwung innerhalb des europäischen Marktes sowie die mangelnde Gegenseitigkeit auf dem Weltmarkt werden Europas Führungsposition letztlich untergraben.

2.4

Der öffentliche Nahverkehrsmarkt besitzt enormes Wachstumspotenzial. Weltweit gibt es derzeit 300 städtische Großräume mit mehr als einer Million Einwohnern aber ohne schienengeführtes Stadtverkehrssystem (U-Bahn oder Straßenbahn).

2.5

In China, den USA und anderen Teilen der Welt sind Superhochgeschwindigkeits- und konventionelle Schienenprojekte geplant. Die europäische Industrie benötigt jedoch gleiche Ausgangsbedingungen und gleichen Marktzugang, um hier mitbieten zu können.

2.6

Eine leistungsfähige Schienenverkehrsinfrastruktur mit modernen Einrichtungen und Ausrüstungen ist für eine erfolgreiche Änderung des Verbraucherverhaltens, der Umweltbeanspruchung und der Arbeitsmarktmobilität Grundvoraussetzung. Ein gut funktionierendes Schieneninfrastruktursystem, einschließlich einer geeigneten Einbindung der Bürger in die Planungs- und Entscheidungsprozesse, ist hier eine Grundvoraussetzung. Wegen der Komplexität und Investitionsintensität der Systeme kann die Produkteinführungszeit mehrere Jahrzehnte betragen. Von den Entscheidungen, die wir heute treffen, wird es abhängen, wie der Verkehrssektor im Jahre 2050 aussieht.

2.7

Die asiatische Konkurrenz hat in Europa bereits Fuß gefasst, während die Drittlandsmärkte noch immer durch entsprechende Regulierungen und legislative Hindernisse abgeschottet sind. Um diese Hindernisse zu umgehen, „kaufen“ europäische Hersteller Marktanteile über den Technologietransfer und schaffen so in dem jeweiligen Empfängerland eine Industriebasis, die letztlich die europäische Beschäftigungsbasis untergraben wird.

2.8

Die zunehmende Macht dieser Drittlandskonkurrenz dürfte in fünf bis zehn Jahren am stärksten spürbar werden, wenn beispielsweise der chinesische Markt selbst seine volle Entfaltung erreicht hat. Dies wird sich unmittelbar auf die Berufsaussichten im europäischen Eisenbahnsektor auswirken.

2.9

In Europa wurden im Rahmen des TEN-V-Programms 2007-2013 lediglich 4,3 Mrd. EUR für den Schienenverkehr bereitgestellt. Zusätzliche Mittel aus dem Kohäsionsfonds fließen hauptsächlich in Straßen und werden nicht vollkommen ausgeschöpft, wobei die Kofinanzierungsanforderungen ein Hinderungsgrund zu sein scheinen. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Lage in den neuen Mitgliedstaaten gewidmet werden. Zwar sind ihre Schienensysteme in Bezug auf Umfang, Kapazität und technischen Stand in der EU am geringsten entwickelt, doch ist die Mittelzuweisung hier relativ gering. Von den verhältnismäßig wenigen geplanten Vorhaben befinden sich die meisten noch immer in der Studien- bzw. Pilotphase.

2.10

Nationale und europäische Fördermittel für den Straßenverkehr, Darlehen und Unterstützungsmaßnahmen für die Automobilindustrie, Steuererleichterungen für den Luftverkehr - all dies steht im Gegensatz zur Behandlung der Schiene. Die Tatsache, dass im Schienenverkehr der Energieverbrauch und die Einkünfte aus Fahrscheinen besteuert werden, zeigt eindeutig die in vielerlei Hinsicht stiefmütterliche Behandlung der Schiene. Trotz ihrer Nachhaltigkeit im sozialen und Umweltbereich wird die Wettbewerbsfähigkeit der Schiene gegenüber anderen Verkehrsträgern durch die ungerechte Besteuerung negativ beeinflusst.

2.11

Die Einführung von überlangen LKW-Kombinationen (Diesel-LKW, die häufig irreführend als „Ecocombi“ bezeichnet werden) und der zunehmende Fernbusverkehr als Folge der Deregulierung in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten untergraben die Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs weiter.

2.12

Die Nachfrage nach rollendem Material und Eisenbahninfrastruktur „Made in Europe“ wird durch diesen unlauteren Wettbewerb zwischen den einzelnen Verkehrsträgern und die weltweiten Handelshemmnisse eindeutig negativ beeinflusst.

2.13

Der europäische Sektor für Eisenbahnmaterial ist ein wettbewerbsfähiger Sektor und vereinigt auf sich einen beträchtlichen Beschäftigungsanteil. Auch wenn keine zuverlässigen einschlägigen statistischen Angaben vorliegen, so sind mindestens 133 000 Menschen in der Produktion von Infrastruktur und Zügen beschäftigt. Die Gesamtbeschäftigtenzahl in diesem Sektor in Europa wird auf 300 000 Arbeitnehmer geschätzt. Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, eine Bestandsaufnahme und Wettbewerbsfähigkeitsanalyse der Eisenbahnzulieferindustrie durchzuführen, die einen besseren Einblick in diesen Wirtschaftszweig geben wird.

2.14

Viele Länder beabsichtigen, ihre Infrastruktur zu erneuern oder zu modernisieren, neue Züge für den Vorstadt- und den Regionalverkehr zu entwickeln, U-Bahnnetze und rollendes Material zu modernisieren oder zu erweitern, die Finanzkrise hat jedoch viele Pläne in Gefahr gebracht und das erwartete Investitionsvolumen geschmälert. Verschiebung und Verkleinerung der Vorhaben sind an der Tagesordnung.

2.15

Anstatt auf Erneuerung und Investition in neue Technologien setzen viele Betreiber konventioneller Netze auf die Überholung ihres alten Flottenbestands. Mit einer Verlangsamung der Elektrifizierungspläne (48 % der 230 000 Schienenkilometer in Europa sind nicht elektrifiziert) verlangsamt sich auch die technologische und ökologische Entwicklung und kann vielleicht sogar vollständig zum Erliegen kommen.

2.16

Ein aufkommender Schienenverkehrsmarkt in anderen Teilen der Welt wird den Globalisierungsprozess beschleunigen und könnte die Technologiebasis und die Langzeitbeschäftigung in Europa antasten. Asien hat Westeuropa als weltgrößter Markt für Eisenbahntechnik bereits überholt, eine Entwicklung mit der bislang nicht vor 2015/16 gerechnet wurde. China hat allein im Jahr 2009 circa. 60 Mrd. EUR in den Ausbau und die Verbesserung seines Schienennetzes gesteckt (1) und beabsichtigt, in den nächsten Jahren weitere 300 Mrd. zu investieren. Der Strategieplan für das Trans-American Passenger Network sieht Investitionen in Höhe von 50 Mrd. öffentlicher Mittel bis zum Jahr 2050 vor.

2.17

Die Europäische Kommission ist sehr aktiv gewesen und veröffentlichte 2007 das Grünbuch zur Mobilität in der Stadt (2). Im Jahr 2008 informierte die Kommission über die geschätzten externen Kosten im Verkehrssektor (3). Im Jahr 2009 wurden im „Grünbuch TEN-V: Überprüfung der Politik - Ein besser integriertes transeuropäisches Verkehrsnetz im Dienst der gemeinsamen Verkehrspolitik“ (4) sowie im „Aktionsplan urbane Mobilität“ (5) neue Instrumente wie Studien, Datenbanken und Informationsmaterial vorgeschlagen. 2011 schließlich veröffentlichte die Kommission das Weißbuch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum“ (6), in dem die Kosten für notwendige Investitionen in Infrastruktur, Ausrüstungen und Fahrzeuge in den nächsten 20 Jahren auf mehr als 3 000 Mrd. EUR geschätzt werden. Der EWSA sieht den Schienenverkehr als emissionsärmsten Verkehrsträger an, begrüßt die sehr ehrgeizige Vision dieses Weißbuchs und wünscht sich Maßnahmen für deren Umsetzung.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Verzögerungseffekt der Finanzkrise hat den Druck auf die europäischen Schienenverkehrssysteme erhöht. Viele europäische Länder, die von der Finanz- und Wirtschaftskrise getroffen wurden, können sich die Erneuerung ihrer Schienenverkehrssysteme nicht leisten. Ehrgeizige Großvorhaben wie die Rail Baltica müssen viele politische und budgetäre Hürden überwinden und könnten in der derzeitigen Lage gefährdet sein.

3.2

Die Auswirkungen der Krise auf die Staatshaushalte haben zu einer Verschiebung der Investitionen in konventionelle Systeme geführt. Die konventionellen Systeme sind jedoch das bevorzugte Verkehrsmittel für den Durchschnitts-Kurzstreckenpendler. Da diese Systeme bereits bestehen, ist ihr ökologischer Einfluss im Vergleich zu Hochgeschwindigkeitszugverbindungen minimal. Unter Berücksichtigung des Transportvolumens und der Verkehrsdichte ist auch ihr Einfluss auf die Verringerung der Umweltbelastung und von Verkehrsengpässen als Alternative zum Autoverkehr größer.

3.3

Auch wenn die Mittelstrecken-Hochgeschwindigkeitszugnetze in den letzten Jahrzehnten eine rasante Entwicklung erfuhren, werden ihr Ausbau und ihre Anbindung an die bestehenden Netze die nächste große Herausforderung sein.

3.4

Die Schwerpunktsetzung auf die Entwicklung des Hochgeschwindigkeitsbereichs hat zu unzureichenden Investitionen in konventionelle Schienenverkehrsverbindungen geführt, was wiederum überaltertes rollendes Material und veraltete Infrastruktur hinsichtlich Signaleinrichtungen, Energieeffizienz, Kapazität und Sicherheitsstandards nach sich zog. Bei einer weiterhin anhaltenden unausgewogenen Mittelzuweisung zugunsten des Ausbaus des Hochgeschwindigkeitsschienenverkehrs wird sich dieser Prozess fortsetzen.

3.5

Die konventionellen Schienenverkehrssysteme haben sich in 150 Jahren von regionalen zu nationalen Systemen entwickelt. Die Systemparameter (Lichtraumprofil, Spannung, Höchstgeschwindigkeiten, Signaleinrichtungen und Sicherheit) sind von Land zu Land und in manchen Fällen sogar von Region zu Region unterschiedlich. Das konventionelle europäische Schienenverkehrsnetz ist gewissermaßen ein Geflecht unterschiedlicher Systeme. Es gab eine ganze Reihe von Konzepten um diese Uneinheitlichkeit zu überwinden: Normung (beispielsweise die europäische Sicherheitsnorm), mehrsystemtaugliches rollendes Material (Sicherheitssysteme, Spannung und verstellbare Spurweite) sowie technische Lösungen um infrastrukturmäßige Beschränkungen auszugleichen (Neigezüge, Doppelstockwagen usw.).

3.6

So wie das System Stückwerk ist, so sind auch die im Hintergrund getroffenen politischen Entscheidungen ein buntes Allerlei. Bei jedweder Planung kommen zahlreiche Behörden der lokalen, regionalen und nationalen Ebene aus den Politikbereichen Verkehr, Raumplanung, Demografie, wirtschaftliche und ökologische Entwicklung ins Spiel. Die Projekte werden als öffentliche oder öffentlich-private Vorhaben durchgeführt und in zunehmendem Maße privaten Betreibern anvertraut. Aus dem Erfolg wie auch aus dem Scheitern von Vorhaben können neue Erkenntnisse gewonnen werden.

3.7

Politische Entscheidungen bewirken eine Trennung zwischen den hochrentablen und den weniger lohnenden und verlustbringenden Teilen des Netzes, mit dem Ergebnis, dass die Dienstleistung an der Peripherie des Netzes verfällt.

3.8

Im Nahverkehr verlangsamt sich der weitere Ausbau und könnte aufgrund der hohen Kosten und Risiken völlig zum Erliegen kommen. In vielen städtischen Gebieten wird die Umwandlung stillgelegter Vorstadtzugstrecken in Stadtbahnverbindungen und die Schaffung/Reaktivierung von Straßenbahnlinien als Alternative zur U-Bahn angesehen. Der Dominoeffekt der nationalen Sparpläne führt dazu, dass diese Pläne aufgeschoben und auf Eis gelegt werden.

3.9

Im Straßenbahnbereich hat die Industrie Niederflurtechnik, Gleichstromsteller-Technik, Energierückgewinnung und oberleitungsfreie Energieübertragung (PRIMOVE und System APS) entwickelt, die Zugänglichkeit verbessert, die CO2-Emissionen gesenkt und ästhetische Einwände und praktische Widerstände überwunden. Viele städtische Verkehrsbetreiber verwenden noch immer spätere Versionen des PCC-Straßenbahnwagentyps von 1930 (7).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Während Europa in der Vergangenheit bei der Schienenverkehrsentwicklung der führende Kontinent war, wird die „Dialektik der Führung“ verstärkt durch schwindende öffentliche Ausgaben Europa auf den letzten Platz verweisen.

4.2

Der Mobilitätsbedarf verursacht Verkehrsverdichtung, Verschmutzung und längere Fahrzeiten. Maßnahmen wie Straßenbenutzungsgebühren können eine Senkung der PKW-Benutzung bewirken, dann muss es aber eine konkurrenzfähige, zuverlässige, umweltfreundliche und komfortable Alternative geben. Die Einführung einer Innenstadtmaut in Stockholm und London war ein Erfolg, weil beide Städte über ein ausgedehntes U-Bahnnetz verfügen, das das Rückgrat des gesamten öffentlichen Nahverkehrs bildet. Der Pendlerverkehr in Richtung Innenstadt könnte durch Straßenbenutzungsgebühren verringert werden, wenn es leistungsfähige Haus-zu-Haus-Alternativen gibt.

4.3

Dicht befahrene Routen der bestehenden konventionellen Schienenverkehrssysteme haben ihre Kapazitätsgrenze erreicht. Auf vielen Strecken ist die Bedienungshäufigkeit am Sicherheitslimit angelangt, die Zuglängen haben die von den derzeitigen Bahnsteigparametern vorgegebenen Obergrenzen erreicht und die Raummaße sind an den vom Lichtraumprofil gesteckten Grenzen angelangt. Für eine Kapazitätssteigerung sind umfangreiche Investitionen erforderlich.

4.4

Die Integration zwischen Verkehrsträgern ist noch nicht optimal. Der Zug bringt die Passagiere zwar ins Stadtzentrum, die Pendler brauchen jedoch eine zuverlässige Verbindung von dort aus zu ihrem Endziel, häufig ein Gewerbegebiet am Stadtrand. U-Bahnen, getrennte Stadtbahn- und Straßenbahnnetze können noch ausgebaut, besser integriert und verbessert werden, um die Durchschnittsfahrzeit von Haustür zu Haustür zu senken. Und auch hier sind umfangreiche Investitionen erforderlich.

4.5

Obwohl die Entwicklung der Hochgeschwindigkeitsschienenverkehrsnetze sehr schnell vonstatten ging, sind die meisten Netze Einzelsysteme. Der Nord-Ost-Korridor, die Verbindungen nach Osteuropa und die internationalen Verbindungen zum und im Mittelmeerraum können noch immer nicht mit dem Luftverkehr konkurrieren. Es müssen beträchtliche Investitionen getätigt werden, um den Hochgeschwindigkeitszugverkehr auf mehr Routen konkurrenzfähig zu machen.

4.6

Auch wenn die Kommission in ihrem Weißbuch (8) eine ehrgeizige Vision vorgelegt hat, sollte die strategische Perspektive für die Finanzierung der transeuropäischen Eisenbahnnetze geklärt werden. Wie sieht die Industriepolitik der einzelnen Mitgliedstaaten und der Europäischen Union im Allgemeinen aus und wie fügt sich die Produktion von Eisenbahnmaterial in diese Industriepolitik ein? Wie realistisch sind die Pläne im Angesicht der Wirtschafts- und Finanzkrise? Wie umfangreich ist das Budget für den Schienenverkehr im Vergleich zum Budget für andere Verkehrsträger (Verhältnis Schiene/Straße)? Wirkt sich die weltweite Handelspolitik auf die industrielle Basis Europas aus und was können wir dagegen tun? Schaffen die Ausschreibungsverfahren wirklich Bedingungsgleichheit für die europäische Industrie oder schaffen sie Möglichkeiten für Außenstehende, deren Heimatmarkt durch Handelshemmnisse abgeschottet ist?

4.7

Wenn der Niedergang nicht aufgehalten wird, dann wird dieser Sektor wegen der sich verschlechternden Langzeitperspektiven seine Attraktivität für junge Ingenieure und andere qualifizierte Arbeitnehmer des Infrastrukturbereichs verlieren und nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren können.

4.8

Wegen der langen Entwicklungs- und Produktionszeit werden schwindende Auftragseingänge zu Personalabbau und zu einer abnehmenden Angebotsvielfalt und geringerem Wettbewerb führen.

4.9

Um überleben zu können, werden die Unternehmen die Zahl ihrer Standorte verringern und ihre Sozialnormen herunterstufen müssen und auf Flexibilität der Zulieferer angewiesen sein, was die langfristige Wettbewerbsfähigkeitsgrundlage beeinträchtigen und zu einem weiteren Attraktivitätsverlust des Sektors für Fachkräfte führen wird.

4.10

Ohne eine umfassende Industriepolitik und entsprechende Mittelbereitstellung wird der Fragmentierungsprozess weitergehen und der europäische Markt seine Führungsposition einbüßen. Nur ein wachsender Inlandsmarkt wird dem Sektor die Beibehaltung der derzeitigen Beschäftigtenzahlen in Europa ermöglichen.

4.11

Generell sollten die Mitgliedstaaten und ihre Regierungen auf sämtlichen Ebenen dazu angeregt werden, insbesondere in diesen von Haushaltszwängen geprägten Zeiten nicht auf Investitionen in notwendige Verkehrsinfrastrukturen bei jeglichen Verkehrsträgern zu verzichten, da diese für eine langfristige europäische Entwicklungsstrategie von grundlegender Bedeutung sind und auch zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen führen.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Boston Consulting 2010:3.

(2)  KOM(2007) 551 endg.

(3)  http://ec.europa.eu/transport/sustainable/doc/2008_costs_handbook.pdf.

(4)  KOM(2009) 44 endg.

(5)  KOM(2009) 490 endg.

(6)  KOM(2011) 144 endg.

(7)  Der PCC-Straßenbahnwagentyp (PCC: Presidents' Conference Committee) wurde in den 1930er Jahren ursprünglich in den Vereinigten Staaten entworfen und gebaut. In den USA erwies sich dieser Typ als erfolgreich und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für die weltweite Nutzung lizenziert.

(8)  Siehe Fußnote 6.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/29


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Stärkung des EU-Zusammenhalts und der EU-Koordinierung im Sozialbereich durch die neue Horizontale Sozialklausel nach Artikel 9 AEUV“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 24/06

Berichterstatter: Christoph LECHNER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Stärkung des EU-Zusammenhalts und der EU-Koordinierung im Sozialbereich durch die neue Horizontale Sozialklausel nach Artikel 9 AEUV“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 28. September 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 113 gegen 1 Stimme bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Eine grundlegende Neuerung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist die Horizontale Sozialklausel (HSK, Artikel 9 AEUV), die besagt, dass die Union bei „der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, mit der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung trägt.“ Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, der mit der Annahme des Vertrags von Lissabon mehr als zuvor aufgerufen ist, einen Beitrag zur sozialen Dimension der EU zu leisten, ist der Ansicht, dass diese Klausel nur dann ein wichtiger Schritt hin zu einer stärker sozial geprägten EU ist, wenn sie auch richtig angewandt wird. Er unterstützt daher zahlreiche Schlussfolgerungen und Empfehlungen einer unabhängigen wissenschaftlichen Studie, die der belgische EU-Ratsvorsitz in der zweiten Jahreshälfte 2010 in Auftrag gegeben hatte (1).

1.2   Der EWSA hebt hervor, dass die Umsetzung der HSK die Anwendung von Primärrecht ist, zu dem sich alle Mitgliedstaaten mit der Unterzeichnung und Ratifizierung des Vertrags von Lissabon verpflichtet haben. Sie sollte in ihrem Anwendungsbereich und in ihren Methoden keinen Einschränkungen unterliegen, sondern muss im Gegenteil in allen relevanten Politikbereichen und Maßnahmen der EU, einschließlich der ökonomischen Bereiche, sowohl von EU-Institutionen als auch von den einzelnen Mitgliedstaaten angewandt werden.

1.3   Die Europäische Kommission, der vom Vertrag von Lissabon die Aufgabe übertragen wurde, „die allgemeinen Interessen der Union“ (Artikel 17 EUV) zu fördern, muss über die zufriedenstellende Einhaltung der Klausel wachen und dafür sorgen, dass sie in allen relevanten Dokumenten und auch gerichtlichen Schriftstücken erwähnt und umfassend berücksichtigt wird und zur Verwirklichung der neuen Ziele des Vertrags sowohl durch die Europäische Union als auch die Mitgliedstaaten beiträgt.

1.4   Die Europäische Kommission sollte die Rolle der Verfahren zur Abschätzung der sozialen Auswirkungen im Rahmen ihres allgemeinen Systems der Folgenabschätzungen insgesamt weiter ausbauen. Dies sollte als wichtiges Instrument anerkannt werden, um systematisch sicherzustellen, dass die gemeinsamen sozialen Ziele der EU in alle relevanten EU-Politikbereiche einbezogen werden.

1.5   Die HSK muss angewandt werden auf die großen Bereiche und die Gesamtstruktur der neuen sozial- und wirtschaftspolitischen Steuerung auf EU-Ebene im Rahmen der Europa-2020-Strategie, auf die sich der Europäische Rat 2010 geeinigt hat. Sie muss Anwendung finden bei allen ihren drei Prioritäten (intelligentes Wachstum, nachhaltiges Wachstum und integratives Wachstum), bei der Überwachung der Fortschritte zur Erreichung der fünf EU-Kernziele (die noch in nationale Zielvorgaben umgesetzt werden müssen und einen effizienten Beitrag zu den EU-Zielen leisten sollen), bei den sieben Leitinitiativen, den zehn integrierten wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Leitlinien, dem „Europäischen Semester“ und der neuen wirtschaftspolitischen Steuerung.

1.6   Daher wird der EWSA und alle seine Fachgruppen im Hinblick auf die Stärkung der sozialen Dimension der EU in seinen Stellungnahmen und sonstigen Arbeiten die rechtsverbindliche HSK wie auch alle anderen rechtsverbindlichen Horizontalklauseln (Artikel 8 bis 12 AEUV) angemessen berücksichtigen.

1.7   Der EWSA wird bei jeder Stellungnahme für die Europäische Kommission oder andere EU-Organe jedes Mal prüfen, ob ein angemessenes soziales Folgenabschätzungsverfahren durchgeführt wurde. Gegebenenfalls wird der EWSA die zuständigen EU-Organe dazu auffordern, einen etwaigen Mangel zu beheben.

1.8   Dem Ausschuss für Sozialschutz kommt angesichts seiner Zuständigkeit für die Koordinierung und Zusammenarbeit auf EU-Ebene im sozialen Bereich eine größere Rolle zu, wenn es um eine starke soziale Dimension für die Europa-2020-Strategie und ganz allgemein um die Umsetzung einer sozialen EU geht. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass er in Zukunft bei der Umsetzung und Überwachung der Europa-2020-Strategie neben dem Ausschuss für Wirtschaftspolitik und dem Ausschuss für Beschäftigung der EU eine umfassende und gleichberechtigte Rolle spielt.

1.9   Zur Förderung und Stärkung der Verfahren zur Abschätzung der sozialen Auswirkungen auf nationaler und subnationaler Ebene sollte der Ausschuss für Sozialschutz der Vertiefung der bestehenden Arbeiten auf diesem Gebiet Vorrang einräumen und sicherstellen, dass gezieltere Maßnahmen für neu entstehende schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen sowie für die Gleichbehandlung von Frauen und Männern getroffen werden. Er sollte ferner ein besseres Verständnis dieses Instruments fördern, Mitgliedstaaten dazu auffordern, es in ihre Politikgestaltungsprozesse von einem frühen Zeitpunkt an einzubauen sowie die Entwicklung und Verbreitung von Informationen über die Instrumente, Methoden und Datenquellen für seine effiziente Anwendung unterstützen. Zugleich sollte er den Einsatz von Verfahren zur Abschätzung sozialer Folgen durch die Mitgliedstaaten bei der Aufstellung der nationalen Reformprogramme (NRP) beobachten und regelmäßig Bericht erstatten.

1.10   Der Ausschuss für Sozialschutz hat die Erstellung eines Jahresberichts beschlossen, in dem die Fortschritte beim EU-Kernziel „soziale Eingliederung und Verminderung der Armut“ bewertet, die Umsetzung der sozialen Aspekte in den integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung und die soziale Situation und die Entwicklung von Maßnahmen überwacht werden sollen, die im Kontext der Koordinierung und Zusammenarbeit auf EU-Ebene im sozialen Bereich ergriffen wurden (2). Dieser Bericht könnte zu einer Jahresbewertung der sozialen Dimension der Europa-2020-Strategie weiterentwickelt werden und in den Jahreswachstumsbericht der Kommission und die politischen Leitlinien der EU sowie in mögliche soziale Empfehlungen an die Mitgliedstaaten bezüglich ihrer nationalen Reformprogramme einfließen. In Übereinstimmung mit dem Ausschuss für Sozialschutz soll dessen Bewertung auf der Grundlage der strategischen Jahresberichte der Mitgliedstaaten über die Fortschritte bei der Erreichung der gemeinsamen sozialen EU-Ziele sowie der aktualisierten Pläne, die die jeweilige nationale politische Agenda berücksichtigen, erarbeitet werden.

1.11   Der EWSA wird jährlich eine Stellungnahme über die Anwendung der HSK, der ein bedeutender und eigener Hauptteil in der Stellungnahme gewidmet werden soll, und über die Anwendung der weiteren sozialen Horizontalklauseln, der Grundrechtecharta und der sonstigen sozialpolitischen Bestimmungen des Vertrags von Lissabon sowie des Sekundärrechts und der sonstigen rechtlichen und politischen Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt der Einhaltung und Förderung der Ziele und Vorgaben erarbeiten und überprüfen und bewerten, inwiefern diese einen Beitrag zur sozialpolitischen und grundrechtlichen Entwicklung der EU leisten mit Empfehlungen, wie durch konkrete Maßnahmen die Ziele und Vorgaben besser erreicht werden könnten. In einer Anhörung dazu werden auch andere, große, repräsentative Organisationen der Zivilgesellschaft aus dem Sozialbereich ihre spezifischen Stellungnahmen und Berichte einbringen können. Diese jährliche Stellungnahme des EWSA wird den RepräsentantInnen der EU-Institutionen zur Kenntnis gebracht und erläutert.

1.12   Der EWSA sowie die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbare Einrichtungen der Mitgliedstaaten sollten durch die Unterstützung von europäischen Bürgerinitiativen und Bürgerprojekten im Rahmen des zivilen Dialogs in sozialpolitischen Fragen ihre Rolle als Interessenträger bei der Anwendung der HSK und sozialer Folgenabschätzungsverfahren einbringen. Auch dem Lenkungsausschuss Europa 2020 des EWSA sollte eine zentrale Rolle dabei zukommen, den Inhalt und den Prozess der Nationalen Reformprogramme zu beobachten und hierüber entsprechend Bericht zu erstatten.

1.13   Zwischen dem EWSA und der Europäischen Kommission sollte eine interinstitutionelle Vereinbarung abgeschlossen werden, dass die Kommission alle Folgenabschätzungsverfahren zu den Kommissionsvorlagen dem EWSA übermittelt, damit dieser sie in seinen Stellungnahmen und Berichten mitberücksichtigen kann.

2.   Hintergrundinformationen zur Entwicklung einer stärker sozialen EU

2.1   Der Vertrag von Lissabon und die Europa-2020-Strategie bieten beträchtliche Möglichkeiten, einem ausgewogeneren Verhältnis zwischen Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialzielen bei gleichzeitiger wechselseitiger Stärkung und somit einer stärker sozialen EU näherzukommen. Wie aus der bereits erwähnten wissenschaftlichen Studie im Auftrag des belgischen Ratsvorsitzes hervorgeht, zeichnen sich fünf Möglichkeiten ab (3).

2.1.1   Durch die im Vertrag von Lissabon enthaltene HSK wurde eine Rechtsgrundlage geschaffen, um den sozialen Auswirkungen der Maßnahmen in den einzelnen Politikbereichen Rechnung zu tragen. Damit wurde auch ein Instrument für die umfassende Berücksichtigung sozialer Ziele in allen relevanten Politikbereichen (auch außerhalb der Sozialpolitik und der sozialen Maßnahmen) sowie für die Überwachung und Berichterstattung über die Auswirkungen der Maßnahmen geschaffen.

2.1.2   Der Vertrag und die Europa-2020-Strategie (mit ihren EU-Kernzielen und EU-Leitinitiativen) haben die potenzielle Sichtbarkeit und Bedeutung sozialer Belange vergrößert, was insbesondere, aber nicht nur, für die soziale Integration und Verminderung der Armut gilt.

2.1.3   Die Europa-2020-Strategie ermöglicht einen viel stärker integrierten und koordinierten Ansatz für die Steuerung wirtschaftlicher, sozialer, beschäftigungspolitischer und auch ökologischer Belange. Dadurch könnte sichergestellt werden, dass Maßnahmen in diesen Bereichen einander tatsächlich verstärken.

2.1.4   Aus dem neuen Vertrag ergeben sich größere Möglichkeiten für eine bessere Erhaltung, Stärkung und Modernisierung der einzelstaatlichen sozialen Schutzsysteme und für den besseren Schutz von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse insbesondere von Sozialdienstleistungen, was zur Wiederherstellung einer Ausgewogenheit zwischen der EU-Ebene und den einzelstaatlichen Ebenen beitragen kann.

2.1.5   Der Vertrag liefert die Legitimation für EU-Maßnahmen in einem Spektrum von sozialen Bereichen, das größer ist als bisher, so etwa im Hinblick auf ein hohes Niveau von Bildung und Weiterbildung, den Schutz der menschlichen Gesundheit und die Verringerung der Ungleichheiten. Dies könnte zu einer stärkeren Koordinierung des ganzen breiten und ungeordneten Spektrums sozialpolitischer Maßnahmen in einem weiteren Sinne als bisher führen.

2.2   Der Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, wies darauf hin, dass „in der Europa-2020-Strategie die soziale Integration als Ziel definiert und drei Dimensionen von Armut und Ausgrenzung aufgezeigt werden. Danach kommt es aber auch darauf an, dass die Mitgliedstaaten und die EU in ihrer Gesamtheit die Leistungsüberwachung bei der gesamten Palette gemeinsam vereinbarter sozialer Indikatoren, die der Koordinierung und Zusammenarbeit im sozialen Bereich auf EU-Ebene zugrunde liegen, fortsetzen“ (4).

2.3   In Einklang mit dem neuen EU-Ziel des „territorialen Zusammenhalts“ (das mit dem Vertrag von Lissabon eingeführt wurde) und mit den Vorgaben der jüngsten Haushaltsreform, die Mittel für die Kohäsionspolitik auf alle Ziele der Europa-2020-Strategie zu verwenden und die Kohäsionspolitik entsprechend zu stärken, sollte bei der nächsten Finanziellen Vorausschau (für den Zeitraum nach 2013) letztendlich im Mittelpunkt stehen, dass die sozialen Ziele der EU bei ihren territorialpolitischen Maßnahmen und Programmen in vollem Umfang berücksichtigt werden. Hierzu sollten die sozialen Vorgaben der EU und die Kohäsionspolitik verknüpft werden, d.h. das Potenzial des neuen Ziels des territorialen Zusammenhalts im Rahmen der Verordnungen für den nächsten Programmplanungszeitraum genutzt werden, die Anwendung der Grundsätze des Diskriminierungsverbots und Zugänglichkeit bei den Ausgaben im Rahmen der Strukturfonds gewährleistet werden, die Kohäsionspolitik als „präventive Komponente“ (5) zur Förderung struktureller und institutioneller Reformen im Hinblick auf eine Stärkung der sozialen Ziele der EU eingesetzt und der territoriale Ansatz als wichtiges Element in die Koordinierung und Kooperation der EU im Sozialbereich eingeführt werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass ein wichtiger Aspekt dieser „Territorialisierung“ in der aktiven Mitwirkung lokaler und regionaler Akteure besteht.

2.4   Es kommt darauf an, das EU-Ziel der sozialen Integration, das auch in der Europa-2020-Strategie festgelegt wurde, in sinnvolle nationale (und möglichst auch subnationale) Zielvorgaben zu überführen. Die nationalen Ziele müssen eindeutig zum Erreichen des übergeordneten EU-Ziels beitragen. Die Zielvorgaben sollten auf konkreten Fakten beruhen. Sie sollten den Mechanismen, die zu Armut und sozialer Ausgrenzung führen, angemessen Rechnung tragen und die allgemeinen politischen Ziele zur Verbesserung der sozialen Integration berücksichtigen. Sie müssen dazu dienen, tatsächliche politische Resultate zu messen und zu vermeiden, dass bei der Erreichung der Zielvorgaben politische Ziele verdreht, vergessen oder ignoriert werden. Zur Gewährleistung einer dauerhaften öffentlichen und politischen Unterstützung sollten Zielsetzungen auf einem gründlichen, präzisen und transparenten Verfahren beruhen. Auch die Standpunkte der betroffenen Kreise sind zu berücksichtigen. Die Fortschritte bei der Verfolgung der EU-Ziele und der (sub-)nationalen Ziele müssen genau verfolgt und entsprechende Berichte erstattet werden.

3.   Hintergrundinformationen zur Anwendung der Horizontalen Sozialklausel

3.1   Der Vertrag von Lissabon normiert wesentliche Neuerungen zur Ausgestaltung der sozialen Dimension der EU. Artikel 9 AEUV mit der Horizontalen Sozialklausel (HSK) besagt, dass die Union bei „der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, mit der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung trägt.“

3.2   Diese HSK steht im Einklang mit den anderen Horizontalklauseln des Vertrags: Gleichstellung von Frauen und Männern, Antidiskriminierung, Umweltschutz, Verbraucherschutz, Tierschutz und KMU (Artikel 8, 10, 11, 12, 13 und 153 AEUV). Die EU und alle ihre Institutionen, dazu zählt auch der EWSA als beratende Einrichtung, sowie die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, diese Horizontalklauseln bei allen relevanten Vorlagen, Politiken und Maßnahmen anzuwenden (6). Dies gilt ebenso für alle relevanten Dokumente und gerichtlichen Schriftstücke.

3.3   Ziel der HSK ist es, dass die EU bei all ihren Handlungen durch Berücksichtigung der sechs Teilziele des Artikels 9 AEUV der sozialen Dimension im vollen Umfang Rechnung trägt, um die grundlegenden Werte und Ziele der EU im Rahmen ihrer Zuständigkeiten (Artikel 2 und 3 EUV sowie Artikel 7 AEUV) zu erreichen.

3.4   Das wesentliche Ziel der Bemühungen der Mitgliedstaaten besteht in der „stetigen Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker“ (Präambel zum AEUV, 3. Absatz). Die Union und die Mitgliedstaaten verfolgen […] „folgende Ziele: die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen“ (Artikel 151 AEUV).

3.5   Die Beschlussfassungsorgane sollten die Anwendung der HSK weder in ihrem Anwendungsbereich (zum Beispiel zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung) noch in der Methode (Methode der offenen Koordinierung im Bereich Sozialschutz und soziale Eingliederung und Folgenabschätzungsverfahren) oder auf das Tätigwerden des Ausschusses für Sozialschutz beschränken, sondern müssen diese im Gegenteil im weiten Sinne auf sämtliche Politikbereiche der EU – insbesondere auch auf die Wirtschafts- und Außenpolitik – anwenden. Die HSK muss in legislative Texte münden, die die Verwirklichung der neuen Ziele des Vertrags sowohl durch die Europäische Union als auch die Mitgliedstaaten sicherstellt.

3.6   Wie in dem Gesamtbericht über die Tätigkeit der Europäischen Union 2010 (S. 121) hervorgehoben wird, ist der EWSA durch den Vertrag von Lissabon in stärkerem Maße dazu angehalten, einen Beitrag zur sozialen Dimension der EU zu leisten.

3.7   Der EWSA hat daher die rechtsverbindliche HSK wie auch alle anderen rechtsverbindlichen Horizontalklauseln (Artikel 8 bis 12 AEUV) in all seinen Stellungnahmen und sonstigen Arbeiten angemessen zu berücksichtigen und stärkt damit die soziale Dimension der EU. Der EWSA wird damit auch den aktiven und präventiven Ansatz der HSK unterstützen.

3.8   Der EWSA hat bereits eine umfassende Stellungnahme zur HSK und zur OMK im sozialen Bereich (7) und der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Sozialleistungen (8) verabschiedet. Darin hat er darauf hingewiesen, dass eine effektive und lebendige, praktische Umsetzung dieser HSK in der Formulierung und Umsetzung der EU-Politik wesentlich zur Stärkung des EU-Zusammenhalts und Koordinierung im Sozialbereich beitragen kann.

3.9   Auf Initiative des belgischen EU-Ratsvorsitzes wurden im zweiten Halbjahr 2010 auf mehreren Konferenzen die Bedeutung der HSK und der sozialen Folgenabschätzungsverfahren (FAV) für die Weiterentwicklung der sozialen Dimension in der EU klar aufgezeigt (9). Die HSK des neuen Vertrags von Lissabon verlangt ein größeres Augenmerk für die soziale Dimension der Politiken der Europäischen Union. Die Berücksichtigung der sozialen Folgen sämtlicher europäischer Politiken erfordert einen strukturierten Dialog unter allen europäischen Institutionen und innerhalb derselben. Zu diesem Zweck sind die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, der Rat der EU sowie der Europäische Rat und der Europäische Gerichtshof die Verpflichtung zum Dialog zwischen den Institutionen und innerhalb derselben eingegangen (10).

3.10   Instrumente zur Verbesserung der sozialpolitischen Koordinierung und Kooperation sind neben der HSK und den Folgenabschätzungsverfahren (FAV) die OMK im sozialen Bereich, die EU-Kohäsionspolitik und die EU-Zielsetzungen in den Bereichen Sozialschutz und soziale Integration (11).

3.11   Ein wichtiges Instrument zur Anwendung und Umsetzung der HSK sind die FAV. Die Europäische Kommission unterstützt dies mit einer eigenen Leitlinie zum Folgenabschätzungsverfahren im Rahmen der Initiativen Verantwortungsvolles Regierungshandeln (12) und Bessere und intelligentere Rechtsetzung (13).

3.11.1   Außerdem gibt es zwischen der Europäischen Kommission, dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament eine interinstitutionelle Vereinbarung zur Anwendung der FAV (14).

3.11.2   Auch die Europäische Kommission hat eine eigene Richtlinie zur Bewertung der sozialen Auswirkungen im Rahmen der Kommission und des Folgenabschätzungsverfahrens ausgearbeitet (15). Sie hat für 2011 elf Folgenabschätzungsverfahren auf den Gebieten Beschäftigung und Soziales geplant (16).

3.11.3   Der Europäische Rechnungshof hat die FAV von 2005 bis 2008 umfassend evaluiert und positiv bewertet (17).

3.11.4   Der Ausschuss der Regionen kooperiert bereits mit der Europäischen Kommission bei bestimmten Folgenabschätzungsverfahren (18).

3.11.5   Der Rat hat die Europäische Kommission aufgefordert, den Artikel 9 AEUV und die sozialen FAV (19) anzuwenden, und die Binnenmarktakte enthält den Vorschlag 29 – Anwendung der sozialen FAV.

3.11.6   Die EU-Charta der Grundrechte wird seit 2005 systematisch in den Rechtsetzungsvorschlägen der Europäischen Kommission berücksichtigt, und die Kommission hat dazu eine Umsetzungsstrategie 2010 vorgelegt (20), zu der der EWSA bereits eine entsprechende Stellungnahme erarbeitet hat (21).

3.11.7   Der EWSA hat bereits positive Stellungnahmen zur Einführung, Erarbeitung und Anwendung von Folgenabschätzungsverfahren und zu Nachhaltigkeitsprüfungen und zur EU-Handelspolitik verabschiedet (22).

3.11.8   Folgenabschätzungsverfahren sind politische Instrumente mit großem Potenzial, die aber in der Praxis schwer umzusetzen sind. Damit ihr Potenzial voll genutzt werden kann und um zu gewährleisten, dass sie nicht zur Legitimierung bereits feststehender politischer Vorlagen genutzt werden, muss ein Umdenken in der Politikgestaltung einsetzen, und die dafür Verantwortlichen brauchen ausreichend Zeit, Wissen, Fähigkeiten und Unterstützung. Die Einbeziehung betroffener Kreise in den Prozess muss gefördert werden. Die Umsetzung von Folgenabschätzungsverfahren sollte kosteneffizient und den entsprechenden Zielen angemessen sein.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Die Horizontale Sozialklausel (Artikel 9 AEUV) ist eine der wichtigsten Innovationen des Vertrags von Lissabon im Sozialbereich. Ihr Potenzial sollte in vollem Umfang genutzt werden. Der Vertrag enthält ein klares Mandat dazu, die Ziele in allen relevanten Politikbereichen, Initiativen und Maßnahmen der EU zu berücksichtigen. Die Entwicklung einer sozialen EU sollte durch diesen Artikel zu einer übergreifenden Aufgabe der Union werden, die alle Politikbereiche durchdringt. Die Anwendung der HSK ist daher auch in die europäischen Forschungsprogramme einzubeziehen.

4.2   Die HSK ist heute umso wichtiger und dringender, als durch die Auswirkungen der Finanzmarkt-, Wirtschafts- und Haushaltskrisen sowohl für die EU insgesamt als auch für die einzelnen Mitgliedstaaten die umfassende Berücksichtigung der sozialen Dimension der EU an Bedeutung zunimmt. Das Ungleichgewicht zwischen der Entwicklung der Wirtschaftsintegration im Binnenmarkt und der Weiterentwicklung der sozialen Dimension der EU muss überwunden werden. Die Implementierung dieses neuen Instruments soll dazu beitragen, bestehendes Unbehagen und in manchen Mitgliedstaaten zunehmend verbreitete Skepsis hinsichtlich des „Mehrwerts“ der Politik der EU, insbesondere bezüglich des wirtschaftlichen, beschäftigungspolitischen und sozialen Fortschritts abzubauen, wobei die Mitgliedstaaten mehr eigene Verantwortung übernehmen müssen.

4.3   Der EWSA wird bei jeder Stellungnahme für die Europäische Kommission oder andere EU-Organe jedes Mal prüfen, ob ein angemessenes soziales Folgenabschätzungsverfahren durchgeführt wurde. Gegebenenfalls wird der EWSA die zuständigen EU-Organe dazu auffordern, einen etwaigen Mangel zu beheben.

4.4   Das Europäische Parlament hat bei der Anwendung der HSK eine bedeutende Rolle, auch durch die laufende Bewertung der von der Europäischen Kommission und anderen EU-Institutionen eingesetzten sozialen Folgenabschätzungsverfahren (23).

4.5   Auch die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die HSK wie auch alle anderen Horizontalklauseln bei allen relevanten Vorschlägen, Politikbereichen und Maßnahmen sowie in allen relevanten Dokumenten und gerichtlichen Schriftstücken anzuwenden. Zu diesem Zweck sollten sie soziale Folgenabschätzungsverfahren durchführen.

4.6   Eine wirkliche Einbeziehung der Zivilgesellschaft in sämtliche Phasen und auf allen Ebenen ist zur Gewährleistung einer wirksamen Anwendung der HSK und der OMK im sozialen Bereich von grundlegender Bedeutung (24). Der EWSA als beratende Einrichtung setzt sich aus Vertretern der Verbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sowie anderen Vertretern der Zivilgesellschaft aus allen 27 Mitgliedstaaten zusammen. Damit vereint er wesentliche Interessenträger in der EU und ist dadurch prädestiniert, im Rahmen der FAV einen wesentlichen Beitrag zur Förderung und Optimierung derselben zu leisten.

4.7   Der EWSA kann durch verstärkten Informationsaustausch und verstärkte Kooperation mit den Wirtschafts- und Sozialräten (WSR) und vergleichbaren Einrichtungen der Mitgliedstaaten sowie mit den Sozialpartnern, den Vertretern verschiedener Interessen und anderen relevanten Organisationen der Zivilgesellschaft im Sozialbereich auf allen Ebenen (EU-Ebene, nationale und regionale Ebene) zur Entwicklung und Vertiefung der sozialpolitischen Ziele und des sozialen und zivilen Dialogs in den Mitgliedstaaten beitragen. Auch die Arbeit des Lenkungsausschusses Europa 2020 des EWSA, der den Inhalt und den Prozess der Nationalen Reformprogramme regelmäßig überwacht und entsprechend Bericht erstattet, sollte einen Beitrag zu diesen Bemühungen leisten.

4.8   Auch der Europäischen Sozialplattform (25) und ihren Mitgliedern, zu denen mehrere sektorspezifische soziale Organisationen zählen (Frauenorganisationen, Organisationen für ältere Menschen, für Menschen mit Behinderungen, sozial Schwache, Obdachlose usw.) wie auch anderen repräsentativen, europäischen und nationalen zivilgesellschaftlichen Organisationen im Sozialbereich kommt eine wichtige Rolle dabei zu, eine zufriedenstellende Anwendung der HSK auf EU-Ebene sowie auf (sub-)nationaler Ebene einzufordern.

4.9   Die Leitinitiative der Europa-2020-Strategie „Europäische Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ (26), ebenso wie die Arbeit des EWSA zu dieser (27) und anderen Leitinitiativen der Europa-2020-Strategie, sollte einen Beitrag dazu leisten, eine ausgewogene Anwendung der HSK auf europäischer, nationaler und subnationaler Ebene zu gewährleisten.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Die sozialpolitischen Bestimmungen des Vertrags von Lissabon (insbesondere Artikel 145 bis 166 und 168 AEUV) und die EU-Grundrechtecharta (GRC insbesondere Kapitel IV „Solidarität“) konkretisieren die Horizontale Sozialklausel und sind voll zu berücksichtigen.

5.2   Der EWSA wird jährlich eine Stellungnahme über die Anwendung der HSK und der anderen sozialen Horizontalklauseln (Artikel 8, 9, 10 AEUV), der Grundrechtecharta (unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Grundrechte) und der sonstigen sozialpolitischen Bestimmungen des Vertrags von Lissabon (insbesondere Artikel 145 bis 166 und 168 AEUV) sowie des Sekundärrechts und der sonstigen rechtlichen und politischen Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt der Einhaltung und Förderung der sozialen Ziele und Vorgaben erarbeiten. Dabei wird er überprüfen und bewerten, inwiefern diese einen Beitrag zur sozialpolitischen und grundrechtlichen Entwicklung der EU leisten. Die Stellungnahme enthält ggf. auch Empfehlungen dazu, wie durch konkrete Maßnahmen die sozialen Ziele und Vorgaben besser erreicht werden könnten, sowohl auf europäischer als auch auf einzelstaatlicher Ebene. Der jährliche Bericht des Ausschusses für Sozialschutz zur sozialen Dimension der Europa-2020-Strategie (28) wird dabei seine Berücksichtigung finden.

5.2.1   In einer dazu jeweils vor der Stellungnahme zu veranstaltenden Anhörung des EWSA werden neben den Sozialpartnern und den VertreterInnen verschiedener Interessen auch andere, große, repräsentative Organisationen der Zivilgesellschaft aus dem Sozialbereich ihre spezifischen Stellungnahmen und Berichte einbringen können.

5.2.2   Diese jährliche Stellungnahme des EWSA wird den RepräsentantInnen der EU-Institutionen insbesondere dem Europäischen Rat, dem Rat, dem Europäischen Parlament, der Kommission, dem EUGH und der EZB zur Kenntnis gebracht und erläutert.

5.3   Der EWSA und die WSR und die vergleichbaren Einrichtungen der Mitgliedstaaten sollten durch die Unterstützung von europäischen Bürgerinitiativen und Bürgerprojekten im Rahmen des zivilen Dialogs in sozialpolitischen Fragen ihre Rolle als Interessenträger bei der Anwendung der HSK und sozialer Folgenabschätzungsverfahren einbringen.

5.4   Zwischen dem EWSA und der Europäischen Kommission sollte eine Vereinbarung abgeschlossen werden, dass die Kommission alle Folgenabschätzungsverfahren zu den Kommissionsvorlagen dem EWSA übermittelt, damit dieser sie in seinen Stellungnahmen und Berichten mitberücksichtigen kann.

5.5   Der EWSA und alle seine Fachgruppen werden im Hinblick auf die Stärkung der sozialen Dimension der EU die rechtsverbindliche HSK wie auch alle anderen rechtsverbindlichen sozialen Horizontalklauseln des Vertrags (Artikel 8 bis 12 AEUV) in all ihren Stellungnahmen und sonstigen Arbeiten angemessen berücksichtigen (z.B. Sozialklauseln in Freihandelsabkommen (29), soziale Dimension des Binnenmarktes, Nachhaltigkeitsprüfungen und EU-Handelspolitik (30)).

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  „Europe 2020 Towards a More social EU?“ („Europa 2020 - auf dem Weg zu einer sozialeren EU?“, Marlier, Natali (Herausgeber) und Rudi Van Dam, Brüssel: Peter Lang, 2010.

(2)  Stellungnahme des Ausschusses für Sozialschutz zur sozialen Dimension der Europa-2020-Strategie, SPC/2010/10/7 final.

(3)  Siehe Fußnote 1.

(4)  Vorwort zu „Income and living conditions in Europe“ (Einkommen und Lebensbedingungen in Europa), Atkinson und Marlier, Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (OPOCE), 2010.

(5)  Europäische Kommission (2010), „Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung für Stabilität, Wachstum und Beschäftigung - Instrumente für bessere wirtschaftspolitische Steuerung der EU“, KOM(2010) 367 endg.

(6)  Schorkopf, Frank: Art 9 AEUV; in: „Das Recht der Europäischen Union, Kommentar“, Nettesheim, Martin (Hrsg.) 2010.

(7)  EWSA-Sondierungsstellungnahme zum Thema „Die offene Koordinierungsmethode und die Sozialklausel vor dem Hintergrund der Europa-2020-Strategie“, (ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 23).

(8)  EWSA-Sondierungsstellungnahme zum Thema „Entwicklungen im Bereich der Sozialleistungen“, (ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 28).

(9)  Dies gilt insbesondere für die Konferenz „EU-Koordinierung im Sozialbereich vor dem Hintergrund der Europa-2020-Strategie: Rückblick und Wege in die Zukunft“, 14./15. September 2010, La Hulpe, Belgien.

(10)  „The horizontal social clause and social mainstreaming in the EU“ (Die Sozialklausel und Soziales als Querschnittsaufgabe), drittes Forum über die Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse, 26./27. Oktober 2010.

(11)  Stellungnahme des Ausschusses für Sozialschutz, unterstützt durch den Rat Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz im Juni 2011.

(12)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Effiziente Governance der erneuerten Lissabon-Strategie“, (ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 13).

(13)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Intelligente Regulierung“, Berichterstatter: Jorge PEGADO LIZ (ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 87).

(14)  Inter-Institutional Common Approach to Impact Assessment (Gemeinsames Interinstitutionelles Konzept für die Folgenabschätzung), 14901/05 JUR.

(15)  Guidance for assessing Social Impacts within the Commission Impact Assessment system (Leitlinien zur Abschätzung sozialer Folgen im Rahmen des Folgenabschätzungssystems der Kommission), 2009.

(16)  http://ec.europa.eu/governance/impact/planned_ia/roadmaps_2011_en.htm#empl 20.3.2011.

(17)  Sonderbericht zum Thema „Impact Assessments in the EU institutions: do they support decision making?“ (Folgenabschätzungen in den EU-Institutionen: eine Hilfe bei der Entscheidungsfindung? Nr. 3/2010 http://ec.europa.eu/governance/impact/docs/coa_report_3_2010_de.pdf

(18)  http://ec.europa.eu/governance/impact/ia_in_other/ia_in_other_en.htm 20.3.2011.

(19)  Rat (Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz) vom 6.12.2010, Pressemitteilung http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/lsa/118244.pdf

(20)  Mitteilung der Kommission, KOM(2010) 573 endg.

(21)  Stellungnahme des EWSA zu der Mitteilung der Kommission - Strategie zur wirksamen Umsetzung der Charta der Grundrechte durch die Europäische Union, Berichterstatterin: ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 74.

(22)  EWSA-Stellungnahmen zu den Themen „Qualitätsstandards / soziale Folgeabschätzungen“ (ABl. C 175 vom 27.7.2007, S. 21), „Leitfaden für die Folgenabschätzung“ (ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 28) und Fußnote 30.

(23)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8.6.2011 (2011/2016 (IND).

(24)  Siehe Fußnote 8.

(25)  Die Plattform der europäischen NGO des sozialen Sektors (Sozialplattform) ist ein Zusammenschluss repräsentativer europäischer Verbände und Netwerke von Nichtregierungsorganisationen, die im Sozialbereich tätig sind http://www.socialplatform.org/

(26)  Europäische Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=961&langId=de

(27)  EWSA-Stellungnahme „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Europäische Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung: Ein europäischer Rahmen für den sozialen und territorialen Zusammenhalt“, Berichterstatterin: Frau O'NEILL http://www.eesc.europa.eu/?i=portal.en.soc-opinions.14953

(28)  Stellungnahme des Ausschusses für Sozialschutz zur sozialen Dimension der Europa-2020-Strategie, SPC/2010/10/7 final.

(29)  Sozialnormen in Nachhaltigkeitskapiteln bilateraler Freihandelsabkommen, Lukas, Steinkellner, Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte, Wien 2010.

(30)  EWSA-Stellungnahme zu dem Thema „Nachhaltigkeitsprüfungen und EU-Handelspolitik“, Berichterstatterin: Frau PICHENOT, (ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 14). http://www.eesc.europa.eu/?i=portal.en.rex-opinions.18107; http://eur-lex.europa.eu/JOHtml.do?year=2011&serie=C&textfield2=218&Submit=Rechercher&ihmlang=de


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/35


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Obdachlosigkeit“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 24/07

Berichterstatter: Eugen LUCAN

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2011, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Obdachlosigkeit“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 28. September 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 98 Ja-Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA empfiehlt Folgendes:

1.1.1

Die Europäische Union sollte deutlich mehr Mittel aus den Strukturfonds (namentlich ESF und EFRE) für die Suche nach Lösungen des Obdachlosigkeitsproblems bereitstellen, insbesondere für die Schaffung von Dauerunterkünften.

1.1.2

Die EU und die Mitgliedstaaten sollten ihre Politik zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit auf das Prinzip der uneingeschränkten Achtung der Menschenrechte gründen, zu denen das Recht auf angemessenen und erschwinglichen Wohnraum zählt. Der EWSA ist der Ansicht, dass dieses Phänomen nicht von ungefähr kommt, sondern Ergebnis politischer und wirtschaftlicher Weichenstellungen ist. Die Frage der Umverteilung des Wohlstands muss im Rahmen der Priorität „integratives Wachstum“ der Europa-2020-Strategie thematisiert werden, und zwar - angesichts der aktuellen Krise - unverzüglich.

1.1.3

Das europäische Rechtsinstrumentarium (Verträge, Chartas, internationale Texte) für eine ehrgeizige Politik des sozialen Wohnungsbaus gibt es bereits. Außerdem könnte die EU Maßnahmen koordinieren, um die Mitgliedstaaten zur Ratifizierung der revidierten Europäischen Sozialcharta zu bewegen (1). Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte sollten einen Jahresbericht anfertigen, in dem bewertet wird, wie Artikel 34 der Grundrechtecharta hinsichtlich des Rechts auf Unterstützung für die Wohnung in den Mitgliedstaaten umgesetzt wird.

1.1.4

Eurostat sollte die Nutzung gemeinsamer Definitionen, Indizes und Indikatoren anregen, um die Komplexität und Spezifität des Phänomens auf europäischer Ebene zu erfassen und die Statistiken zu harmonisieren. Der EWSA empfiehlt die Übernahme der von FEANTSA entwickelten ETHOS-Typologie als Grundlage für die Definition der Obdachlosigkeit auf europäischer Ebene.

1.1.5

Die Europäische Kommission sollte eine ehrgeizige Strategie zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit entwickeln und die Mitgliedstaaten dabei unterstützen, wirksame nationale Strategien zu entwickeln - und zwar entsprechend den Leitlinien, die im gemeinsamen Bericht über Sozialschutz und soziale Eingliederung 2010 vorgeschlagen wurden, und unter Berücksichtigung der Empfehlungen der Jury der Europäischen Konsenskonferenz zur Obdachlosigkeit. Eine umfassende Wohnungspolitik in Europa würde zu den großen Vorhaben gehören, die für mehr Beschäftigung und Wohlergehen sorgen - zwei Ziele, die in den europäischen Verträgen festgehalten sind.

1.1.6

Angesichts der Tatsache, dass die Europa-2020-Strategie auf ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum abzielt, schlägt der EWSA vor, dass die EU regelmäßige Überprüfungen vornimmt und Maßnahmen erarbeitet, die dem Verhältnis zwischen den Wohnungspreisen auf dem Immobilienmarkt und der Möglichkeit der Unionsbürger, eine Wohnung entsprechend ihren Einkünften zu kaufen oder zu mieten, Rechnung tragen.

1.1.7

Die EU sollte den Mitgliedstaaten helfen, folgende Aspekte in ihrer jeweiligen Integrationspolitik zu berücksichtigen: umfassende Reduzierung der Todesfälle infolge des „Lebens auf der Straße“, Menschenwürde, mehrfache Ursachen der Obdachlosigkeit, Prävention, Übertragung von Verantwortung auf die Hilfeempfänger und ihre Beteiligung mittels eines Sozial-/ Mietvertrags, europäische Normen für das Kosten-Nutzen-Verhältnis im Wohnungs- und Sozialwesen, Schaffung von Dauerunterkünften, geförderten Wohnungen und Präventionszentren in jeder Gemeinde (2), Konzept zur Ermöglichung eines raschen Zugangs zu einer dauerhaften Unterkunft.

1.1.8

Die Kommission sollte eine europäische Agentur zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit einrichten.

1.1.9

Die Mitgliedstaaten sollten wirksame Strategien gegen die Krise umsetzen, die auf folgende Aspekte ausgerichtet sind: optimales Kosten-Nutzen-Verhältnis, Anhörung und Förderung öffentlich-privater Partnerschaften und Erweiterung des Gebäudebestands, wenn die Immobilienpreise aufgrund der Krise signifikant fallen.

2.   Hintergrund und allgemeine Bemerkungen zur Obdachlosigkeit in der Europäischen Union

2.1

Die Obdachlosigkeit bildete einen vorrangigen Handlungsbereich des Europäischen Jahres 2010 (3).

2.2

Obdachlosigkeit wird erstmalig 2005 im Gemeinsamen Bericht über Sozialschutz und soziale Eingliederung als vorrangiges Thema erwähnt. 2007 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Untersuchung über Obdachlosigkeit auf Unionsebene (4).

2.3

Die Lösung dieses Problems ist zu einer Priorität geworden, zumal es sich dabei um einen wesentlichen Aspekt der EU-Strategie für Sozialschutz und soziale Eingliederung handelt.

2.4

Mittels der EU-Strategie für Sozialschutz und soziale Eingliederung (auch bekannt als „offene Methode der Koordinierung im Sozialbereich“) koordiniert und fördert die EU einzelstaatliche Maßnahmen und die Ausgestaltung einer Politik zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung durch einen Mechanismus, der Berichte, gemeinsame Indikatoren und politische Schlussfolgerungen umfasst, die die Kommission in Absprache mit dem EU-Ministerrat verabschiedet.

2.5

Das Europäische Parlament hat mehrere wichtige Initiativen zugunsten Obdachloser ergriffen. Besonders erwähnenswert ist hier eine 2008 angenommene schriftliche Erklärung bezüglich der Lösung des Problems der Obdachlosigkeit (5). In dieser Erklärung wird der Rat darum ersucht, EU-weite Anstrengungen zur Lösung dieses Problems bis 2015 zu billigen. Am 6. September 2010 reichten fünf Europaabgeordnete erneut eine fraktionsübergreifende schriftliche Erklärung zur Notwendigkeit einer europäischen Strategie zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit ein. Dieses Dokument wurde im Dezember 2010 verabschiedet. Nach Auffassung des EWSA sollten europäische Fonds (ESF und EFRE) eingesetzt werden, um die vorgenannten hochgesteckten Ziele zu verwirklichen.

2.6

Ende 2009 legte das EU-Netz unabhängiger Experten für soziale Eingliederung einen Bericht (6) über Obdachlosigkeit und Ausgrenzung bei der Wohnungssuche in den EU-Mitgliedstaaten vor. In diesem Bericht wurde gefordert, die Frage der Obdachlosigkeit als Bestandteil der offenen Methode der Koordinierung im Sozialbereich zu verankern und nach 2010 zu vertiefen und weiterzuverfolgen.

2.7

Am 17. Juni 2010 verabschiedete der Europäische Rat die neue Europa-2020-Strategie. Die EU hat sich das Ziel gesetzt, bis 2020 das Risiko der Armut und der sozialen Ausgrenzung für mindestens 20 Millionen Menschen zu beseitigen. Der 2020-Vorschlag der Kommission umfasst eine europäische Plattform für Armutsbekämpfung, um „Maßnahmen zu konzipieren und durchzuführen, die den besonderen Umständen bestimmter, besonders gefährdeter gesellschaftlicher Gruppen (wie […] Obdachlose) gerecht werden“ (7).

2.8

Im Oktober 2010 verabschiedete der Ausschuss der Regionen eine Stellungnahme zum Thema „Bekämpfung der Obdachlosigkeit“, in der er feststellt, dass die EU weit mehr tun muss, um dieses Übels Herr zu werden. Der AdR schlägt vor, die ETHOS-Typologie auf europäischer Ebene zu fördern, eine europäische Agentur zur Koordinierung und Unterstützung des Kampfs gegen Obdachlosigkeit einzurichten, verstärkt auf Prävention zu setzen und die Regionen in diese Maßnahmen einzubinden.

2.9

Im gemeinsamen Bericht der Kommission und des Rates von 2010 über Sozialschutz und soziale Eingliederung (8) werden die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, Strategien zu entwickeln, die auf folgende Punkte abzielen: Prävention, Suche nach permanenten Wohnlösungen (subventionierte und dauerhafte Unterkünfte), ein „Housing First“-Konzept in Verbindung mit zusätzlichen Sozialdiensten sowie bessere Verwaltungsstrukturen.

2.10

Die wichtigsten Empfehlungen zum Thema Obdachlosigkeit im Jahr 2010 finden sich in den Schlussfolgerungen der Europäischen Konsenskonferenz (9), die auf Initiative der Europäischen Kommission und mit Unterstützung des belgischen EU-Ratsvorsitzes am Ende des Europäischen Jahres 2010 zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung stattfand.

2.11

2011 veröffentlichte Eurostat (10) einen Bericht über die Wohnbedingungen in Europa im Jahr 2009 („Housing conditions in Europe in 2009“), in dem festgestellt wird, dass 30 Millionen Unionsbürger unter mangelndem Wohnraum und unzureichenden Wohnbedingungen leiden.

3.   Recht auf Wohnung

3.1

Obdachlosigkeit kann einen unmittelbaren Verstoß gegen die in der EU-Grundrechtecharta festgeschriebenen Menschenrechte darstellen (11).

3.2

In Artikel 34 der Charta heißt es: „(3) Um die soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekämpfen, anerkennt und achtet die Union das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen […]“.

3.3

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen garantiert das Recht auf angemessene Lebensbedingungen, die den Zugang zu Wohnraum und medizinischen und sozialen Dienstleistungen umfassen. Gemäß Artikel 25 Absatz 1 hat jeder „das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen“.

3.4

Gemäß Artikel 31 der revidierten Fassung der Sozialcharta des Europarates (12) hat jeder Bürger ein Recht auf Wohnung und verpflichten sich die Vertragsparteien dazu, „den Zugang zu Wohnraum mit ausreichendem Standard zu fördern; der Obdachlosigkeit vorzubeugen und sie mit dem Ziel der schrittweisen Beseitigung abzubauen; die Wohnkosten für Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, so zu gestalten, dass sie tragbar sind“.

3.5

Zahlreiche Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten sehen das Recht auf Wohnung vor. Angemessener Wohnraum ist eine Notwendigkeit und ein Recht. Der EWSA empfiehlt allen Mitgliedstaaten, jedem Menschen, der gemäß der geltenden nationalen Gesetzgebung über dieses Recht verfügt, dabei zu helfen, Zugang zu Wohnraum zu erhalten. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten und die Zivilgesellschaft auf, die Überwachung dieses Prozesses zu gewährleisten. Ein gesetzlich verankertes Recht ist die Grundlage, auf der wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit festgelegt und umgesetzt werden können.

4.   Soziale Ausgrenzung und Armut durch schlechte Wohnbedingungen

4.1

Eurostat zufolge (13) leiden in der EU 30 Millionen Bürger unter Wohnraummangel und unzureichenden Wohnbedingungen. 2009 lebten 6 % der EU-Bevölkerung in einer sehr schlechten Wohnsituation. Darüber hinaus leben 12,2 % der EU-Bürger in Wohnungen mit im Verhältnis zu ihrem Einkommen hohen laufenden Kosten.

4.2

Die sichtbarste und extremste Form von Armut und Ausgrenzung sind Obdachlose, die auf der Straße leben. Obdachlosigkeit umfasst jedoch noch eine Reihe anderer Fälle, z.B. Menschen, die in Not-, Behelfs- oder Übergangsunterkünften aufgenommen werden, vorübergehend bei Familienangehörigen oder Freunden wohnen, gezwungen sind, bestimmte Einrichtungen zu verlassen und keine Wohnung haben, von Abschiebung bedroht sind oder in unangemessenen oder unsicheren Behausungen leben.

4.3

Der Zugang zu angemessenem Wohnraum ist ein menschliches Grundbedürfnis.

4.4

Schlechte Wohnbedingungen sind durch eine ungenügende Ausstattung gekennzeichnet und lassen sich nach dem Zustand der Unterkunft bewerten: schadhaftes Dach, fehlende Badewanne/Dusche und Toilette, zu dunkle Räumlichkeiten.

4.5

Einige Mitgliedstaaten, die der EU nach 2004 beigetreten sind, insbesondere Rumänien, Polen, Bulgarien und die baltischen Länder, haben mitgeteilt, dass ein großer Teil ihrer Bevölkerung in einer sehr schlechten Wohnsituation lebt (14).

4.6

In vielen Ländern hat Armut auch mit hohen Wohnkosten zu tun: 67 % der Europäer sind der Meinung, dass die Kosten für angemessenen Wohnraum viel zu hoch sind. Diese Auffassung wird insbesondere in der Tschechischen Republik und Zypern (89 %) sowie Luxemburg, Malta (86 %) und der Slowakei (84 %) vertreten.

4.7

Jeder sechste Europäer gibt an, Schwierigkeiten bei der Bezahlung der laufenden Wohnkosten zu haben (15). 26 % der EU-Bürger sind der Meinung, dass angemessener Wohnraum in unserer Gesellschaft zu teuer ist. Insgesamt nennen die Bürger die Wohnkosten als viertwichtigsten Grund für Armut.

5.   Definition der Begriffe „Obdachlose“ und „Obdachlosigkeit“

5.1

Auf Unionsebene gibt es keine praxisgerechte allgemeingültige Definition von „Obdachlosen“, wobei die Begriffsbestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten erheblich schwanken. „Obdachlosigkeit“ bezeichnet einen komplexen und dynamischen Prozess mit unterschiedlichen Verlaufsformen und Arten des Ein- und Ausstiegs im Falle der einzelnen Personen oder Gruppen.

5.2

Es können verschiedene Typen und Zielgruppen von Obdachlosen unterschieden werden, z.B. alleinstehende Männer, Kinder und Heranwachsende, Jugendliche, die Kinderheime verlassen haben, alleinerziehende Mütter, unter Gesundheitsproblemen wie Alkoholismus leidende Personen, Hilfsbedürftige, psychisch Kranke, alte Menschen, Familien, ethnischen Minderheiten (z.B. Roma oder Bevölkerungen mit nomadischem Lebensstil) angehörende Obdachlose, Einwanderer, Asylbewerber (Flüchtlinge) oder Kinder, deren Eltern obdachlos sind.

5.3

FEANTSA (Europäischer Verband nationaler Vereinigungen, die mit Obdachlosen arbeiten) hat eine Typologie der Obdachlosigkeit und der Ausgrenzung bei der Wohnungssuche entwickelt (kurz: ETHOS). Der ETHOS-Typologie zufolge kann „ein Heim zu haben“ bedeuten:

—   in physischer Hinsicht: eine angemessene Wohnung (bzw. einen angemessenen Wohnraum) zu haben, die (der) ausschließlich einer Person und ihrer Familie gehört;

—   in rechtlicher Hinsicht: einen Eigentumstitel zu haben;

—   in sozialer Hinsicht: in der Lage zu sein, eine Privatsphäre und zwischenmenschliche Beziehungen aufrechtzuerhalten.

5.4

Dies führt zu den vier zentralen Begriffen ohne Obdach sein, ohne Wohnung sein, in einer unsicheren Wohnsituation sein und in einer unangemessenen Wohnsituation sein, die allesamt das Fehlen eines Heims bezeichnen können. In der ETHOS-Typologie werden somit Obdachlose entsprechend ihrer Lebenssituation oder des Typs ihres „Heims“ klassifiziert. Diese begrifflichen Kategorien werden in 13 praxisbezogene Kategorien unterteilt, die im Rahmen verschiedener Maßnahmen herangezogen werden können, z.B. bei der Kartierung von Obdachlosenproblemen oder der Erarbeitung, Weiterverfolgung und Bewertung dieser Maßnahmen (16).

6.   Statistiken, Indizes und Indikatoren

6.1

In der EU wenden die nationalen Statistikbehörden und andere amtliche Statistikquellen der Mitgliedstaaten keine einheitliche Methode zur Erhebung von Daten über Obdachlose an.

6.2

Das mehrere Begriffskategorien umfassende ETHOS-Modell kann dazu genutzt werden, Statistiken und Karten über Obdachlose zu erstellen, die Bedürfnisse der Hilfeempfänger und die lokalen oder organisatorischen Mittel einzuschätzen sowie die Erarbeitung, Weiterverfolgung und Bewertung von Maßnahmen sicherzustellen.

6.3

Die Obdachlosigkeit sollte auf EU-Ebene untersucht und erforscht werden, um ihre Ursachen und Muster zu verstehen sowie Maßnahmen zu konzipieren und koordinieren und entsprechende Strategien zu ergreifen. Der EWSA fordert Eurostat (durch das Datenerhebungssystem EU-SILC (17) und die zuständigen Stellen für europäische Programme, die die Finanzierung von Maßnahmen zur Eingliederung von Obdachlosen ermöglicht haben, dazu auf, einen Bewertungsbericht vorzulegen, der sich auf die letzten fünf bis zehn Jahre bezieht und einen Überblick über die Entwicklung der Obdachlosigkeit in Europa bietet.

7.   Faktoren der Schützbedürftigkeit und des Risikos der Ausgrenzung bei Wohnungslosigkeit - Kausalität

7.1

Die Ursachen, die der Obdachlosigkeit zugrunde liegen, sind häufig komplex und miteinander verbunden. Das Problem der Obdachlosigkeit ist auf ein Bündel konvergierender Faktoren zurückzuführen.

7.2

Es gibt verschiedene Arten von Risikofaktoren, die angegangen werden müssen, um das Obdachlosigkeitsproblem zu verhindern bzw. zu lösen:

—   strukturelle: wirtschaftliche Lage, Einwanderung, Staatsbürgerschaft, Wohnungsmarkt;

—   institutionelle: grundlegende Sozialdienste, Mechanismen für die Gewährung von Sozialleistungen, institutionelle Verfahren;

—   zwischenmenschliche: Familiensituation, Stand der Beziehungen (z.B. Scheidung);

—   persönliche: Behinderung, Bildung, Abhängigkeit, Alter, Situation von Einwanderern;

—   Diskriminierung und/oder fehlender Rechtsstatus: kann insbesondere Einwanderer und bestimmte ethnische Minderheiten wie Roma betreffen.

8.   Sozial- oder Notfalldienste und Strategien für einen Zugang zu Wohnraum

8.1

Es gibt verschiedene Dienste zur Unterstützung von Obdachlosen, die die Bereitstellung von Wohnraum und andere Aspekte betreffen. Die Förderung der öffentlich-privaten Partnerschaft ist ein Schlüsselelement der Umsetzung von Strategien, die den Zugang zu Wohnraum ermöglichen. Es ist äußerst wichtig, Dauerunterkünfte und soziale und medizinische Notfalldienste zur Verfügung zu stellen sowie Partnerschaften zu fördern, insbesondere im Winter und im Sommer, da in einigen Ländern ein gewisser Anteil der auf der Straße lebenden Obdachlosen in langen Hitze- oder Kälteperioden stirbt.

8.2

Der EWSA empfiehlt die Verbreitung innovativer Modelle und Leitfäden für bewährte Verfahren auf nationaler und europäischer Ebene, die neuartige und interaktive Methoden fördern und bei denen eine dauerhafte Unterbringung und notwendige ergänzende Dienstleistungen immer die erste Option sein müssen. Die offene Methode der Koordinierung kann sich als sehr nützlich erweisen, um wirksame Maßnahmen zur Integration von Obdachlosen zu fördern.

8.3

Der EWSA empfiehlt, diversifizierte Dienstleistungen zu entwickeln und Mindestnormen für alle auf Obdachlose ausgerichteten Sozialdienste zu fördern, um der Vielfältigkeit ihrer Bedürfnisse gerecht zu werden:

direkte soziale Maßnahmen: Sozial- und Rechtshilfe zum Erhalt einer Wohnung, zeitweilige Unterkünfte, Häuser oder Sozialwohnungen, Netze für Unterstützung und Kostenübernahme, Mehrzweckzentren;

Fachdienste (Obdachlose mit HIV oder besonderen Bedürfnissen usw.);

Beratung, Rechtsberatung und Berufsausbildung;

Förderung des Unternehmergeists von Obdachlosen und Sozialwirtschaft;

Überwachung und Unterstützung (kommunale Unterstützungsdienste);

Familien-, Sozial- und Kulturfördermaßnahmen, Präventionsprogramme.

8.4

Der EWSA schlägt vor, integrierte Strategien umzusetzen, mit denen ausreichende und ergänzende Dienste in allen Bereichen geschaffen werden können, um sämtlichen Bedürfnissen der Hilfeempfänger zu genügen, insbesondere im Bereich der Sozialwohnungen. Um den Tod von Obdachlosen, die auf der Straße leben, zu verhindern, hält er es für erforderlich, Rechtsvorschriften auf den Weg zu bringen, nach denen in jeder Region mindestens eine Beratungsstelle oder eine Notunterkunft für Obdachlose einzurichten ist, deren Kapazität der Zahl der auf der Straße lebenden Obdachlosen entspricht. Der EWSA unterstreicht, dass dauerhafte Lösungen gefunden werden müssen, um benachteiligte Personen zu integrieren, indem Unterkünfte und Wohnungen gebaut und zusätzliche Sozialdienste geschaffen werden. Insbesondere geht es darum, die Solidarität innerhalb der Familie (z.B. zwischen Eltern und Kindern) aufrechtzuerhalten und, soweit möglich, Kinder wieder in ihre Familie einzugliedern, falls sie ihren Eltern aufgrund von armutsbedingten Problemen oder schlechten Lebensbedingungen entzogen wurden.

8.5

Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, vorrangig mittel- und langfristige Präventionsstrategien zu erarbeiten.

8.6

Die Sozialdienste für Obdachlose dürfen nicht systematisch dazu eingesetzt werden, um die Inkonsequenz von Politikern auf dem Gebiet der Einwanderung und den Mangel an spezialisierten Diensten für die Aufnahme von Einwanderern auszugleichen.

9.   Besondere Bemerkungen

9.1

Das Fehlen von Wohnraum kann zu einer Beeinträchtigung für den Betroffenen, zu Diskriminierung aufgrund der sozialen Zugehörigkeit (zu einer benachteiligten Gruppe) und mitunter gar zum Tod (insbesondere in extremen Kälte- und Hitzeperioden) führen. Der EWSA ist der Auffassung, dass Obdachlosigkeit einen unmittelbaren Verstoß gegen die Menschenrechte bedeuten kann, die in der EU-Grundrechtecharta (Artikel 1, 2, 3, 6, 7, 21 und 34) (18) sowie der revidierten Europäischen Sozialcharta und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte festgeschrieben sind.

9.2

Die soziale Integration von Obdachlosen ist ein komplexer und komplizierter Prozess. Der EWSA ersucht die Europäische Kommission um Erarbeitung einer ehrgeizigen Strategie, die den Mitgliedstaaten dabei helfen soll, das soziale Phänomen der Obdachlosigkeit durch die Umsetzung wirksamer nationaler Strategien zu beseitigen. Im Mittelpunkt dieser Strategien sollten gemeinsame Definitionen sowie die Ursachen und mögliche Maßnahmen und Ergebnisse stehen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, eine Sensibilisierungskampagne über Obdachlosigkeit vorzubereiten, die er für dringend erforderlich hält. Die europäischen Maßnahmen und Strategien sollten in Zusammenarbeit mit Sozialdienstleistern, Obdachlosen, öffentlichen Behörden sowie Wissenschaftlern und Forschern entwickelt werden.

9.3

Der EWSA empfiehlt der Kommission, die Mitgliedstaaten dazu anzuhalten, künftig spezifische Haushalts- und Fondsmittel (insbesondere aus ESF und EFRE) für die Finanzierung bzw. Kofinanzierung von Obdachlosenprogrammen vorzusehen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Strukturfonds (ESF und EFRE) für den Zeitraum 2014-2020 im Wege eines ergänzenden Ansatzes aufgestockt werden sollten, und empfiehlt den Mitgliedstaaten zudem, in die nationalen Aktionsprogramme Strategien zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit (unter Bezug auf die Verordnung (EG) Nr. 1083/2006) sowie Maßnahmen zur Eindämmung der negativen Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf den Zugang zu Wohnraum aufzunehmen.

9.4

Der EWSA empfiehlt die Förderung europäischer Maßnahmen gegen Spekulationstendenzen auf dem Immobilienmarkt. Im Zusammenhang mit der Analyse der europäischen und einzelstaatlichen Sozialpolitik spricht er sich für eine Überwachung des Verhältnisses zwischen Monatslohn und Wohnkosten aus. Der EWSA ist der Ansicht, dass der Zugang zu angemessenem Wohnraum dem Verhältnis zwischen den Wohnkosten (der monatlichen Hypothekenrate bzw. der Miete zuzüglich der täglichen Ausgaben) und dem Nettolohn eines europäischen Bürgers entsprechen muss.

9.5

Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass die Obdachlosigkeit in einigen Ländern immer größere Ausmaße annimmt. Betraf das Problem vor einigen Jahrzehnten vornehmlich auf der Straße lebende Erwachsene, so ist es in vielen europäischen Ländern nun vielgestaltiger und akuter: Inzwischen leben auf der Straße immer mehr obdachlose Frauen, Familien, Jugendliche und Kinder, Arbeitnehmer, die ihre Wohnung verloren haben, weil sie ihre Kredite nicht zurückzahlen konnten oder Opfer der Immobilien- und Wirtschaftskrise geworden sind, sowie vor allem Einwanderer und Angehörige ethnischer Minderheiten. Dass bereits eine zweite Generation von Obdachlosen auf der Straße lebt - nämlich die Kinder von Obdachlosen -, ist der offenkundige und bedauerliche Beweis dafür, dass die Obdachlosigkeit in bestimmten Gebieten außer Kontrolle geraten ist.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Revidierte Europäische Sozialcharta: Charta des Europarats von 1961, in deren revidierter Fassung von 1995 das Recht auf Wohnung als grundlegendes soziales Recht anerkannt wird; lediglich 14 von 43 Unterzeichnerstaaten haben die revidierte Fassung ratifiziert und in nationales Recht umgesetzt.

(2)  Das finnische Projekt „Wohnung zuerst“ („Housing First“) zeigt, dass es möglich ist, die Kosten pro Hilfeempfänger um 14 000 EUR zu verringern.

(3)  www.2010againstpoverty.eu.

(4)  http://ec.europa.eu/employment_social/social_inclusion/docs/2007/study_homelessness_en.pdf.

(5)  Siehe Anhang.

(6)  http://www.peer-review-social-inclusion.eu/network-of-independent-experts/2009/homelessness-and-housing-exclusion.

(7)  http://eurlex.europa.eu/Notice.do?mode=dbl&lang=en&ihmlang=en&lng1=en,fr&lng2=bg,cs,da,de,el,en,es,et,fi,fr,hu,it,lt,lv,mt,nl,pl,pt,ro,sk,sl,sv,&val=509103:cs&page=.

(8)  http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/10/st10/st10310.de07.pdf

(9)  http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=637&langId=de&eventsId=315&furtherEvents=yes.

(10)  http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/product_details/publication?p_product_code=KS-SF-11-004

(11)  Artikel 6 EUV: „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union […] niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig.

(12)  http://conventions.coe.int/treaty/ger/treaties/html/163.htm (Europarat, überarbeitete Sozialcharta).

(13)  http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/product_details/publication?p_product_code=KS-SF-11-004.

(14)  Eurobarometer.

(15)  Gemäß einer neuen Eurobarometer-Umfrage über Armut und soziale Ausgrenzung: MEMO/09/480/27.10.2009.

(16)  Die ETHOS-Typologie ist dieser Stellungnahme beigefügt. Siehe auch: http://www.feantsa.org/files/freshstart/Toolkits/Ethos/Leaflet/EN.pdf.

(17)  http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/microdata/eu_silc.

(18)  Europäische Union, 2010 / ISBN 979-92-284-2588-6, S. 391-403. Siehe auch Ziffer 3.2 dieser Stellungnahme.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/40


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Cloud Computing in Europa“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 24/08

Berichterstatter: Eric PIGAL

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 20. Januar 2011, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Cloud Computing in Europa“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 7. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober (Sitzung vom 26. Oktober) mit 143 gegen 1 Stimme bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Gestützt auf die Strategie Europa 2020 und insbesondere die Digitale Agenda befasst sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss in dieser Initiativstellungnahme mit einem noch in intensiver Entwicklung begriffenen, aussichtsreichen IT-Ansatz: dem „Cloud Computing“. Zunächst werden die praktischen Cloud Computing-Erfahrungen der im Ausschuss vertretenen Akteure sowie der Akteure des Cloud-Computing-Markts mit dieser neuen Entwicklung zusammengetragen. Anschließend wird der Ausschuss Empfehlungen formulieren, wie sich Europa (1) in diesem lohnenswerten Bereich mit Hilfe führender Unternehmen an die Spitze setzen kann.

1.2   Cloud Computing beruht auf einer digitalen Architektur, die den Vorteil rasch verfügbarer Lösungen bietet, die leicht erweiterbar sind und nutzungsabhängig abgerechnet werden können.

1.3   Cloud Computing stützt sich in der Praxis auf ein vielversprechendes Geschäftsmodell:

eine große Zahl potenzieller Anwender: Privatanwender, Unternehmen, öffentliche Dienste usw.;

die gemeinsame Nutzung der IT-Ressourcen und -Werkzeuge durch mehrere Benutzerumgebungen, was eine optimale Auslastung ermöglicht;

die Gewährleistung von Mobilität, denn insbesondere mobile Anwender können so ständig auf ihre Daten zugreifen;

die einfache, flexible und transparente Integration der verschiedenen technischen Bausteine: Internet, IT Facilities Management, mobile Anwendungen usw.;

niedrigere Betriebskosten während der gesamten Lebensdauer der IT-Systeme ohne hohe Vorabinvestitionen;

die Rückbesinnung der Unternehmen auf ihr Kerngeschäft, ohne dass sie mit der Komplexität der IT-Systeme konfrontiert werden;

Wachstumschancen durch neue Tätigkeitsfelder für wichtige Akteure des Sektors, Systemintegratoren, Softwareanbieter usw.

1.4   Bislang allerdings ist Cloud Computing noch unausgereift bzw. weist Schwachpunkte auf:

eine Vielzahl an Normen, mit denen die Nutzung des Cloud Computing geregelt und kontrolliert werden soll;

keine erkennbare europäische Governancestruktur zur Durchsetzung solcher Normen;

mangelnde Erfahrung der Anwender, vor allem der Privatanwender, um die beworbenen Vorteile und vor allem die potenziellen Risiken einschätzen zu können;

systeminhärente Anfälligkeit des Internet: Unterbrechungen durch Störungen, Cyberangriffe usw.;

Überlastung des Internet: sinkende Leistung, permanent steigender Datenverkehr (Audio- und Video-Dateien, Spam), die Nachteile des IP-Adressensystems;

Überlastung der Server: durch gemeinsame Nutzung von Server-Ressourcen und mögliche Überbuchung der Systeme kann es zu Datenstau kommen;

die Gefahren in Verbindung mit der Auslagerung von Daten und Anwendungen an Dritte;

die Risiken in Verbindung mit einer geografischen Verlagerung der Daten oder Anwendungen in ein anderes Land mit einer anderen Rechtsordnung;

das soziale Risiko aufgrund der Konzentration von Entwicklung, Vorhaltung, Support und Betrieb;

die Unklarheit der Rechte und Pflichten sowohl der Nutzer als auch der Cloud-Computing-Anbieter;

die undeutliche Unterscheidung zwischen der für die Verarbeitung der personenbezogenen Daten verantwortlichen Person und der diese Datenverarbeitung durchführenden Person;

Komplexität bis hin zur Undurchschaubarkeit der Cloud-Computing-Verträge für all diejenigen, die nicht über einschlägige Kenntnisse verfügen, was die Sammlung, Verarbeitung und Übertragung der Daten der Verbraucher sowie deren gesetzliche Rechte betrifft.

1.5   Cloud Computing könnte Europa Gelegenheit bieten, auf einem vielversprechenden, großen und strategisch wichtigen Markt tätig zu werden. Dazu empfiehlt der Ausschuss, das die Europäische Kommission selbst, gemeinsam mit den Mitgliedstaaten oder mit den einschlägigen europäischen Unternehmen, Maßnahmen in folgenden Bereichen durchführt:

1.5.1   Kompetenzen

Analyse der erforderlichen Kompetenzentwicklung (Informatiker/Informationstechniker) mit Blick auf die Entwicklung der Anforderungen und der Humanressourcen im Kontext des Cloud Computing;

Anregung bzw. Koordinierung von Berufsbildungs- bzw. Schulungsprogrammen;

Einführung spezifischer Zertifizierungen oder Bescheinigungen als Anerkennung bzw. Nachweis der Qualifikationen von Cloud Computing-Experten.

1.5.2   Forschung und Investitionen

Förderung einer Koordinierung der europäischen Forschungszentren, um Fach- und Sachwissen auf dem aktuellsten Stand zu halten;

Förderung des Glasfaser-Ausbaus über Subventionen für oder Partnerschaften mit europäischen Telekommunikationsunternehmen.

1.5.3   Partnerschaft

Förderung von Zusammenschlüssen europäischer Unternehmen für Investitionen in gemeinsame Cloud Computing-Vorhaben, bspw. unter dem Forschungsrahmenprogramm;

Förderung und sogar finanzielle Unterstützung von Investitionen in den Bau riesiger Serverfarmen in EU-Mitgliedstaaten, wie es sie in anderen Regionen bereits gibt;

Nutzung des öffentlichen Auftragswesens zur Anregung von Partnerschaften;

Zusammenführung der Hersteller von Cloud Computing-Software und der Telekommunikationsunternehmen, da diese naturgemäß in direktem Kontakt zu den potenziellen Cloud Service-Kunden stehen.

1.5.4   Normen und Governancestruktur

Aufruf an öffentliche und private Akteure zur Beteiligung an der Aufstellung von Regeln für die Beziehungen zwischen den Providern auf der einen und den europäischen Unternehmen oder Bürgern auf der anderen Seite;

Durchsetzung der EU-Vorschriften für Datensicherheit, Schutz der Privatsphäre usw. bei Cloud Computing-Lösungen unter Berufung auf den Vorsprung der EU in diesem Bereich;

Einrichtung einer europäischen Instanz zur Überwachung der Einhaltung besagter Vorschriften;

Begrenzung der Auslagerung sensibler Daten auf Server außerhalb Europas durch geeignete Rechtsvorschriften;

ernsthafte Berücksichtigung der sich durch die Anwendung des Cloud Computing ergebenden Herausforderungen im Zuge der Überarbeitung der Richtlinie zum Schutz personenbezogener Daten, wobei sich der EWSA der Tragweite dieser Herausforderungen bewusst ist.

2.   Einleitung

2.1   Cloud Computing ist ein weiterer Evolutionsschritt, der in seiner Folgenschwere in etwa der Entwicklung der Client/Server-Systeme oder der Einführung des Internet entspricht.

2.2   Bei Cloud Computing werden bestehende Modelle und Technologien wie Internet, Serverfarmen, IT Facilities Management bzw. Outsourcing usw. miteinander kombiniert und optimiert. Cloud Computing weist deshalb auch die gleichen Stärken und Schwächen auf wie seine Bausteine, bspw. in Sachen Internetgeschwindigkeit, Datenschutz im IT Facilities Management, Überbuchung gemeinsam genutzter Rechner usw.

2.3   Der Ausschuss hat sich in verschiedenen Stellungnahmen bereits zu mehreren Aspekten in diesem Kontext geäußert, die für das Cloud Computing unmittelbar relevant sind:

Datenschutz (2);

Telekommunikationssysteme (3);

Elektronische Kommunikation (4);

Internetdienste (5);

Verbraucherschutz (6);

Internet der Dinge - Aktionsplan für Europa (7).

Um sich nicht unnötig zu wiederholen, wird sich der Ausschuss in dieser Stellungnahme nur mit den Aspekten befassen, die das Cloud Computing unmittelbar angehen.

2.4   Der Ausschuss steht mit seinem Interesse für Cloud Computing nicht allein auf weiter Flur, auch andere europäische Einrichtungen und Organisationen beschäftigen sich mit dem Thema.

2.5   Die Kommissionsvizepräsidentin Neelie KROES umriss am 27. Januar 2011 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos ihre Vorstellungen wie folgt:

Wir können uns es nicht leisten, auf eine allgemein anerkannte Definition für Cloud Computing zu warten. Wir müssen handeln. (…) Wie in der Digitalen Agenda für Europa vorgesehen, habe ich mit der Ausarbeitung einer EU-weiten Cloud Computing-Strategie begonnen. Dies geht über einen politischen Rahmen hinaus, denn Europa soll nicht nur cloudfreundlich werden, sondern erfolgreich in der Cloud aktiv sein.

2.6   Die Europäische Kommission hat 2009 IT-Experten und Forscher mit der Erstellung einer Studie über die Zukunft des Cloud Computing  (8) beauftragt. Ferner hat sie eine öffentliche Konsultation  (9) zu Cloud Computing eingeleitet, deren Ergebnisse in die Entwicklung einer europäischen Cloud Computing-Strategie einfließen werden, die 2012 vorgelegt werden soll. Cloud Computing ist ein wichtiger Baustein für die Umsetzung der Strategie Europa 2020, insbesondere für die beiden Leitinitiativen „Digitale Agenda“ und „Innovation“.

Über das 7. Forschungsrahmenprogramm (10) werden bereits Cloud Computing-Programme finanziert.

2.7   Des Weiteren hat die ENISA  (11) im November 2009 einen Bericht über „Cloud Computing: Benefits, Risks and Recommendations for Information Security“ [Cloud Computing: Nutzen, Risiken und Empfehlungen zur Informationssicherheit] veröffentlicht.

2.8   Das amerikanische Normeninstitut NIST (12) hat vor kurzem folgende Veröffentlichung vorgelegt: „Cloud Computing Standards Roadmap“ (NIST CCSRWG - 092 - 5. Juli 2011).

3.   Einleitende technische Erläuterungen

3.1   Die Bemühungen um eine einheitliche Begriffsbestimmung wurden weitgehend von den Bestrebungen der Softwareunternehmen durchkreuzt, ihre bestehende Software mit dem Stempel „cloudfähig“ zu versehen.

Dennoch besteht weitgehend Einhelligkeit darüber, dass Cloud Computing rasch verfügbare und leicht erweiterbare Lösungen bietet, die nach Nutzung abgerechnet werden können.

3.2   Welche Eigenschaften sind für Cloud Computing charakteristisch?

—   Abstraktion: Für den Nutzer, ob Privatanwender oder Unternehmen, verblassen die Konfiguration der IT-Leistungen, der Ort ihrer Bereitstellung oder ihre Wartung bis zur Unsichtbarkeit.

—   Benutzerfreundlichkeit: Unter der Voraussetzung eines Internetzugangs können die Benutzer jederzeit und von jedem Rechner (ob PC, Pad oder Smartphone) aus auf ihre Daten und Anwendungen zugreifen.

—   Dynamische Skalierbarkeit: Der Anbieter liefert bedarfsgerecht und flexibel in Echtzeit die vom Anwender benötigten IT-Dienste und Rechenkapazität. So können die Bedarfsspitzen des Anwenders abgefedert werden, ohne dass er seine interne IT redundant auf Spitzenlast auslegen muss.

—   Gemeinsame Nutzung: Dadurch, dass sich mehrere Benutzerumgebungen die IT-Ressourcen teilen, ist eine Skalierung möglich. So kann die bestmögliche Auslastung und optimale Skalierbarkeit riesiger Serverfarmen mit mehreren tausend Rechnern erreicht werden.

—   Abrechnung nach Nutzung: Der Anwender bezahlt nur für die tatsächliche Nutzung, d.h. für Dauer und Umfang der jeweils benötigten Leistung. Cloud Computing-Verträge werden häufig noch ad hoc gestaltet, nehmen jedoch allmählich eine standardisiertere Form an.

3.3   Auf Unternehmensebene erstreckt sich die Cloud-Nutzung zunächst auf Collaboration-Anwendungen wie E-Mail oder Webkonferenzen, Cloudfähigkeits-Entwicklungs- und –Testumgebungen, Kundenbeziehungsmanagement-Anwendungen (CRM) und Business-Intelligence-Systeme.

Künftig ist davon auszugehen, dass die meisten IT-Anwendungen cloudfähig sind.

3.4   Unter Cloud Computing werden üblicherweise folgende drei – zunehmend komplexe – Ebenen subsumiert und teilweise auch kombiniert, die sich an unterschiedliche Anwenderkreise richten:

—   IaaS (Infrastructure as a Service)– ein Anwender mietet die benötigte Infrastruktur als virtuellen Service über das Internet, hauptsächliche Adressaten: IT-Dienste großer Unternehmen;

—   PaaS (Platform as a Service)– Funktionen für die Entwicklung und Bereitstellung von Anwendungen werden über das Internet bereitgestellt, Adressaten: Softwareentwickler;

—   SaaS (Software as a Service)– Software-Anwendungen werden direkt über das Internet genutzt, hauptsächliche Adressaten: Endnutzer, nicht notwendigerweise Informatiker; z.B. E-Mail für Privatanwender.

3.5   Mittlerweile werden Private Clouds verbreitet genutzt; ihr Management und Betrieb werden innerhalb eines Unternehmens abgewickelt, das sich so die Flexibilität und Leistungsfähigkeit von Cloud Computing zunutze machen kann, ohne sich mit der Problematik der Auslagerung von IT-Leistungen an einen Cloud-Dienste-Anbieter auseinandersetzen zu müssen.

Diese Lösung kann mehreren Bedürfnissen gerecht werden:

vorsichtige, unternehmensinterne Vorbereitung auf die Verlagerung der vorhandenen IT-Systeme auf eine Cloud Computing-Plattform;

Umstellung der unternehmensinternen Rechen- und IT-Zentren auf eine service-orientierte Architektur, die eine transparentere nutzungsabhängige Abrechnung der für die anderen Abteilungen erbrachten Rechenleistungen ermöglicht.

4.   Auswirkungen von Cloud Computing

4.1   Was bringt Cloud Computing für Unternehmen?

4.1.1   Wie bereits gesagt weist Cloud Computing die gleichen Stärken und Schwächen auf wie einiger seiner Bausteine.

4.1.2   Deshalb zunächst einige Vorteile, die Unternehmen nicht erst aus Cloud Computing, sondern bereits aus der Entwicklung des IT Facilities Management gezogen haben:

Konzentration auf das Kerngeschäft;

Skalenvorteile durch Industrialisierung und die gemeinsame Nutzung der Anbieterleistungen durch mehrere Anwender;

Verfügbarkeit hoher Fach- und Sachkompetenz.

4.1.3   Einer jüngeren Studie zufolge werden 70 % der Kosten eines hausinternen Rechen- und IT-Zentrums durch die Verwaltung der internen Anwendungen verursacht. Wenn ein Teil der IT-Leistungen ausgelagert werden kann, können die frei werdenden Kapazitäten auf Innovation und die Entwicklung neuer Dienste ausgerichtet werden.

4.1.4   Als Vorteile für Unternehmen werden am häufigsten genannt:

—   Geringere Erstinvestitionen: Bei den neuen digitalen Lösungen erfordert die Nutzung und Erweiterung von IT-Leistungen nicht länger umfangreiche Investitionen in Rechenzentren, Server, Software, Schulungen für anbieterspezifische Software usw.

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass erhebliche Investitionen erforderlich sein werden, um die bestehenden Lösungen sowohl der Unternehmen als auch der Softwareanbieter cloudfähig zu machen.

—   Bessere Performanz und Verfügbarkeit: Die Entwicklungsteams können sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren und müssen sich nicht um die vom Cloud Computing-Anbieter bereitgestellte IT-Infrastruktur kümmern; flexible und bedarfsgerechte Überlassung materieller und personeller Ressourcen.

—   Kostenrechnung und Kostensenkung: Statt fixer Investitionen fallen variable Kosten an. Cloud Computing ist eine mietvertragliche Leistung, in der die Wartung inbegriffen ist, d.h. transparente Software- oder Infrastruktur-Aktualisierungen und direkter Online-Support bei auftretenden Mängeln durch den Softwareanbieter oder Server-Hersteller.

—   Stärkung des Dienstleistungsmodells: Die hausinterne IT-Abteilung kann sich auf die Zusagen des Cloud Computing-Anbieters in Bezug auf Qualität, Verfügbarkeit, Sicherheit und Skalierbarkeit der IT-Leistungen berufen und ihrerseits ihren internen Kunden Vereinbarungen über Art und Umfang der zu erbringenden Dienstleistung (Service Level Agreements, SLA) vorschlagen.

—   Mobilität der Mitarbeiter: Durch Cloud Computing-Lösungen können alle Mitarbeiter eines Unternehmens an jedem Ort jederzeit auf aktuelle Unternehmensdaten zugreifen.

4.2   Für bestimmte Unternehmen ist Cloud Computing besonders interessant:

Kleinstunternehmen und KMU können kostengünstig auf IT-Ressourcen (Hardware, Software, Expertise) zugreifen.

Startup-Unternehmen, die sich definitionsgemäß in einer starken Wachstumsphase befinden, können auf flexibel skalierbare IT-Leistungen zugreifen.

4.3   Was haben Systemintegratoren von Cloud Computing zu erwarten?

4.3.1   Systemintegratoren entwickeln IT-Lösungen für ihre gewerblichen Kunden.

Aufgrund ihrer Expertise, ihrer Personalkapazitäten und ihrer flexiblen Anpassung an die schwankenden Kundenerfordernisse haben sie mittlerweile eine Schlüsselfunktion in der Informationstechnik.

Auf dem europäischen Markt führend sind Accenture, Atos, Cap Gemini, HP, IBM, Wipro usw.

4.3.2   Da IT-Entwicklungen naturgemäß punktuell und zeitlich begrenzt sind, fordern die hausinternen IT-Abteilungen Systemintegratoren nach Bedarf allein in der Entwicklungsphase an.

Die hausinternen IT-Abteilungen werden nur soweit in diese Entwicklungsphase einbezogen, dass sie anschließend die Nutzung und Wartung übernehmen können.

4.3.3   Auch im Zusammenhang mit Cloud Computing werden die Systemintegratoren für die Planung und Entwicklung von Lösungen für ihre gewerblichen Kunden zuständig sein.

In Anbetracht der damit verbundenen neuen Tätigkeiten können die Systemintegratoren dem Cloud Computing eigentlich nur positiv gegenüber stehen.

4.3.4   Allerdings stellt sich die Frage, ob diese neue Tätigkeit von Dauer sein wird oder ob es sich nur um eine punktuelle Maximallast wie seinerzeit bei der Jahrtausendwende oder bei der Einführung des Euro handelt.

Über mehrere Jahrzehnte hinweg haben Innovationen und technischer Fortschritt zu einer Produktivitätssteigerung geführt, die jedoch weder den Entwicklungsumfang beeinträchtigt noch einen Rückgang der Informatikerzahlen bewirkt hat, sondern ganz im Gegenteil eine erhebliche Ausweitung von Zahl und Einsatzbereich der Informationssysteme.

Cloud Computing fügt sich logisch in diesen Trend ein. Es ist davon auszugehen, dass Cloud Computing über weitere IT-Entwicklungen neue Tätigkeitsfelder für Systemintegratoren erschließen wird.

4.4   Wie bereiten sich die Softwareanbieter auf Cloud Computing vor?

4.4.1   Microsoft, Google, Oracle oder SAP, um nur einige Beispiele zu nennen, müssen alle erhebliche Investitionen in die „Umstellung“ ihres bestehenden Angebots vornehmen, damit es als „cloud ready“ vermarktet werden kann.

4.4.2   Diese Umstellung erfordert zunächst umfangreiche Investitionen in neue IT-Entwicklungen, wodurch vor allem einige „Geschäftsmodelle“ in Frage gestellt werden. Bspw. weicht Microsoft mit seinem Cloud-Angebot Office 365 grundlegend von seinem Modell ab, bei dem ab der ersten Nutzung einer Microsoft-Software eine Lizenz erworben werden muss.

4.5    Provider und Cloud Computing

4.5.1   In den letzten zehn Jahren hat sich das IT Facilities Management und in diesem Zusammenhang vor allem das Hosting von IT-Leistungen entwickelt (die Verwaltung von Servern, Netz und Basissoftware).

Durch Cloud Computing wird dieser Ansatz weiterentwickelt, indem die gehosteten IT-Leistungen vielen Kunden (Unternehmen oder Privatanwendern) gemeinsam zur Verfügung gestellt werden.

4.5.2   Cloud Computing vereinfacht demnach das Outsourcing, wobei durch eine Konzentration der Hosting-Einrichtungen riesige Serverfarmen entstehen. Die Entwicklung des Cloud Computing dürfte daher zu einer Umgestaltung des Sektors führen, bedingt durch den zunehmenden Wettbewerb zwischen den Dienste-Anbietern, durch Unternehmensübernahmen und -fusionen angesichts des ungeheuren Investitionsbedarfs und durch die unvermeidlichen sozialen Auswirkungen, die erfahrungsgemäß durch solche Konzentrationsphasen ausgelöst werden.

4.6   Sieht der öffentliche Sektor Cloud Computing aus einem anderen Blickwinkel als der private Sektor?

4.6.1   Der öffentliche und der private Sektor gründen auf Strategien, Kulturen, Menschen und Organisationen mit vergleichbaren Zielen, Grenzen und Arbeitsweisen.

4.6.2   Folglich dürfte Cloud Computing den öffentlichen Verwaltungen ähnliche Vorteile bringen wie den privatwirtschaftlichen Unternehmen (siehe oben).

Zudem können die öffentlichen Dienstleistungen für die Bürger aufgrund einer besseren Verfügbarkeit, Zugänglichkeit usw. durch Cloud Computing verbessert werden.

4.6.3   Nichtsdestotrotz weist der öffentliche Sektor besondere Merkmale auf:

Finanzkrise

Die krisenbedingte Haushaltsdisziplin macht Einschnitte in den öffentlichen Investitionsprogrammen, auch im IT-Bereich, notwendig. Cloud Computing ist in diesem Kontext ein idealer Ansatz, der es ermöglicht, IT-Ressourcen ohne Vorabinvestitionen zu nutzen.

Öffentliche Forschung

Die öffentliche Forschung spielt natürlich auch in der Privatwirtschaft eine Rolle, ist aber im öffentlichen Sektor über die nationalen Forschungszentren, die Hochschulzentren und die öffentlich-privaten Partnerschaften (ÖPP) sehr gegenwärtig.

Mögliche IT-Bedarfsspitzen im Zuge der Forschungstätigkeit können durch Cloud Computing problemlos aufgefangen werden.

Öffentliche Investitionen

Öffentliche Investitionen in Cloud Computing könnten als Hebel dienen, nationale oder europäische privatwirtschaftliche Investitionen, insbesondere von Telekommunikationsbetreibern, zu mobilisieren. In der Vergangenheit haben öffentliche Investitionen teilweise als Katalysator für privatwirtschaftliche Investitionen und Strategieentscheidungen gewirkt, so z.B. in der Luft- und Raumfahrt, der Mobiltelefonie, bei Hochgeschwindigkeitszügen usw.

Einige Mitgliedstaaten haben bereits massiv in die Änderung der Software ihrer Verwaltungen für eine Cloud-Migration investiert.

4.7   Ist Cloud Computing für Privatanwender von Belang?

4.7.1   Es gibt insbesondere an Privatanwender gerichtete Cloud Computing-Lösungen, so z.B. die Angebote iCloud von Apple, Microsoft Office 365, Picasa usw.

4.7.2   Nur wenige Privatanwender sind bereit, einen oder mehrere Server, eine Netzinfrastruktur oder dergleichen vorzuhalten. Auch können oder wollen sich nicht alle mit der Wartung dieser Infrastruktur befassen, auch nicht auf einem einzelnen PC.

4.7.3   Bislang auf PC (der Festplatte) verfügbare IT-Anwendungen (Textverarbeitung, Druck, Aufbewahren von Fotos, Datenspeicherung usw.) werden allmählich durch Internet-Anwendungen ersetzt und als Software-as-a-Service (SaaS, s.o.) in die „Wolke“ verlagert.

4.7.4   Die Nutzung der Basisversion dieser Dienste ist gratis. Die Provider finanzieren dies häufig dadurch, dass sie die Kundendaten eventuell gezielt für Marketing- und Werbezwecke nutzen können. Meistens wird eine kostenpflichtige Premiumversion mit mehr Speicherkapazität, zusätzlichen Anwendungen usw. vorgeschlagen.

4.7.5   Für Privatanwender löst Cloud Computing die zunehmende Komplexität der IT-Werkzeuge durch eine Vereinfachung der Nutzung und die Auslagerung der Ressourcenverwaltung. Hier wird ferner ein Modell geboten, bei dem IT-Leistungen nach Nutzung abgerechnet werden und das für die begrenzte und sporadische Nutzung der IT-Werkzeuge und -Ressourcen in Privathaushalten geeignet ist.

4.7.6   Schließlich gilt auch die mobile und ständige Zugriffsmöglichkeit auf Daten als immer wichtigerer Vorteil. Mehrere Cloud-Dienste-Anbieter (13) bieten ihren Kunden an, ihre Musik- oder Fotodateien o.ä. von überall aus anzuhören bzw. anzusehen.

4.8   Hat Cloud Computing neben seinen wirtschaftlichen und kommerziellen auch noch soziale Auswirkungen?

4.8.1   Vor allem die Berufsgruppe der Informatiker und Informationstechniker dürfte von der Entwicklung des Cloud Computing betroffen sein.

4.8.2   Die Tätigkeit der Systemintegratoren dürfte durch Cloud Computing nicht beeinträchtigt werden; im Gegenteil, in der Anfangsphase ist eher eine merkliche Steigerung zu erwarten. Zwar müssen sich die Informatiker und Informationstechniker dieser Unternehmen neue Kenntnisse aneignen, um Cloud Computing-Lösungen entwickeln zu können, doch dürften die Personalkapazitäten der Systemintegratoren davon nicht berührt werden.

4.8.3   Die für Entwicklungen zuständigen hausinternen Informatiker/Informationstechniker (der gewerblichen Kunden der Systemintegratoren) dürften ihre zentrale Aufgabe, gemeinsam mit den externen Informatikern Entwicklungen durchzuführen, um anschließend die Wartung sicherstellen zu können, verlieren. Wenn also tatsächlich ein Teil der Wartung in die Cloud ausgelagert werden kann, wird wohl auch die unternehmensinterne Personalkapazität im Entwicklungsbereich entsprechend reduziert.

4.8.4   Die für Support und Betrieb zuständigen Informatiker dürften stärker betroffen sein. Ihre Tätigkeit wurde ja bereits im Zuge des IT Facilities Management weitgehend ausgelagert und von externen Dienstleistern übernommen. Mit der Einführung von Cloud Computing wird sich das IT Facilities Management weiterentwickeln, dürfte aber von der Konzentrationsentwicklung und der geografischen Verlagerung im IT-Sektor beeinflusst werden. Es dürfte also mit einem Personalabbau in den Bereichen Support und Betrieb sowie Hosting zu rechnen sein.

4.8.5   Durch die ganze oder teilweise Auslagerung der IT-Dienste gibt es kaum noch Berührungspunkte zwischen Informatikern und IT-Endanwendern. Diese organisationstechnische oder auch geografische Entfernung erschwert ihre Interaktion. Interaktion aber fördert eine direkte und wirksame Zusammenarbeit und persönliche Kontakte, die es den IT-Fachleuten ermöglichen, die Schwierigkeiten und Erwartungen der Anwender besser zu verstehen.

4.9   Worauf ist bei Abschluss eines Cloud Computing-Vertrags zu achten?

4.9.1   Die Beziehung zwischen Kunde und Cloud Computing-Anbieter gestaltet sich auf zweierlei Weise: kostenlose oder kostenpflichtige Dienste. Allerdings ist die Unterscheidung nicht immer eindeutig, da kostenlose Dienste nichtfinanzielle Kosten verursachen können wie Kontextwerbung oder die mögliche Weiterverwendung der Kundendaten durch den Provider.

4.9.2   Kostenlose oder preiswerte Dienste sind im Allgemeinen auf Privatanwender ausgerichtet. Nichtsdestotrotz müssen diese die „allgemeinen Geschäftsbedingungen“ genau prüfen, die zwar weniger formell erscheinen mögen, aber doch bindend sind. Auch für Privatanwender sind Informationen, die sie einem Provider überlassen, wertvoll. Wenn Probleme auftreten, kann ein kostenloser Dienst womöglich in Zeitaufwand und Informationsverlust gemessen doch teuer zu stehen kommen.

4.9.3   Auch ein Unternehmen muss den Inhalt des Cloud Computing-Vertrags genau prüfen oder am besten durch Rechtsexperten prüfen lassen. Schließlich vertraut das Unternehmen einem externen Provider wertvolle Daten und Instrumente an und könnte bei einem Missbrauch der Informationen in größte Schwierigkeiten geraten.

4.9.4   Cloud Computing-Verträge sind selten verhandelbar, und die meisten Provider verlangen von ihren potenziellen Kunden die Einwilligung in ihre standardvertraglichen Regelungen. Allerdings kann ein besonders lukrativer oder strategisch wichtiger Auftrag auch hier einen Provider zu Vertragsanpassungen motivieren.

4.9.5   Kostenlose oder kostenpflichtige Leistung, standardisierter oder individueller Vertrag, folgende Aspekte müssen klar geregelt werden:

die Ebene der Cloud-Dienste (IaaS, PaaS, SaaS);

die gewährleistete Systemverfügbarkeit und die Haftung bei Datenverlust oder Schäden;

das Ausmaß der Ressourcenteilung mit anderen Nutzern (Überbuchung von Ressourcen bzw. Thin Provisioning);

die Flexibilität der Ressourcen und die Abrechnung nach Nutzungsumfang;

die Rechte und Pflichten des Cloud Computing-Anbieters in Bezug auf die Weitergabe von Informationen an Dritte, bspw. eine Justizbehörde;

die exakte Identität der Diensteanbieter in Anbetracht der vielschichtigen Cloud-Architektur;

die Möglichkeiten, den Vertrag zu kündigen, und der anbieterseitige Support in der Übergangszeit;

die Frage, welche Rechtsordnung anwendbar ist und welche Gerichte zuständig sind (national oder international).

5.   Die Schwachpunkte von Cloud Computing

5.1   Cloud Computing ist internetgestützt und somit auch vom Internet abhängig. Das Internet jedoch scheint an Grenzen zu stoßen, insbesondere seine Geschwindigkeit.

Die unaufhörlich wachsende Zahl der Internetnutzer und -anwendungen, die ins Unermessliche gehenden übertragenen Datenmengen (vor allem Audio- und Filmdateien), die von den Anwendern erwünschten immer kürzeren Antwortzeiten machen deutlich, dass die an das Internet gestellten Leistungsanforderungen potenziell problematisch sind. Der Datenverkehr in Verbindung mit Cloud Computing muss diese Probleme durch die zusätzliche übertragene Datenmenge, vor allem aber durch eine weitere Verkürzung der für die Nutzer vertretbaren Antwortzeiten, geradezu weiter verschärfen.

5.2   Die Widerstandsfähigkeit des Internet wird ebenfalls zur Gefahrenquelle für Cloud Computing. Technische Probleme, Cyberangriffe und jüngst auch politische Eingriffe haben das Internet lahmgelegt und dadurch seine Anfälligkeit, vor allem aber auch die Abhängigkeit seiner Nutzer, deutlich gemacht. Durch Cloud Computing wächst der Sicherheitsbedarf im Internet, das ursprünglich nicht für Geschäftsanwendungen gedacht war.

5.3   Ein wesentlicher, durch mehrere Faktoren bedingter Schwachpunkt des Cloud Computing ist die Sicherheit der Daten, die in die Cloud ausgelagert und dabei ggf. auch geografisch verlagert werden.

Zunächst kann die kontinuierliche, hohe Verfügbarkeit der ausgelagerten Daten für einen Cloud Computing-Anwender geschäftskritisch, gar überlebenswichtig sein. Die Vertraulichkeit ist insofern problematisch, als die Daten von einem externen Cloud-Anbieter gespeichert und vorgehalten werden.

Besonders kritisch ist die Vertraulichkeit bei sehr werthaltigen Daten, vor allem mit Blick auf Industriespionage.

5.4   Cloud-Lösungen sind für Hackerangriffe umso anfälliger, als die riesigen Serverkapazitäten der betreffenden IT-Dienstleister eine große Angriffsfläche bieten und ein mit ihrer Größe, ihrem Image und ihrem Kritikalitätsgrad zunehmend attraktives Angriffsziel darstellen. Um diesen zunehmenden Angriffen zu begegnen, sind daher zusätzliche Bemühungen und Spezialisten erforderlich.

Es ist jedoch auch zu beachten, dass die Anbieter von IT-Dienstleistungen (Outsourcing, Cloud Computing usw.) bereits sehr für Sicherheit und Cyberkriminalität sensibilisiert und vermutlich besser gerüstet sind als die meisten ihrer Unternehmenskunden.

Um es mit einem Bild auszudrücken: Ein Banksafe ist sicherlich ein Anziehungspunkt für Einbrecher, aber Schmuck ist hierin sehr viel sicherer aufgehoben als in einem Schmuckkästchen im Schlafzimmer!

5.5   Beim Dienst über Ländergrenzen hinweg kann auch die Überlegung schwierig sein, ob die Rechtsordnung des Landes des Anwenders oder des Providers gelten soll.

Außerdem muss festgelegt werden, welche Aufsichtsbehörde die Anwendung der Rechtsvorschriften überwachen und eventuelle Streitigkeiten zwischen Anwender und Provider schlichten soll.

In diesem Zusammenhang ist die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie die einschlägige Stellungnahme des Ausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zum Schutz von Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten (14) relevant.

Die europäischen Datenschutzvorschriften schränken den Datentransfer in Drittländer erheblich ein. Der internationale Ansatz von Cloud Computing wirft Fragen im Zusammenhang mit der Übertragung von Daten zwischen Kunde und Provider zum einen und innerhalb der Provider-Infrastruktur zum anderen auf.

In diesem Zusammenhang stellt sich als weiteres Problem die fehlende (weltweite) Internet- und damit auch Cloud Computing-Governance.

Ein Aspekt des Datenschutzes betrifft das Urheberrecht. Da urheberrechtlich geschützte Daten über verschiedene Rechenzentren übertragen und räumlich verteilt werden können, ist es schwierig, Vorschriften für ihren Schutz, Urheberrechtseinnahmen und Kontrolle festzulegen.

5.6   Einige Akteure haben dank IT-Innovationen eine marktbeherrschende Stellung errungen, so z.B. Microsoft und Apple für Einzelgeräte (PC, Mobiltelefonie usw.) oder Google als Suchmaschine und Facebook als soziales Netzwerk. Die EU hat stets darüber gewacht, dass diese marktbeherrschenden Stellungen nicht den Interessen der anderen Akteure in den betreffenden Sektoren oder der Verbraucher schaden.

Bei Cloud Computing werden verschiedene Schlüsseltechnologien miteinander verknüpft, was Tür und Tor für marktbeherrschende Anbieter und die damit verbundenen Risiken öffnet. Die EU darf in ihrer Wachsamkeit also nicht nachlassen.

5.7   Portabilität ist nicht nur ein technischer, sondern auch ein wirtschaftlich relevanter Aspekt. Ohne Portabilität wird der Anwender eines Cloud-Angebots Opfer eines Lock-in-Effekts und kann die Auftragsdatenverarbeitung nicht einem anderen Anbieter übertragen, d.h. der Wettbewerb zwischen den Anbietern wird beeinträchtigt. Die Verwendung von Open Standards und die Gewährleistung der Interoperabilität der Dienste und Anwendungen kann eine einfache, rasche und für den Nutzer kostengünstige Übertragung von Daten von einem Anbieter zu einem anderen ermöglichen.

5.8   All diese Problemfelder könnten sich als gefährliche Hemmschwellen für die Nutzung und Verbreitung des Cloud Computing-Modells erweisen. Die Medienaufbereitung (in Presse, Rundfunk, sozialen Netzwerken usw.) dieser Schwachpunkte und damit verbundener Rechtsstreite könnte dem Cloud Computing großen Schaden zufügen und zum Verlust des Vertrauens der Anwender in die Technologie und in die Anbieter führen.

6.   Herausforderungen und Chancen für Europa

6.1   In den Worten von Neelie KROES hebt die Europäische Kommission darauf ab, Europa „cloud-aktiv“ zu machen. Aus dem Begriff „aktiv“ geht jedoch nicht hervor, ob es sich um die schlichte Nutzung oder um die Entwicklung von Cloud Computing handelt. Die erste Auslegung würde von einem erheblichen Mangel an Ehrgeiz zeugen. Das Anstreben eines „cloud-produktiven“ Europas ist viel aussagekräftiger – ein Europa, das nicht nur von anderen entwickelte Cloud-Lösungen nutzt, sondern auch eigene anbietet.

6.2   Die digitale Industrie – Dienste, Produkte, Inhalte – wird weitgehend von außereuropäischen Akteuren dominiert, zumeist von nordamerikanischen oder asiatischen Unternehmen.

Auf dem Telekommunikationsmarkt immerhin zieht Europa mit den anderen Regionen gleich. Betreiber wie Deutsche Telekom, Orange oder Telefonica sind Spitzenspieler.

6.3   Die digitale Industrie ist ein Wachstumsmotor, doch Europa steht noch am Fuß der Leiter. In den letzten Jahren hat Europa in verschiedenen Bereichen die Weltmarktführung übernommen, wobei es seinen Vorsprung in der Mobiltelefonie allerdings jüngst verloren hat.

6.4   Cloud Computing bietet nun eine Gelegenheit, die Karten neu zu mischen. Wieder wird ein Wettlauf um die Weltmarktführung beginnen, denn die aktuell marktbeherrschenden Akteure müssen sich gegenüber anderen und neuen Marktteilnehmern behaupten.

6.5   Der globale Ansatz von Cloud Computing macht die Entwicklung globaler Grundsätze und Standards erforderlich. Die EU muss bei der Aufstellung dieser Grundsätze und Standards weiterhin mit internationalen Organisationen zusammenarbeiten. Sie muss sich an die Spitze der Bemühungen um Erarbeitung globaler Grundsätze und Standards stellen und gewährleisten, dass diese Grundsätze und Standards das in den europäischen Rechtsvorschriften vorgesehene hohe Schutzniveau personenbezogener Daten sicherstellen.

6.6   In diesem neuen weltweiten Wettlauf hat Europa einige große Vorteile:

Es besitzt eine ausgezeichnete digitale Infrastruktur. Der Glasfaserausbau geht voran. Die Infrastruktur wird von einigen Schlüsselakteuren beherrscht, die bei der Festlegung der Standards im Telekommunikations-Umfeld und hinsichtlich der notwendigen Investitionen ihren Einfluss geltend machen können.

Durch eine starke öffentliche Investitionspolitik kann Europa privatwirtschaftliche Investitionen katalysieren.

Die regionalen oder nationalen KMU bevorzugen Anbieter in ihrem näheren Umfeld, d.h. europäische Cloud-Dienste-Anbieter.

Bestimmte Sektoren (Gesundheitssektor, Militär, Verkehrswesen, öffentlicher Sektor) unterliegen nationalen oder auch europäischen Vorschriften und Beschränkungen und werden deshalb nationalen oder europäischen Cloud-Dienste-Anbietern den Vorzug geben. Andere Bereiche (bspw. Banken, Versicherungen, Energiewirtschaft, Pharma-Industrie), in denen die Datensicherheit kritische Bedeutung hat, werden bevorzugt auf nationale oder europäische Cloud-Dienste-Anbieter zurückgreifen.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Im weiteren Verlauf werden die Bezeichnungen „Europa“, „Europäische Union“ bzw. „EU“ gleichbedeutend nebeneinander verwendet.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Schutz personenbezogener Daten“, ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 123.

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Elektronische Kommunikationsnetze“, ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 50.

(4)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Überlegungen zum Umfang des Universaldienstes im Bereich der elektronischen Kommunikation“, ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 8.

(5)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Weiterentwicklung des Internets“, ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 92.

(6)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Kreative Online-Inhalte im Binnenmarkt“, ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 63.

(7)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 60 und ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 116.

(8)  Europäische Kommission / Generaldirektion Informationsgesellschaft und Medien – Bericht einer Expertengruppe – Berichterstatter: Lutz SCHUBERT (Bericht liegt nur in englischer Sprache vor).

(9)  Vom 16. Mai bis 31. August 2011.

(10)  RP7 (7. Rahmenprogramm).

(11)  European Network and Information Security Agency - Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit.

(12)  National Institute of Standards and Technology (USA).

(13)  Amazon Cloud Drive, iCloud von Apple.

(14)  ABl. C 159 vom 17.6.1991, S. 38 (CESE 569/1991).


28.1.2012   

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Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/48


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Entwicklung von Regionalgebieten für die Bewirtschaftung von Fischbeständen und die Kontrolle der Fischerei“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 24/09

Berichterstatter: Brendan BURNS

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Entwicklung von Regionalgebieten für die Bewirtschaftung von Fischbeständen und die Kontrolle der Fischerei“ (Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 6. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 147 gegen 6 Stimmen bei 15 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Absicht einer radikalen Reform der gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) und insbesondere deren angestrebte Dezentralisierung, damit sie weniger abhängig von Brüsseler Beschlüssen ist und der Einbeziehung lokaler und regionaler Akteure in die Bestandsbewirtschaftung mehr Raum lässt. Was fehlt und noch eingearbeitet werden muss, sind die essenziellen Details, Klarheit und eine Sanktionsregelung, ohne die eine solche Politik nicht wirkungsvoll funktionieren kann.

1.2   Ohne gesunde Fischbestände kann es keine nachhaltige Fischereiwirtschaft geben. Daher wird empfohlen, der ökologischen Nachhaltigkeit als Grundlage der wirtschaftlichen und sozialen Nachhaltigkeit Vorrang zu geben und sie ausdrücklich in die Grundverordnung aufzunehmen. Dazu wird die Politik einem wissenschaftlichen, ökosystembasierten Ansatz nach dem Vorsorgeprinzip folgen müssen.

1.3   Damit die Stärkung quotenbasierter Bewirtschaftungspläne auf der Grundlage der höchstmöglichen Dauerfangmenge (HDF) Wirkung zeigt, müssen höhere Werte festgelegt werden, die eine wirklich gedeihliche Entwicklung aller regulierten Arten erlauben; dies muss bis 2015 geschehen.

1.4   Bei dem vorgeschlagenen marktbasierten System handelbarer Fischereirechte, bei dem die Fangerlaubnis entsprechend der früheren Beteiligung an einer Fischerei erteilt wird, droht die Gefahr, dass diejenigen, die in der Vergangenheit für Überfischung verantwortlich waren, weitermachen können. Der Ausschuss empfiehlt daher, dass die Mitgliedstaaten Gebrauch von der Bestimmung machen, dass diejenigen, denen Fangrechte zugeteilt werden, nachweisen müssen, dass sie mit ihrer Tätigkeit nicht die Meeresumwelt schädigen und dass sie einen erheblichen Beitrag zu vom Fischfang lebenden Küstengemeinden leisten. Auf diese Weise unterliegt die implizite Privatisierung von Fischbeständen einer sozialen und Umweltkontrolle.

1.5   Der Ausschuss begrüßt das Teilverbot von Rückwürfen, regt jedoch an, dass es ausdrücklich an Verbesserungen bei selektiven Fangtechniken gekoppelt wird.

1.6   Weitere Subventionen sollten für die Fortentwicklung von Fischereiflotten verwendet werden, die in weniger umweltschädlicher Weise fischen (geringere Schädigung der Fischbestände und des Meeresbodens, weniger Rückwürfe etc.), und nicht zur Erhöhung der Fangkapazität.

1.7   Die Normen und Regeln für die Fangtätigkeit der EU-Flotten in ihren Heimatgewässern müssen auch gelten, wenn sie auf hoher See und in Drittlandsgewässern fischen - es darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden.

2.   Einleitung

2.1   Während der Erarbeitung dieser Stellungnahme wurden die Vorschläge der Kommission für die zweite Überarbeitung der gemeinsamen Fischereipolitik veröffentlicht. Darin wird eine umfassende, grundlegende Reform vorgeschlagen, um der gegenwärtigen Probleme Herr zu werden, wie Überfischung, Flottenüberkapazität, starke Subventionierung, geringe wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit und rückläufige Fänge europäischer Fischer. Diese Stellungnahme enthält daher Bemerkungen zur Entwicklung von Regionalgebieten für die Bewirtschaftung von Fischbeständen im weiteren Kontext der vorgeschlagenen Reform.

3.   Hintergrund

3.1   Laut EU-Vertrag und gemäß der geltenden GFP hat die Kommission das Initiativrecht und der Rat die ausschließliche Zuständigkeit für die Erhaltung der biologischen Meeresschätze. Diese im System angelegte Zentralisierung, genauer gesagt der gewählte Ansatz, die Zuständigkeiten im Rahmen der GFP „von oben nach unten“ auszuüben, hat keine praktikablen Lösungen für die zahlreichen unterschiedlichen Bedingungen und rechtlichen Hoheitsgebiete im Rahmen der GFP hervorgebracht. Dass man nicht einfach alles über einen Kamm scheren kann, ist eine häufig geäußerte Kritik an dem dabei entstandenen Regelwerk.

3.2   Die Notwendigkeit einer Mitwirkung der beteiligten Interessenträger wurde bei der ersten Reform 2002 anerkannt. Aus diesem Grund wurden die regionalen Beiräte eingerichtet, die lediglich Beratung anbieten.

3.3   Mit der Annahme des Vertrags von Lissabon sind erhebliche materiellrechtliche Änderungen eingetreten. Alle Angelegenheiten der Fischereipolitik fallen nunmehr in den Bereich der Mitentscheidung zwischen Parlament und Rat, mit Ausnahme der Festlegung der Fangmöglichkeiten, die weiterhin eine ausschließliche Zuständigkeit des Rates ist.

3.4   In dem Bemühen, jedem einzelnen Problem Rechnung zu tragen, haben die Kommission und der Rat hochkomplizierte Verordnungen erarbeitet, die sich aber für die in europäischen Gewässern existierenden Probleme als ineffizient erwiesen haben.

3.5   Nach Ansicht des Fischereisektors muten die in insgesamt 900 Rechtsvorschriften niedergelegten Bestimmungen - Spezifikationen für das Fanggerät, jeweils zulässige Artenzusammensetzung der Anlandungen und technische Bestimmungen - in ihrer Detailversessenheit geradezu grotesk an. Diese vielen kleinen Detailbestimmungen hemmen die Innovation, da sie keine Anreize für die Suche nach praktikablen Lösungen bieten. Das hat auch zu einem Vertrauensverlust im Verhältnis zwischen dem Fischereisektor und den für die GFP zuständigen politischen Gremien und Ausschüssen geführt. Mit dem unweigerlichen Ergebnis, dass die Vorschriften eher umgangen statt eingehalten werden.

3.6   Im Rahmen der gegenwärtigen GFP wurden Innovationen und Experimente durch den Fischereisektor nicht gefördert, einige gute Beispiele gehen allerdings auf die Initiative der Fischer zurück. In Schottland gibt es eine ganze Reihe von gelungenen Innovationen, zum Beispiel bei der Erhaltung der Kabeljaubestände in der Nordsee. Es gab hier umfangreiche Stilllegungen von Fischereifahrzeugen und Ad-hoc-Schließungen, intelligente Beschränkungen der Tage auf See, Bestimmungen über selektives Fanggerät und die Erprobung der Videoüberwachung durch CCTV-Systeme. Das hat zur Reduzierung der Rückwürfe, zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und zur besseren Erhaltung der Bestände beigetragen. Auch andere haben einen großen Beitrag geleistet, so z.B. die niederländische Baumkurrenflotte durch Ersetzung und Weiterentwicklung des Fanggeräts und Stilllegungen.

3.7   Gemeinsamer Eckpfeiler all dieser Initiativen ist, dass der Fischereisektor die Existenz von Problemen anerkennt (z.B. in Bezug auf die Reduzierung der Rückwürfe) und selbst den Hauptbeitrag zur Entwicklung und Umsetzung von Lösungen leisten muss. Es gibt weitere Beispiele für regionale Lösungen, die zeigen, dass Lösungsansätze auf regionaler Ebene bessere Ergebnisse bringen als unspezifische Vorschriften aus Brüssel.

3.8   All diese Versuche unterliegen jedoch demselben Handicap: im gegenwärtigen Rahmen der GFP gibt es keine Delegierung von Zuständigkeiten. Die Ergebnisse, die Innovation, Erprobung und Entwicklung letztlich hervorbringen, können nur dann in Rechtsvorschriften einfließen, wenn sie von der Kommission aufgegriffen werden.

3.9   Dass die Kommission tendenziell die Regulierung überaus fest in der Hand haben möchte, erklärt sich vielleicht aus ihrem starken Bestreben nach voller Erfüllung ihrer Pflichten. Das war insbesondere vor dem Vertrag von Lissabon der Fall und ist mittlerweile leider zu einem Selbstläufer geworden. Je zentralistischer, komplexer und unpassender die Rechtsvorschriften sind, desto größer ist der Vertrauensverlust bei den Interessenträgern und desto unwahrscheinlicher ist folglich ihre volle Einhaltung. Dies wiederum liefert die Rechtfertigung für eine striktere zentrale Regulierung, womit sich der Kreislauf fortsetzt.

4.   Allgemeine Bemerkungen

Aus den im Abschnitt 3 (Hintergrund) genannten Gründen leuchtet es ein, dass regionale Behörden für die Umsetzung der EU-Maßnahmen geschaffen werden müssen. Dies wiederum wirft mehrere Fragen auf.

4.1   Delegierung von Befugnissen

4.1.1   Regionalbehörden brauchen wissenschaftlich fundierte strategische Zielvorgaben aus Brüssel, damit sie einen tatsächlichen Nutzen erbringen können. Die EU in Brüssel sollte zudem:

für gleiche Wettbewerbsbedingungen für die einzelnen Regionen und Fischereien sorgen;

den Sektor beaufsichtigen, damit die von der EU festgelegten Fangquoten, Zielvorgaben und sonstigen Ziele eingehalten werden.

4.1.2   Angesichts der Vielfalt der geografischen und sonstigen Faktoren der einzelnen Fischereigebiete müssen den Mitgliedstaaten Instrumente für die Steuerung an die Hand gegeben werden. Dadurch kann sichergestellt werden, dass der Fischereisektor und Fachleute, die wissen und verstehen, was in einem bestimmten Fischereigebiet funktionieren oder nicht funktionieren wird, in die Erarbeitung der Bestimmungen und Rechtsvorschriften auf gemeinschaftlicher und regionaler Ebene voll einbezogen werden.

4.2   Fischereigebiete und Regionalbehörden

4.2.1   Aufgrund der großen Vielfalt von Gebieten, für die die kommenden Veränderungen gelten werden, können in dieser Stellungnahme keine anderen festen Ziele vorgeschlagen werden als die Einrichtung dieser Fischereigebiete durch repräsentative Gremien mit Vertretern der Mitgliedstaaten und der Interessenträger. Dabei geht es insbesondere um jene Gremien, die lediglich regionale Belange vertreten, jedoch nicht EU-weit tätig sind.

4.3   Rückwürfe

4.3.1   Die Frage der Rückwürfe, insbesondere während des Fangprozesses, ist zu einem wichtigen Problem geworden. Kommissionsmitglied Damanaki hat auf die Medienberichterstattung reagiert und ein Teilverbot von Rückwürfen im Zuge der GFP-Reform vorgeschlagen.

4.3.2   Ein auf Fehleinschätzungen basierender Ansatz für Rückwürfe könnte jedoch verheerende Folgen für die Fischer und den Fischereisektor haben.

4.3.3   Der Hauptgrund für mengenmäßig große Rückwürfe liegt in den geltenden Rechtsvorschriften für gemischte Fischereien, bei denen unweigerlich mehrere Arten zusammen gefangen werden. Die Steuerung durch „zulässige Gesamtfangmengen“ für die einzelnen Arten wird durch Bestimmungen für die Fangzusammensetzung überlagert, in denen der zulässige Anteil der einzelnen Arten am angelandeten Fang festgelegt ist, wodurch ein starres Regelwerk entstanden ist, das den großen Beständen und Anteilen bestimmter Fischarten im jeweiligen Ökosystem nicht Rechnung trägt.

4.3.4   Eines der Hauptziele der reformierten GFP sollte es sein, die Einführung besserer Arbeitsmethoden zu unterstützen, wie sie in Abschnitt 3 dieser Stellungnahme im einzelnen dargelegt werden, um so die Rückwürfe auf ein geringfügiges Maß zu reduzieren.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


ANHANG

zu der Stellungnahme des Ausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffern 1.2, 1.3, 1.4, 1.6 und 1.7

Die Ziffern 1.2, 1.3, 1.4, 1.6 und 1.7 ersatzlos streichen.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen

:

46

Nein-Stimmen

:

102

Enthaltungen

:

14


28.1.2012   

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Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/51


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle der Zivilgesellschaft im Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 24/10

Berichterstatterin: Madi SHARMA

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. September 2010 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Rolle der Zivilgesellschaft im Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 5. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 152 gegen 3 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien sowohl für Europa als auch für Indien nutzbringend sein könnte, da es Vorteile in Form von Entwicklungsfortschritten, mehr Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und Arbeitsplätzen bringen kann. Der Handel ist ein wichtiges Instrument zur Entwicklungsförderung und Armutsbekämpfung. Seine Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt müssen jedoch sorgfältig, transparent und umfassend im Interesse aller Seiten geprüft werden. In diesem Zusammenhang kommt der Zivilgesellschaft eine führende Rolle zu.

1.2   Bei den Verhandlungen über dieses Freihandelsabkommen, und dazu gehört auch die Ermittlung seiner möglichen Auswirkungen, traten mehrere Schwachstellen auf, die von beiden Seiten angegangen werden müssen, bevor das FHA abgeschlossen wird. Im Positionspapier der Kommissionsdienststellen heißt es, die Auswirkungen auf die informelle Beschäftigung hätten genauer untersucht werden müssen und zusätzliche Untersuchungen zu den Auswirkungen des Abkommens auf die Verlagerung von Arbeitsplätzen würden genauere Voraussagen zu weiteren gesellschaftlichen Folgen, beispielsweise auf die Armut, die Gesundheit und die Bildung, ermöglichen (1).

1.3   Der EWSA erinnert daran, dass gemäß Artikel 207 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union die gemeinsame Handelspolitik der EU „im Rahmen der Grundsätze und Ziele des auswärtigen Handelns der Union gestaltet“ werden muss und dass sie gemäß Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union unter anderem zur nachhaltigen Entwicklung, zur Armutsbeseitigung und zum Schutz der Menschenrechte beitragen muss. Der Handel an sich ist kein Selbstzweck.

1.4   Der EWSA empfiehlt die unverzügliche Durchführung neuer Studien, in denen ausdrücklich die tatsächlichen Auswirkungen des FHA auf die Zivilgesellschaften der EU und Indiens untersucht werden (insbesondere auf den GATS-Modus 4, die KMU, Arbeitnehmerrechte, Frauen, den Verbraucherschutz, die Schattenwirtschaft, Landwirtschaft, Armut und die Verfügbarkeit von wesentlichen Erzeugnissen, wie lebensrettenden Arzneimitteln). Im Interesse der Transparenz sollten diese Untersuchungen mit öffentlichen wissenschaftlichen Studien und Workshops mit der Zivilgesellschaft durchgeführt werden. Die Ergebnisse können dann im Rahmen der Verhandlungen, die sich jetzt in ihrer letzten Phase befinden, berücksichtigt werden.

1.5   Der EWSA fordert den Rat, das Parlament und die Kommission auf, vor dem Abschluss des Abkommens zu gewährleisten, dass:

die Ansichten und Anliegen der Zivilgesellschaft in der EU berücksichtigt werden,

die Auswirkungen auf die voraussichtlichen Modus-4-Szenarien überprüft und die Qualität und Quantität der Arbeit in jedem Sektor und jedem Mitgliedstaat nach einer umfassenden Beratung mit den Sozialpartnern gewährleistet werden,

sie ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachkommen, gemäß denen sie gewährleisten müssen, dass das FHA zwischen der EU und Indien die Armut nicht verstärkt,

und dass das Abkommen:

von einer wirksamen Menschenrechtsklausel im Einklang mit der bisherigen Praxis und erklärten Politik der EU bestimmt wird,

ein ehrgeiziges Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung beinhaltet, mit Arbeitsrechtsvorschriften und Umweltschutzbestimmungen, die mittels normaler Streitbeilegungsverfahren durchsetzbar sind und wirksame Rechtsmittel enthalten,

insbesondere einen auf den Rechten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) basierenden Rahmen für die in der Schattenwirtschaft Tätigen schafft, und

eine bilaterale soziale Schutzklausel enthält, die nicht nur die Risiken für die heimische Wirtschaft in der EU und in Indien, sondern auch die Gefahren für die Gesellschaft, wie die Verlagerung von Arbeitsplätzen, berücksichtigt.

1.5.1   Der EWSA empfiehlt die Einführung eines Beobachtungsmechanismus der Zivilgesellschaft, der die Befugnis hat, Empfehlungen auszusprechen, insbesondere hinsichtlich der Notwendigkeit, die soziale Schutzklausel zu aktivieren. Die betreffenden Behörden sollten verpflichtet sein, mit einer begründeten Stellungnahme darauf zu antworten. Im Kontext dieser Beobachtungsfunktion sollten Ausbildungs- und Kapazitätsaufbaumaßnahmen für die Zivilgesellschaft unterstützt werden.

1.6   Der Inhalt des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Indien wird bislang vertraulich behandelt, weswegen seine näheren Einzelheiten in dieser Stellungnahme nicht erörtert werden können.

2.   Einleitung

2.1   Ein Freihandelsabkommen (FHA) zwischen der EU und Indien würde über ein Fünftel der Weltbevölkerung betreffen, wäre also eines der bedeutendsten Freihandelsabkommen der Welt. Es birgt erhebliche Vorteile für die Gesellschaft beider Seiten, für die EU und für Indien.

2.2   Beide stehen vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen: die EU mit ihrer alternden Bevölkerung und ihren gesättigten Märkten und Indien mit seiner riesigen Bevölkerung und der zunehmenden Verstädterung. Eine Liberalisierung und die weitere Öffnung beider Märkte können unter Berücksichtigung der ungleichen Entwicklung beider Regionen Vorteile für die Bürger beider Seiten bringen.

2.3   Unternehmensverbände der EU und Indiens räumen ein, dass es Verlagerungen geben könnte. Doch könnte der Handel zwischen Indien und der EU durch die weitere Öffnung beider Märkte und durch die Entwicklung von Qualifikationen, Schulungsprogramme, den gegenseitigen Transfer von Wissen, die Entwicklung von Infrastruktur, Bestimmungen betreffend die Lieferkette und durch Gemeinschaftsunternehmen langfristig ein nachhaltiges Wachstum bewirken, die Wettbewerbsfähigkeit steigern und mehr Arbeitsplätze schaffen. Das European Business and Technology Centre (EBTC), das gegründet wurde, um Unternehmen beim Markteintritt in Indien mit praktischen Lösungen zu unterstützen, wird bei der Bewältigung einiger dieser Herausforderungen eine führende Rolle spielen.

2.4   Die Förderung von Innovation durch ein Freihandelsabkommen kann die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in der Zukunft sichern. In einer Reihe von Sektoren kooperieren europäische und indische Unternehmen verstärkt bei technischen Entwicklungen. Indien verfügt über billige, hochqualifizierte Fachkräfte mit einem erheblichen Potenzial im Bereich Forschung und Entwicklung. Beide Seiten benötigen jedoch ein Umfeld, das zu einer nachhaltigen Investition in Innovation ermutigt. Die Erfahrung und das Fachwissen europäischer Unternehmen in Indien und indischer Unternehmen in der EU können ein wichtiger Beitrag bei der Erfüllung dieser Anforderungen sein.

2.5   Das FHA hat bedeutsame Auswirkungen für ausländische Investitionen. Seit 1991 hat Indien seine Regelungen für ausländische Direktinvestitionen liberalisiert und vereinfacht. Das Ziel war, mehr Kapital anzulocken, was den Zufluss ausländischer Direktinvestitionen gesteigert hat. Das FHA würde auf dieser Grundlage aufbauen, indem es Unternehmen der EU einen Marktzugang sowie Rechtssicherheit bietet (2). Die aufgrund der Öffnung für ausländische Direktinvestitionen im Rahmen des neuen FHA in Indien zu erwartenden Folgen müssen sorgfältig bewertet werden. Deshalb muss eine solche Öffnung schrittweise vonstatten gehen.

2.6   In der vorliegenden Stellungnahme wird nicht der mögliche wirtschaftliche Nutzen des FHA untersucht. Vielmehr soll den Bedenken hinsichtlich der ungewissen gesellschaftlichen und umweltspezifischen Auswirkungen für die EU, insbesondere im Hinblick auf den Modus 4, und für die ärmeren Teile der indischen Gesellschaft Ausdruck verliehen werden. Diese Auswirkungen sind ein wichtiger Teil der Sorgfaltspflicht und der Markenschutzinteressen von EU-Unternehmen. Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen (SVU) und der Arbeits- und Menschenrechte gelten für europäische Unternehmen, die Überseehandel betreiben, über die Grenzen Europas hinaus.

3.   Der Verhandlungsprozess

3.1   Die Verhandlungsführer haben sowohl Großunternehmen in der EU als auch in Indien zu Rate gezogen. Der EWSA als beratende Einrichtung für alle Bereiche der Zivilgesellschaft ist jedoch besorgt darüber, dass die Verhandlungsführer nicht mit allen gesellschaftlichen Interessengruppen gleichberechtigt Beratungen führen, und fordert die Europäische Kommission dringend auf, die Standpunkte aller Interessengruppen beider Seiten in vollem Umfang zu berücksichtigen. Er fordert die Kommission auf, Gespräche mit den KMU über die möglichen Folgen, mit den Arbeitnehmerverbänden über Unklarheiten im Zusammenhang mit Beschäftigungssicherung und Modus 4, mit Verbraucherverbänden und Vertretern aus der Landwirtschaft über die Lebensmittel- und Ernährungssicherheit sowie mit Personen aus der Schattenwirtschaft Indiens zu führen.

3.2   Viele NRO und Gewerkschaften in der EU und in Indien sowie EU-Stiftungen und indische informelle Unternehmen haben ihre Bedenken (3) sowohl hinsichtlich der möglichen negativen Folgen des FHA als auch in Bezug auf die Art und Weise der Verhandlungsführung zum Ausdruck gebracht. Der EWSA erkennt zwar die Wichtigkeit der Vertraulichkeit von Handelsverhandlungen an, fordert die Europäische Kommission jedoch aus dem ebenso zwingenden Grund der Transparenz dringend auf, jegliche Missverständnisse auszuräumen, und zwar durch Mitteilung ihrer Vorschläge zu diesen Fragen.

3.3   Der EWSA ist der Auffassung, dass der Handel nicht aus dem Zuständigkeitsbereich des EAD gestrichen werden kann. Eine kohärente EU-Politik ist grundlegend für die Wahrung der europäischen Werte und Grundsätze. Der EWSA schlägt vor, alle zuständigen Generaldirektionen über den gesamten Verlauf der Verhandlungen hinweg stets auf dem Laufenden zu halten.

4.   Nachhaltigkeitsprüfung

4.1   Die Europäische Kommission hat eine Nachhaltigkeitsprüfung (Sustainability Impact Assessment, SIA) durch unabhängige Gutachter in Auftrag gegeben, die ihren Bericht 2009 vorlegten (4). Ihrer Einschätzung nach wären die sozialen Auswirkungen des FHA in der EU vernachlässigbar. Es würde keine Auswirkungen auf die Löhne haben und nur in geringem Umfang zu Arbeitsplatzverlagerungen führen (5), während sich für Indien ein kurzfristiger Anstieg der Löhne von Facharbeitern und ungelernten Arbeitskräften um 1,7 % und ein langfristiger Anstieg von 1,6 % sowie einige Arbeitsplatzverlagerungen hin zu besser bezahlten Arbeitsplätzen ergeben würde (6).

4.2   Die Europäische Kommission stützt sich stark auf diese Nachhaltigkeitsprüfung, wenn sie den Gesamtnutzen des FHA betont (7). Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass dieselbe Nachhaltigkeitsprüfung auch vor den möglichen Risiken für Gesellschaft und Umwelt warnt.

4.3   Europäische Gewerkschaften äußern ihre Bedenken bezüglich der Arbeitnehmerrechte in der EU und fordern eine Folgenabschätzung der voraussichtlichen Modus-4-Szenarien, bevor die Verhandlungen abgeschlossen sind. In dieser Folgenabschätzung sollten die Auswirkungen auf die Qualität und Quantität der Arbeit für jeden Sektor und jeden Mitgliedstaat aufgeführt werden. Zudem sollten darin eine umfassende Beratung mit den Sozialpartnern, die jeweils vor und nach der Einführung eines FHA durchgeführt werden soll, sowie verbindliche Empfehlungen zur Vorbeugung und Minderung der erkannten negativen Folgen vorgesehen werden.

4.4   In der Nachhaltigkeitsprüfung werden die Auswirkungen des FHA auf die Arbeitsnormen und Arbeitsbedingungen in Indien als „ungewiss“ beschrieben. Laut amtlichen staatlichen Statistiken ist die indische Wirtschaft zu rund 90 % eine informelle (oder unorganisierte) Wirtschaft, eine Zahl, die in der nahen Zukunft weitgehend gleich bleiben wird (8). Laut Zahlen von ILO/ WTO müssen die Menschen im informellen Sektor mit weniger als 2 Dollar pro Tag auskommen (9). Die Mehrzahl der erwerbstätigen Frauen (über 95 %) sind dem informellen Sektor zuzurechnen und sind unverhältnismäßig gefährdet.

4.5   In der Nachhaltigkeitsprüfung werden mögliche Auswirkungen auf die Umwelt herausgestellt; so wird festgestellt, dass geringe negative Auswirkungen auf die Atmosphäre (10), die Bodenqualität (11), die Artenvielfalt (12) und die Wasserqualität (13) wahrscheinlich sind. Der EWSA ist der Meinung, dass den direkten Warnungen aus der Nachhaltigkeitsprüfung Beachtung geschenkt werden muss.

4.6   Die in der Nachhaltigkeitsprüfung angewandte Methodik für die Erfassung der tatsächlichen Auswirkungen ist unzureichend. Ihr Hauptaugenmerk war auf die formelle Wirtschaft gerichtet, für die eine ökonomische Modellbildung vergleichsweise einfach ist (14). Hingegen basiert die Analyse der Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt auf einer weniger transparenten qualitativen Methodik. Die Nachhaltigkeitsprüfung enthält auch keine angemessene Analyse der Auswirkungen auf die Kohlenstoffemissionen, den Verbraucherschutz oder die Ernährungssicherheit.

4.7   Gemäß dem Positionspapier der Kommissionsdienststellen hätten die Auswirkungen des FHA auf die menschenwürdige Arbeit, die informelle Beschäftigung und die Verlagerung von Arbeitsplätzen genauer untersucht werden sollen. Dies würde genauere Voraussagen zu weiteren gesellschaftlichen Folgen, beispielsweise auf die Armut, die Gesundheit und die Bildung, ermöglichen (15).

4.8   Überraschenderweise werden in der Nachhaltigkeitsprüfung weder die vielen anderen Studien thematisiert, in denen auf die möglichen gravierenden Folgen des FHA in Indien hingewiesen wurde (16), noch die Bedenken der EU, insbesondere gegen den Modus 4 zur Beschäftigung in der EU.

4.9   Der EWSA hat kürzlich eine Stellungnahme zu Nachhaltigkeitsprüfungen verabschiedet, in der Leitlinien für eine gute Methodik aufgestellt wurden, die bei der umfassenden Bewertung der Auswirkungen eines FHA zugrunde zu legen ist (17).

4.10   Der EWSA empfiehlt die Durchführung neuer Studien, die auf diesen Leitlinien beruhen und in denen ausdrücklich die Auswirkungen des FHA auf die Gesellschaften der EU und Indiens (insbesondere auch auf die Arbeitnehmerrechte, den Modus 4, Frauen, den Verbraucherschutz, KMU, die Schattenwirtschaft, Umwelt, Landwirtschaft (einschließlich Ernährungssicherheit) Klimawandel und Armut) berücksichtigt werden. Diese neuen Untersuchungen sollten mit unabhängigen öffentlichen wissenschaftlichen Studien und Workshops durchgeführt werden.

4.11   Dies soll keinesfalls bedeuten, dass das FHA zwangsläufig negative Auswirkungen haben wird. Doch dem ersten Anschein nach besteht die Wahrscheinlichkeit, dass das FHA diese Auswirkungen haben könnte. Dies allein reicht aus, um eine weitere Prüfung durch die Europäische Kommission zu rechtfertigen, insbesondere weil die EU, wie nachstehend erörtert, rechtlich verpflichtet ist, die Auswirkungen ihres auswärtigen Handelns auf die EU selbst und auf Drittstaaten zu bewerten.

5.   Die Verantwortung der EU

5.1   Es ist die primäre Aufgabe einer Regierung, bei Verhandlungen zur Handelsliberalisierung den Auswirkungen ihrer Politik auf Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung zu tragen. Zweifellos ist in erster Linie Indien für die Auswirkungen seiner Politik auf seine Bevölkerung verantwortlich. Der EWSA ist sich der Herausforderungen bewusst, denen sich die Europäische Kommission im Umgang mit Indien gegenübersieht, einem Land, das sich zu Recht auf seine eigene Weise mit Menschenrechten, Arbeitsnormen, nachhaltiger Entwicklung und seiner Zivilgesellschaft befasst. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die EU in dieser Hinsicht keine Eigenverantwortung hat. Hier ist in der Tat eine rechtliche Verantwortung gegeben.

5.1.1   Gemäß Artikel 207 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist die EU-Handels- und Entwicklungspolitik im Rahmen der Grundsätze und Ziele des auswärtigen Handelns der Union durchzuführen. Diese werden in Artikel 21 des Vertrags über die Europäische Union dargelegt und beinhalten folgende Grundsätze:

die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts

und folgende Ziele:

die nachhaltige Entwicklung in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in den Entwicklungsländern zu fördern mit dem vorrangigen Ziel, die Armut zu beseitigen.

5.2   Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, ihre rechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen und sicherzustellen, dass das FHA zwischen der EU und Indien die Menschenrechte achtet und die Bemühungen zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt und zur Beseitigung der Armut nicht untergräbt. Er unterstreicht die Notwendigkeit, einen auf den Rechten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) basierenden Rahmen für die in der Schattenwirtschaft Tätigen zu schaffen.

6.   Überwachung und Anpassung des FHA

6.1   Die EU muss sicherstellen, dass ihre Politik aller Voraussicht nach keine Verschlimmerung der Armut bewirken und einen Beitrag zur Armutsbeseitigung leisten wird. Dieser Verpflichtung kann entsprochen werden, indem dafür Sorge getragen wird, dass das FHA Klauseln enthält, gemäß denen die im FHA vorgesehene Handelsliberalisierung bei negativen Auswirkungen geändert werden kann, und indem ein wirksamer Beobachtungsmechanismus eingeführt wird, durch den solche Klauseln aktiviert werden können.

6.2   Menschenrechtsklausel

6.2.1   Die EU hat bereits in der Vergangenheit Bestimmungen in ihre bilateralen Abkommen aufgenommen, um zu gewährleisten, dass die Abkommen gesellschaftliche Zielsetzungen nicht unterminieren. Seit 1995 verfolgt die EU die Politik, eine Menschenrechtsklausel in jedes Handels- und Kooperationsabkommen mit Drittländern aufzunehmen (18). In letzter Zeit hat sich die Praxis entwickelt, neuere Abkommen den Menschenrechtsklauseln in bereits bestehenden Rahmenabkommen zu unterwerfen. Dies kann je nach Wortlaut der ursprünglichen Menschenrechtsklausel und dem der „Koppelungsklausel“ im späteren Abkommen rechtlich wirksam sein.

6.2.2   Es ist von grundlegender Bedeutung, dass das FHA einer wirksamen Menschenrechtsklausel unterliegt, wie auch immer dies erreicht wird. Das Kooperationsabkommen zwischen der EU und Indien von 1994 enthält eine solche Menschenrechtsklausel, allerdings in einer frühen Fassung. Die Funktion dieser Klausel ist es, wie der Europäische Gerichtshof bereits urteilte, die Aussetzung des Kooperationsabkommens zu ermöglichen (19). Sie ermöglicht jedoch nicht die Aussetzung anderer Abkommen, wie des FHA (20). Es ist von essenzieller Bedeutung, dass das FHA, sei es durch die Aufnahme einer neuen Menschenrechtsklausel oder durch eine sorgfältig ausgearbeitete „Koppelungsklausel“, die erklärte Politik der EU bezüglich der Menschenrechtsklauseln befolgt.

6.2.3   Der EWSA sieht es als grundlegend wichtig an, dass das FHA, sei es durch die Aufnahme einer neuen Menschenrechtsklausel oder durch eine sorgfältig ausgearbeitete „Koppelungsklausel“, die erklärte Politik der EU bezüglich der Menschenrechtsklauseln befolgt. Dies wurde auch vom Europäischen Parlament bekräftigt (21).

6.3   Bestimmungen für eine nachhaltige Entwicklung

6.3.1   Gleichermaßen ist es von Wichtigkeit, dass die bewährte Praxis der EU, Umwelt- und Arbeitsnormen in Freihandelsabkommen aufzunehmen, fortgeführt und verbessert wird. Sowohl das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Korea als auch das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen den CARIFORUM-Staaten und der EU enthalten Bestimmungen, gemäß denen die Parteien sicherstellen müssen, dass die zentralen Arbeitsnormen der ILO eingehalten werden (ein absoluter Standard) und das in ihren Ländern bestehende Niveau im Bereich Umwelt- und Arbeitsschutz (ein relativer Standard) nicht gesenkt wird, sowie andere damit zusammenhängende Bestimmungen.

6.3.2   Der EWSA begrüßt, dass sich Kommissar DE GUCHT zu dem Kapitel betreffend den Sozial- und Umweltbereich bekannt hat (22). Dennoch fordert er die Kommission auf, dafür Sorge zu tragen, dass diese Bestimmungen, anders als in den oben genannten Abkommen, mit denselben konsequenten Durchsetzungsmaßnahmen einhergehen, die auch für Verstöße gegen andere Teile des FHA oder beispielsweise für entsprechende Bestimmungen in US-amerikanischen FHA (23) gelten. Der EWSA appelliert auch an die Kommission, Anreize durch Kooperationsprogramme oder ähnliche Mechanismen zu schaffen, die durch ein System wirksamer Geldstrafen bei Verstoß gegen diese Bestimmungen untermauert werden, wie es das Europäische Parlament bereits empfohlen hatte (24).

6.3.3   Die Europäische Kommission muss durchsetzbare Arbeits- und Umweltschutzbestimmungen in das FHA zwischen der EU und Indien auf beiden Seiten aufnehmen, die anhand der normalen Streitbeilegungsverfahren durchsetzbar sind und Rechtsmittel enthalten, darunter die Aussetzung von Handelsverpflichtungen sowie Geldstrafen.

7.   Soziale Schutzklausel

7.1   Alle Freihandelsabkommen enthalten Schutzklauseln, die eine Aussetzung der Handelsliberalisierung erlauben, wenn ein Verstoß oder eine Störung der heimischen Wirtschaft vorliegt. Es wird erwartet, dass das FHA dahingehende Bestimmungen enthalten wird. Solche Bestimmungen müssen jedoch auf die in Frage stehenden Risiken zugeschnitten sein.

7.2   Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Aufnahme einer Schutzklausel zu gewährleisten, die nicht nur die Risiken für die heimische Wirtschaft in der EU und in Indien, sondern auch die Gefahren für die Gesellschaft, wie die Verlagerung von Arbeitsplätzen, berücksichtigt. Diese Klausel sollte sich an Artikel 25 Absatz 2 Buchstabe b) des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens zwischen den CARIFORUM-Staaten und der EU orientieren, wo es heißt, dass eine Schutzmaßnahme ergriffen werden kann, wenn eine Ware in das Gebiet der anderen Vertragspartei in derart erhöhten Mengen und unter solchen Bedingungen eingeführt wird, dass Störungen in einem Wirtschaftsbereich eintreten oder einzutreten drohen, .

8.   Beobachtungsmechanismus der Zivilgesellschaft

8.1   Sowohl die europäische als auch die indische Zivilgesellschaft sind beide sehr gut organisiert und proaktiv. Es wäre für beide Seiten vorteilhaft, einen Mechanismus einzuführen, der die Transparenz und die Konsultation verbessern und Ängste ausräumen würde, indem der Zivilgesellschaft ein direkter Zugang zu den Entscheidungsträgern gewährt würde.

8.2   Der EWSA empfiehlt die Einführung eines Beobachtungsmechanismus der Zivilgesellschaft, dem gemäß den Empfehlungen in der Nachhaltigkeitsprüfung Akteure aus Unternehmen, Gewerkschaften, NRO, dem akademischen Bereich u.a. angehören sollen. Der EWSA könnte Teil dieses Prozesses sein (25). Der Mechanismus könnte sich an das Muster des FHA EU-Korea oder des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens zwischen der EU und den CARIFORUM-Staaten anlehnen, in denen eine Reihe von Interessenvertretern aus der Zivilgesellschaft beteiligt wird, die geschult und mit finanziellen Mitteln ausgestattet sind, damit der Beobachtungsmechanismus gut funktionieren kann (26).

8.3   Sowohl in der Nachhaltigkeitsprüfung als auch im Positionspapier der Kommissionsdienststellen wird ein Beobachtungsmechanismus empfohlen (27).

8.3.1   Ein solcher Beobachtungsmechanismus sollte auch über eine konkrete Funktion hinsichtlich der sozialen Schutzklausel verfügen. Üblicherweise ist die wirksame Anwendung von Schutzklauseln abhängig vom Organisationsgrad des betroffenen Wirtschaftszweigs. Dies ist im Fall der Schattenwirtschaft offensichtlich viel schwieriger.

8.3.2   Der EWSA empfiehlt, dass der Beobachtungsmechanismus der Zivilgesellschaft mit der Befugnis ausgestattet wird, Empfehlungen auszusprechen, insbesondere hinsichtlich der Notwendigkeit, die soziale Schutzklausel zu aktivieren; die zuständigen Behörden sollten verpflichtet sein, mit einer begründeten Stellungnahme darauf zu antworten.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Positionspapier der Kommissionsdienststellen - Handelsbezogene Nachhaltigkeitsprüfung des Freihandelsabkommens EU-Indien (auf Englisch), 31. Mai 2010.

(2)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 150.

(3)  In Studien wird auf folgende Schwierigkeiten hingewiesen: Auswirkungen durch die TRIPS-Plus-Bestimmungen zu geistigen Eigentumsrechten, die Liberalisierung und Deregulierung von Finanzdienstleistungen, die Liberalisierung des Warenhandels und im Agrarsektor, den Markteintritt von großen Handelsketten, liberalisierte Investitions- und Auftragsvergabepraktiken sowie das Verbot von Exportbeschränkungen. Siehe z.B. S. Polaski et al., India’s Trade Policy Choices: Managing Diverse Challenges (Carnegie, 2009), S. Powell, EU India FTA: Initial Observations from a Development Perspective (Traidcraft, 2008), C. Wichterich, Trade Liberalisation, Gender Equality, Policy Space: The Case of the Contested EU-India FTA (WIDE, 2009), K. Singh, India-EU FTA: Should India Open Up Banking Sector? Special Report (Delhi, 2009), CEO/India FDI Watch, Trade Invaders: How Big Business is Driving the EU-India FTA Negotiations (2010).

(4)  ECORYS, CUTS, Centad, Handelsbezogene Nachhaltigkeitsprüfung des Freihandelsabkommens EU-Indien (auf Englisch) – TRADE07/C1/C01, 18.5.2009.

(5)  Ebd., S. 17-18. Die Verdrängung von Arbeitskräften wird auf 250-360 pro 100 000 geschätzt.

(6)  Ebd. Die Verdrängung von Arbeitskräften wird auf 1 830-2 650 pro 100 000 geschätzt.

(7)  Schreiben von Kommissionsmitglied Karel De Gucht an die MdEP vom 16.2.2011.

(8)  National Commission for Enterprises in the Unorganised Sector, The Challenge of Employment in India: An Informal Economy Perspective, Volume 1, Main Report (New Delhi, April 2009), S. 2.

(9)  Bacchetta et al., Globalization and Informal Jobs in Developing Countries (ILO/WTO: Genf, 2009).

(10)  Siehe Fußnote 4, S. 277 (FHA von 2009 – siehe Fußnote 4 für vollständiges Zitat).

(11)  Ebd., S. 278.

(12)  Ebd., S. 279.

(13)  Ebd., S. 280.

(14)  Ebd., S. 51.

(15)  Siehe Fußnote 1.

(16)  Siehe Fußnote 4.

(17)  EWSA, Stellungnahme zu „Nachhaltigkeitsprüfungen und EU-Handelspolitik“, 5.5.2011, ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 14.

(18)  Mitteilung der Kommission über die Berücksichtigung der Wahrung der Grundsätze der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte in den Abkommen zwischen der Gemeinschaft und Drittländern, KOM/95/216.

(19)  Rechtssache C-268/94, Portugal/Rat, Slg. 1996, I-6177, Randnr. 27.

(20)  L. Bartels, Human Rights Conditionality in the EU’s International FTAs (Oxford: OUP, 2005), 255. Anders ist es bei Abkommen, in denen die Klausel über „wesentliche Elemente“ von einer Nichtausführungsklausel begleitet wird, die „geeignete Maßnahmen“ vorsieht.

(21)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26.3.2009, Punkt 43, wo es heißt, dass das EP „betont, dass Menschenrechts- und Demokratieklauseln ein wesentliches Element des Freihandelsabkommens darstellen“. Siehe auch die allgemeine Haltung, die aus der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11.5.2011 hervorgeht, in der das Europäische Parlament „nachdrücklich die Praxis [unterstützt], wonach rechtsverbindliche Menschenrechtsklauseln einschließlich eines eindeutigen und präzisen Konsultationsmechanismus nach dem Muster von Artikel 96 des Abkommens von Cotonou Bestandteil aller internationalen Vereinbarungen der EU sein müssen“, sowie die Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Menschenrechts- und Demokratieklausel in Abkommen der EU (2005/2057(INI)).

(22)  Siehe Fußnote 7.

(23)  Z.B. Artikel 17 Absatz 2 Buchstabe b) des FHA USA-Jordanien.

(24)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 25.11.2010 zu Menschenrechten, Sozial- und Umweltnormen in internationalen Handelsabkommen, Punkt 2.

(25)  Siehe Fußnote 3, S. 275-280.

(26)  Siehe Fußnote 18.

(27)  Siehe Fußnote 4, S. 288; siehe Fußnote 1, Seite 2.


28.1.2012   

DE

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C 24/56


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die neue Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU und die Rolle der Zivilgesellschaft“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 24/11

Berichterstatter: Carmelo CEDRONE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. September 2010, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die neue Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU und die Rolle der Zivilgesellschaft“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 25. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 111 gegen 23 Stimmen bei 23 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Vorschläge

1.1   Die Strategie

1.1.1   Die Europäische Union muss angesichts der gegenwärtigen Umwälzungen und der Gelegenheit, die die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) und die Schaffung des Amtes des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik darstellt, ihre außenpolitische Strategie sowohl in Bezug auf die Politikbereiche als auch die Aktionsräume, die Schwerpunkte bilden sollen, neu definieren und aktualisieren. Dieses Ziel kann nur auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und durch umfassende Koordinierung erreicht werden.

1.1.2   Europa kommt für ein Drittel des weltweiten BIP auf. Gleichwohl ist die EU nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Die Rolle Europas wird verdeutlicht angesichts der Feststellung, dass die europäischen EU-Mitgliedstaaten als auf sich allein gestellte Nationalstaaten heute nicht mehr in der Lage sind, ihre Interessen zu verteidigen, ihre Werte auf der internationalen Bühne zur Geltung zu bringen oder grenzüberschreitende Herausforderungen wie Migration oder Terrorismus zu bewältigen. Deshalb könnte ein stärkeres gemeinsames Engagement der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Außenpolitik auch intergouvernementalen Tendenzen Einhalt gebieten und isolierte Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten - wie unlängst geschehen - verhindern. Solche Tendenzen könnten, sollten sie sich durchsetzen, nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den politischen Niedergang Europas einleiten und sogar die der EU zugrunde liegenden demokratischen Werte bedrohen.

1.2   Die Politikbereiche

1.2.1   Die EU muss zuallererst ihre Werte in der Außenpolitik bewahren, indem sie gemeinsame Maßnahmen und Aktionen definiert, um gemäß den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen den Frieden zu erhalten, Konflikten vorzubeugen, stabilisierende Aktionen durchzuführen und die internationale Sicherheit zu stärken. Ferner muss sie die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die Grund- und die Menschenrechte und die Grundsätze des internationalen Rechts einschließlich der Kernarbeitsnormen wahren und fördern und Menschen beistehen, die natürlichen oder durch menschliche Tätigkeit verursachten Katastrophen ausgesetzt sind. Wenn sich Europa jedoch außerhalb seiner Grenzen engagiert, geschieht dies nicht nur aus reinem Interesse für die Menschheit oder Nächstenliebe, sondern auch, weil dies in unserem Interesse liegt, wenn wir den Wohlstand in Europa erhalten wollen. Daher muss auch die Flüchtlingsproblematik angegangen und es müssen Perspektiven für die Bevölkerungen in ihren Ländern geschaffen werden.

1.2.2   Die EU muss in diesem Bereich innerhalb der Vereinten Nationen, der bei der Wahrung des Friedens in der Welt die Hauptverantwortung zufällt, eine Führungsrolle spielen. Deshalb ist im Bereich der Bewältigung ziviler und militärischer Krisen und insbesondere bei humanitären Hilfsaktionen eine enge Zusammenarbeit zwischen EU und Vereinten Nationen erforderlich.

1.2.3   Nach Auffassung des EWSA müssen außerdem die integrierten und gemeinsamen außenpolitischen Maßnahmen in folgenden Bereichen verstärkt werden: Energieversorgungssicherheit, Lebensmittelsicherheit, Klimawandel, Steuerung der Migrationsströme und Bekämpfung der organisierten Kriminalität, des illegalen Handels, der Produktpiraterie und der Korruption. Dieser Integrations- und Koordinierungsprozess sollte auch die Handelspolitik umfassen. Insgesamt ist dies ein erhebliches und vielfältiges Engagement, wofür eine Anpassung der im EU-Haushalt für die Außenpolitik vorgesehenen Mittel erforderlich ist.

1.3   Die geografischen Handlungsräume

1.3.1   Die EU muss alles, was außerhalb ihrer Grenzen geschieht, mit Interesse verfolgen und ihre Bündnisstrategie neu definieren. Noch ist sie aber nicht im Besitz aller notwendigen und geforderten Mittel und Instrumente, um als echter politischer Akteur auf der internationalen Bühne aufzutreten zu können. Gleichwohl liegt das größte Problem für die EU nicht im Mangel politischer Instrumente, sondern vielmehr in der Unfähigkeit, bei der Steuerung der verschiedenen Instrumente Kohärenz zu gewährleisten und den diesbezüglichen politischen Willen der Mitgliedstaaten sicherzustellen.

1.3.2   Deshalb muss die EU ihrem eigenen geografischen Raum und ihren Nachbarn noch mehr Aufmerksamkeit schenken als heute, ohne dabei jedoch - zumindest unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten - ihre Beziehungen zu den wichtigen Regionen der Welt wie Nordamerika, mit dem sie strategische Beziehungen unterhält, Südamerika und der Karibik, mit denen die EU eine biregionale strategische Partnerschaft eingegangen ist, China, Indien und Russland zu vernachlässigen. Zu diesem Zweck ist es unabdingbar, Synergien zwischen den bilateralen und den regionalen Beziehungen zu erzeugen.

1.3.3   In diesem Zusammenhang scheint es erforderlich, den Erweiterungsprozess durch Einbeziehung des Balkan - ein hochsensibler Raum in Europa - zu vollenden, die Verhandlungen mit der Türkei fortzuführen, eine wirksame Nachbarschaftspolitik zu führen und dabei das Augenmerk auf die Lage im Mittelmeerraum und in Nahost zu richten.

1.3.4   Diesbezüglich muss die Mittelmeerpolitik auf einer neuen Grundlage wiederbelebt und dazu mit neuen Institutionen, mit neuen Kooperationsorganen und mit angemessenen Mitteln und operativen Instrumenten ausgestattet werden. Die in diesen Ländern erhobenen Forderungen nach Demokratisierung und zivilem Fortschritt müssen Gehör finden und begleitet werden. Die EU trägt hohe Verantwortung dafür zu gewährleisten, dass ein rascher und sanfter Übergang zur Demokratie erfolgt und keine neuen, wie auch immer kaschierten Diktaturen entstehen, um nicht die Hoffnungen auf Freiheit, Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit der Bevölkerungen und der Jugend zu enttäuschen.

1.3.5   Es erscheint notwendig, mehr Haushaltsmittel der Union für die Zusammenarbeit mit diesen Ländern bereitzustellen, insbesondere für den Aufbau von Institutionen, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung, die Schaffung von Arbeitsplätzen und Investitionsmöglichkeiten in den jeweiligen Ländern.

1.3.6   In diesem Zusammenhang ist die Rolle des EWSA von grundlegender Bedeutung, um Aktionen und Maßnahmen von Menschen für Menschen zu realisieren und eine organische Beziehungen zu den echten und repräsentativen Organisationen der Zivilgesellschaft des Mittelmeerraums und der Nahost-Region zu knüpfen, von denen die gegenwärtigen Transformationsprozesse ausgehen. Der Dialog zwischen ihr und den jeweiligen Regierungen muss gefördert werden, um die demokratische Teilhabe zur Verteidigung der bürgerlichen Rechte und des Rechtstaats zu stärken.

1.3.7   Der andere Schwerpunkt für Maßnahmen der EU muss Afrika in seiner Gesamtheit sein. Die Sicherheit und Stabilität der EU hängt weitgehend von Entwicklung und Stärkung der Demokratie dieses Europa so nahen Kontinents ab. Wenn die EU die destabilisierenden Wogen massiver Zuwanderung überwinden will, die auf Wüstenbildung, Ernährungskrisen, Verarmung der Bevölkerung Afrikas, korrupte und verlogene Regime und auf fehlende Gerechtigkeit und Freiheit zurückzuführen sind, muss sie rasch und wirksam handeln und ein Abkommen mit diesem Kontinent schließen.

1.4   Die internationalen Organisationen

1.4.1   Der EU muss es gelingen, in diesem Bereich mit einer Stimme zu sprechen und schließlich über einen alleinigen Vertreter verfügen, um koordinierte und wirksame Maßnahmen in den internationalen Gremien zu fördern. Sie muss für deren tiefgreifende Umgestaltung eintreten, damit diese Gremien besser für die Bewältigung der neuen Erfordernisse und Bedürfnisse gewappnet sind.

1.4.2   Insbesondere sollten die in den grundlegenden ILO-Übereinkommen vorgesehenen Arbeitsrechte und die Rechte in Bezug auf Wirtschaft und Freihandel als gleichwertig behandelt werden. Auch im Rahmen der ILO sollte die EU mit einer Stimme sprechen.

1.4.3   Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU in diesem Bereich eine immer aktivere Rolle spielen muss, insbesondere im Zusammenhang mit der G-20 und den repräsentativsten Einrichtungen der Vereinten Nationen, allen voran der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, wo sie einheitliche Positionen vertreten sollte. In diesem Zusammenhang könnte die Reform des Wirtschafts- und Sozialrates der VN Fortschritte und zudem der Zivilgesellschaft bessere Artikulationsmöglichkeiten in diesem Gremium ermöglichen.

1.4.4   Die EU muss wirksame und dauerhafte politische Maßnahmen zum Schutz der Eurozone konzipieren und angemessene Instrumente schaffen, mit denen Spekulationsbewegungen auf internationaler Ebene bekämpft, Steuerparadiese zur Senkung des auf Wechselkursunterschieden beruhenden Wettbewerbs beseitigt, das Wirtschaftswachstum wieder angekurbelt und die Beschäftigung im Bereich menschenwürdiger Arbeit (decent work) belebt werden können. Die Änderung von Artikel 136 des Vertrags stellt einen ersten wichtigen Schritt dar, der vor allem der Europäischen Union zugute kommt: die zentrale Rolle der Kommission und die Mitwirkung des Europäischen Parlaments wurden sichergestellt, wodurch das demokratische Verfahren gefördert wird. Dasselbe ist auch für die Außenpolitik notwendig (Änderung von Artikel 24).

1.4.5   Die Teilnahme der Sozialpartner und der zivilgesellschaftlichen Organisationen ist eine der Voraussetzungen für die Wahrung und Förderung der Werte, die dem internationalen Zusammenleben zugrunde liegen. Die EU muss eine breite Konsultation des EWSA, der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner fördern, um die Mitwirkung an den künftigen Leitungsstrukturen der internationalen Organisationen zu erleichtern.

1.5   Die Sicherheitspolitik

1.5.1   Im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss die Europäische Verteidigungsagentur gestärkt und die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit so bald wie möglich angewendet werden, auch um nützliche Synergieeffekte und Einsparungen bei den nationalen Haushalten zu ermöglichen. Die eingesparten Ressourcen können dann für produktive Investitionen, zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und für den Abbau der öffentlichen Schulden eingesetzt werden.

1.5.2   Die sicherheits- und verteidigungspolitischen Mittel der EU müssten als echte Mittel für die regionale Sicherheit anerkannt und eingesetzt werden können.

1.5.3   In Sicherheitsfragen sollte die EU bevorzugt in ihrer Nachbarschaft im Rahmen von Maßnahmen zur Stabilisierung von Krisengebieten und friedenserhaltenden Maßnahmen tätig werden.

1.5.4   Diesbezüglich hofft der EWSA, dass die gemeinsamen Erfahrungen, wie es auch nach den Vereinbarungen von St. Malo von 1998 der Fall war, im Rahmen der Verteidigungsagentur aufgegriffen und in die gemeinsame Sicherheitspolitik übernommen werden.

1.6   Der EWSA

Der EWSA muss bei Festlegung und Durchführung der EU-Außenpolitik eine eigene Rolle spielen und einen Beitrag leisten können. Deshalb hält er es auch für sinnvoll, dass ihm die Maßnahmen zum auswärtigen Handeln der EU zur Stellungnahme vorgelegt werden, auch um die Transparenz und die Überwachung der Initiativen zu gewährleisten. Daher müssen alle bereits vom Ausschuss erarbeiteten Stellungnahmen, die Hinweise für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben, sowie auch diejenigen Stellungnahmen, die sich mit den möglicherweise auf die Außenpolitik auswirkenden Kooperationsinstrumenten befassen, zur Geltung gebracht werden (1). In dieser Hinsicht könnten sich die Aktivitäten des EWSA - als Bindeglied zwischen dem Handeln der Mitgliedstaaten und der EU und den von der Zivilgesellschaft geäußerten Bedürfnissen - als sehr wirkungsvoll erweisen.

1.6.1   Dies ist erforderlich, um die Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft und der öffentlichen Meinung an den Entscheidungsprozessen bei Themen der internationalen Politik, die sich unmittelbar auf die Wirtschaft und das Leben der Unionsbürger auswirken, zu ermöglichen.

1.6.2   Der EWSA kann auf internationaler Ebene die Politik der Union zur Aufwertung der Rolle der Zivilgesellschaft in den Verhandlungen und bei der Umsetzung der unterzeichneten Verträge weiterverfolgen. Er ist der Auffassung, dass er aufgrund seiner reichen Erfahrungen und der bereits realisierten Initiativen einerseits mit seinen Partnerorganisationen bei der Weiterverfolgung der internationalen Verhandlungen der EU zusammenarbeiten sollte, und andererseits bei den Verfahren zur Anwendung und Umsetzung dieser Assoziierungs-, Handels- oder sonstiger Abkommen beteiligt werden muss.

1.6.3   Insbesondere wird der EWSA auch weiterhin im Rahmen der Konsultationsprozesse und der ihm erteilten Aufträge zur internationalen Partizipation als Brücke zwischen den zivilgesellschaftlichen Organisationen in der EU und in den Ländern und Regionen fungieren, auf die die Politik der EU in erster Linie auszurichten ist.

1.6.4   Deshalb ist es notwendig, dass der EWSA auch vom EAD in den verschieden Phasen konsultiert wird, damit der Ausschuss seinen Aufgaben im Interesse der Unionsbürger angemessen nachkommen kann. Zu diesem Zweck könnte ein Protokoll über die Zusammenarbeit zwischen dem EWSA und dem EAD – auf der Grundlage des bereits bestehenden Kooperationsabkommens zwischen der Kommission und dem EWSA - unterzeichnet werden, eine Vereinbarung, in der die Regeln und Modalitäten für eine gemeinsame strukturierte Arbeit festgelegt werden.

1.7   Die Instrumente und die Rolle der EU

1.7.1   Die Möglichkeiten des Vertrags müssen - angefangen beim EAD - ausgeschöpft werden, damit sich die EU auf internationaler Bühne noch besser etablieren und mit einer Stimme sprechen kann. Dies verleiht den Unionspolitiken und den zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geteilten Politikbereichen Kohärenz, und dadurch können spektakuläre Spaltungen vermieden werden, die dem Image der EU abträglich sind.

1.7.2   Instrumente wie die verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen der Außenpolitik sollten aufgewertet werden, um eine Gruppe von Ländern zu schaffen, die eine Vorreiterfunktion spielt bzw. als Motor für eine immer stärker integrierte Außenpolitik fungiert. Dadurch könnte ein stabileres und kohärentes institutionelles Gefüge geschaffen werden, um die gemeinsamen Ziele zu verfolgen. Es könnte damit begonnen werden, einen Pakt für die europäische Außenpolitik zu unterzeichnen, wie dies beim Euro der Fall war (Tagung des Europäischen Rates vom 24./25. März 2011).

1.7.3   Der EWSA ist deshalb der Auffassung, dass der Beschlussfassungsprozess der EU verbessert und effizienter werden muss, um insbesondere die Sichtbarkeit der EU auf der internationalen Bühne zu verbessern. Diesbezüglich hofft der EWSA, die EU möge die richtigen Modalitäten und Vorschläge finden, um ein gemeinsames außenpolitisches Handeln zu gewährleisten und diesbezüglich mit einer Stimme zu sprechen.

1.8   Die unmittelbaren Prioritäten

1.8.1   Alle Dienststellen der Kommission, die bei der Schaffung des EAD mitwirken, müssen sich nach Kräften gemeinsam dafür einsetzen, dass nicht einfach nur eine „neue Generaldirektion“ zu den bereits bestehenden hinzugefügt wird.

1.8.2   Auf der Grundlage der von der EU auf dem G20-Treffen unterbreiteten Vorschläge auf den Abschluss eines internationalen Übereinkommens mit dem Ziel drängen, ein sich Wiederholen der immer noch latenten Finanzspekulationen zu vermeiden.

1.8.3   Das Mittelmeer ins Zentrum unmittelbarer und konkreter Initiativen der EU rücken.

1.8.4   Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 16. September 2010 und vom 24./25. März 2011 über die strategische Partnerschaft der Union müssen konkret umgesetzt werden.

1.8.5   Ferner ist Artikel 11 des Vertrags von Lissabon gewissenhaft anzuwenden und alle Institutionen müssen dazu aufgefordert werden, die Verpflichtung zur Anhörung des EWSA einzuhalten und bei direkt oder indirekt zivilgesellschaftlich relevanten Themen einen engen Dialog mit der Zivilgesellschaft - in enger Verbindung mit dem Europäischen Parlament und den Parlamenten der Mitgliedstaaten - zu führen.

2.   Einleitung

2.1   Mit dem neuen Vertrag hat die EU die Möglichkeit, auf dem Gebiet der Außenpolitik einen Qualitätssprung zu erzielen, sofern die Mitgliedstaaten dies gestatten; die Rolle der EU als internationaler politischer Akteur könnte so gestärkt werden. Wenngleich der neue Vertrag noch nicht den objektiven Bedürfnissen der Union gerecht wird, hat er doch in den Mitgliedstaaten und weltweit viele Erwartungen geweckt. Nun geht es darum, die mit dem Vertrag eingeführten Neuerungen konkret umzusetzen und den Erwartungen der internationalen Gemeinschaft gerecht zu werden, wenn die EU nicht ihre Glaubwürdigkeit verlieren möchte. Dieses Ziel kann nur mit der aktiven Beteiligung und der umfassenden Teilhabe der Zivilgesellschaft erreicht werden. Der EWSA ist aufgrund Artikel 11 des Vertrags von Lissabon umfassend dazu legitimiert, als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft einen Beitrag zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union zu leisten, und er muss deshalb seitens der EU und des EAD unmittelbar beteiligt werden.

3.   Der neue internationale Rahmen

3.1   Die EU hat in der Vergangenheit auf dem Gebiet der Außenpolitik nur am Rande eine Rolle gespielt. Heute bieten sich ihr mehr Möglichkeiten, die sie ergreifen muss, wenn sie ihren Niedergang aufhalten möchte. Denn die einzelnen Mitgliedstaaten verlieren auf der sich rasch und ständig wandelnden neuen internationalen Bühne immer mehr an Gewicht. Deshalb ist mehr innereuropäische Solidarität und eine Kompetenzverlagerung von den einzelnen Ländern auf die gemeinsame Ebene der gesamten EU vonnöten, um den fast immer schädlichen Wettbewerb unter den Mitgliedstaaten zu vermeiden.

3.2   Die Europäische Union steht heute mehr denn je vor einer Vielzahl von globalen Herausforderungen, die größeren Zusammenhalt und ein gemeinsames Verständnis erfordern, damit immer komplexere Bedrohungen – die das geopolitische Gleichgewicht hin zu einer multipolaren Welt verschieben - gemeistert werden können. Im Nahen Osten – unter besonderer Berücksichtigung der immer noch offenen israelisch-palästinensischen Frage -, im Iran, in Afghanistan, im Irak, Sudan und an anderen Schauplätzen in der Welt bestehen nach wie vor ungelöste Konflikte oder Spannungen. In ganz Nordafrika gibt es Aufstände gegen autoritäre Regime, deren Ausgang noch ungewiss ist. Die Sicherheit der Staaten wird gefährdet durch globale Bedrohungen unterschiedlicher Art wie z.B. durch Intoleranz in Glaubensfragen oder neue Atomprogramme wie das des Irans.

3.3   Folgende weitere wichtige Faktoren führen bereits und/oder potenziell zu Instabilität und Aufständen: Ernährungssicherheit, Bevölkerungswachstum, wachsende soziale Unterschiede, Handelsungleichgewichte und nicht zuletzt der Kampf um seltene Erden und Metalle. Alle diese Probleme, die im Vorfeld angegangen werden müssten, stehen im Zusammenhang mit der Globalisierung, die den Ländern u.a. neue Möglichkeiten der Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit usw. bietet.

3.4   Die EU befindet sich in einer Notlage, in der Handeln zwingend geboten ist. Sie muss unverzüglich und ohne Aufschub tätig werden, und zwar wesentlich rascher, als dies z.B. beim Euro-Rettungsschirm, im Mittelmeerraum oder z.B. in Nahostder Fall war. Eine gemeinsame Außenpolitik ist ein wirksames Mittel gegen all diese Entwicklungen und ein hervorragendes Instrument zur besseren Verteidigung der Interessen der EU, der europäischen Unternehmen und der Unionsbürger. Die Mittelmeerkrise die Gelegenheit bieten, eine gemeinsame Außenpolitik der EU in die Wege zu leiten.

4.   Gründe und Ziele für eine Außenpolitik und die Lage der Union

4.1   Der Globalisierungsprozess und die Finanzkrise haben deutlich gemacht, dass neue Regeln für den Finanzmarkt und eine bessere globale Governance, als deren Fürsprecher die EU auftreten muss, notwendig sind. Deshalb müssen die Mitgliedstaaten eng miteinander verbunden handeln und in den internationalen Organisationen, in denen sie einzeln vertreten und mitunter in Bezug auf ihr internationales Gewicht überrepräsentiert sind, mit einer Stimme sprechen. Die Delegationen der EU müssen nach Artikel 34 des Vertrags in allen internationalen Gremien - angefangen beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (siehe Beschluss des Europäischen Rates vom 24./25. März 2011) - den Standpunkt der EU vertreten können.

4.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU, um einheitlich handeln zu können, ein gemeinsames strategisches Konzept haben muss. Angesichts der Herausforderungen und Chancen der Globalisierung muss sie ihre politischen Prioritäten und ihre geografischen Interessensschwerpunkte festlegen, schrittweise vorgehen und ihren Interventionsbereich nach Maßgabe ihrer Mittel und Handlungsmöglichkeiten sukzessive ausweiten. Dafür ist es unabdingbar, dass die EU eine Strategie für internationale Allianzen in einem multipolaren System bestimmt. Sie sollte dabei vom transatlantischen Bündnis ausgehen, das angesichts der seit Langem bestehenden engen Verbindungen mittels einer einheitlichen politischen Strategie konsolidiert werden sollte. Dadurch könnte die gegenwärtige Abkühlung der transatlantischen Beziehungen beendet werden. Dadurch wird die EU gezwungen, ihre Rolle mit Überzeugung und Glaubwürdigkeit zu spielen, um konkret eine multipolare Welt und ein gesundes Gleichgewicht zwischen Nord und Süd zu fördern und ein auswärtiges Handeln in Bezug auf Lateinamerika, Asien und insbesondere den afrikanischen Kontinent zu entwickeln.

4.3   Die EU muss ihre Entscheidungen bewusster treffen. So hat die mangelnde Aufmerksamkeit für die Belange der Zivilgesellschaft der südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers im Wesentlichen zum Scheitern zunächst des Barcelona-Prozesses und dann der Union für das Mittelmeer geführt, was die Sicherheit einer für die Stabilität der EU entscheidenden Grenze gefährdet. Die EU muss diese komplexe Problematik mit Verantwortungsbewusstsein angehen, sie als Chance sehen und die Forderungen der Zivilgesellschaft dieser Länder nach zivilem, wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt aufgreifen und die Durchsetzung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit fördern.

4.4   Diese Überlegungen gelten auch für das übrige Afrika. Die EU darf China, dem einzigen Land, das in Afrika expandiert, nicht die Initiative überlassen, darf ihre historische und geografische Verantwortung nicht vergessen und sollte ein gemeinsames Abkommen mit dem gesamten Kontinent unterzeichnen.

4.5   Die bislang funktionierende, aktivere und wirksamere „Außenpolitik“ der Union nahm im Zuge ihrer sukzessiven Erweiterung und Ausdehnung ihrer Grenzen Richtung Osten und Süden Gestalt an. Dieser Prozess muss noch im Rahmen der laufenden Verhandlungen mit den Balkanstaaten und der Türkei vollendet werden und kann nicht endlos verschoben werden. Er muss vielmehr mit offenem Visier und ohne beiderseitige Vorurteile und Ängste angegangen werden.

4.6   Es gilt, durch Partnerschaften mit anderen Ländern und Regionen im gegenseitigen Interesse zu handeln. Dabei sollte im Sinne einer ausgewogenen Entwicklung der Mensch im Zentrum des Interesses der gemeinsamen Aktionen stehen, ohne jedoch die strategischen Interessen der Union und der Unionsbürger aus den Augen zu verlieren. Die EU muss stets die Inhalte des europäischen Sozialmodells unterstützten und fördern, und die Grundrechte sowie die Arbeitsrechte müssen immer die Grundlage der Abkommen bilden.

4.7   Der EWSA ist der Auffassung, dass sich eine Reihe von Politikbereichen auf die Außenbeziehungen der EU auswirken. Aufgrund der starken Auswirkungen auch innerhalb der Union ist eine starke Rolle der Zivilgesellschaft unumgänglich. Genannt seien die Rechte, die Regeln für spekulative Finanzgeschäfte, die Währungspolitik (der Euro als Reservewährung und als Mittel der internationalen Wirtschaftspolitik), die Energiepolitik (die häufig erpresserisch eingesetzt wird), die Umweltpolitik, die Handelspolitik, Lebensmittelsicherheit, die Sicherheitspolitik, die Bekämpfung des Terrorismus, die Zuwanderung und die Korruption etc.

4.8   Deshalb wäre es wichtig, dass die Europäische Kommission unter Mithilfe des EWSA objektive, konkrete und wirksame Informationen über die von der EU durchgeführten außenpolitischen Maßnahmen, ihre Bedeutung und ihren Mehrwert im Vergleich zu einzelstaatlichen Maßnahmen übermittelt. Dies ist häufig nicht der Fall - bzw. erfolgt auf verzerrte Art und Weise durch die Mitgliedstaaten. Diesbezüglich ist auch die Beteiligung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente von großer Bedeutung.

4.9   Es besteht die Gefahr, dass sich die Unionsbürger allein gelassen fühlen und sich nach Nutzen und Rolle der EU fragen. Denn häufig haben die Politiker verschiedener Staaten kein Interesse daran, die in Brüssel geleistete Arbeit aufzuwerten. Sie sind häufig vielmehr mit kurzfristigen Strategien für das eigene politische Überleben befasst, anstatt sich für eine langfristige und weitreichende politische Strategie einzusetzen.

4.10   Die Europäische Union stellt jedoch nach wie vor ein ausgewogenes und nachhaltiges Entwicklungsmodell dar, das auf den Werten der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und des friedlichen Zusammenlebens basiert und das auf die Nachbarstaaten ausgedehnt werden sollte. Ihre „Soft Power“ und ihre „umgestaltende Diplomatie“ (transformational diplomacy) haben Stabilität für unseren Kontinent gebracht und Demokratie und Wohlstand mittels Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik auf viele Länder ausgedehnt.

4.11   Das kann aber nicht ausreichen. Der Europäische Rat hat am 16. September 2010 bekräftigt, dass die EU ein effizienter globaler Akteur sein muss, der auch mit bereit ist, Verantwortung für die globale Sicherheit zu übernehmen und eine Führungsrolle bei der Konzipierung gemeinsamer Antworten für die großen gemeinsamen Probleme zu spielen.

4.12   Die Union bleibt der wichtigste Geldgeber für hilfsbedürftige Länder, weshalb die Kooperationspolitik besser zur Geltung gebracht werden sollte. Die EU ist die größte Handelsmacht der Welt und sie vertritt die fortschrittlichsten umweltpolitischen Standpunkte, wie der Gipfel in Cancún unlängst gezeigt hat. Sie hat deshalb sowohl das Recht wie auch die Pflicht, bei der Festlegung neuer Regeln für die multilaterale Ordnung in vorderster Linie mitzuwirken und diese anzuleiten.

4.13   Die Vereinten Nationen stehen an der Spitze des internationalen Systems. Das multilaterale System muss zur Bewältigung sowohl der politischen als auch der wirtschaftlichen Herausforderungen reformiert werden. In allen internationalen Bereichen sind tiefgreifende Maßnahmen erforderlich, und es muss ein Beitrag dazu geleistet werden, dass Einrichtungen wie der IWF, die Weltbank und die WTO umfassend erneuert werden. Wie bereits seit Langem gefordert, muss die G-20 eine stärker institutionelle Rolle bekommen und darauf ausgerichtet werden, die wirtschaftlichen und finanziellen Transaktionen besser zu regeln, ohne dass dabei weitere Hierarchien geschaffen werden.

5.   Sicherheitspolitik

5.1   Die Union hat - unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaaten - eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickelt und Instrumente zur Krisenbewältigung geschaffen. Sie muss bei der Stabilisierung in den angrenzenden Ländern eine wichtige Rolle spielen. Die Union muss deshalb von allen Staaten die Bekräftigung und Achtung der Grundsätze einfordern, die dem friedlichen internationalen Zusammenleben zugrunde liegen - in dem Wissen, dass die Grundrechte nicht verhandelbar sind.

5.2   Die EU ist seit einiger Zeit direkt (oder über ihre Mitgliedstaaten) an verschiedenen militärischen und zivilen Missionen beteiligt. Es handelt sich dabei um ein globales Engagement, das mitunter eher symbolische Bedeutung hat. Die Instrumente der EU müssten ausgebaut, als echte Mittel zur Förderung der regionalen Sicherheit eingesetzt und als solche anerkannt werden. Die EU muss konkret mithilfe ihres außenpolitischen Instrumentariums wie EAD und Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Kommission eingreifen.

5.3   Die Union sollte in Fragen der Sicherheit vorrangig im sogenannten Nachbarschaftsbereich operieren: in Osteuropa, im Kaukasus, auf dem Balkan, im Mittelmeerraum und in Afrika. Dabei sollte eine Mischung von Maßnahmen zur Stabilisierung der Krisengebiete zum Einsatz kommen: Maßnahmen zur Friedenserhaltung, zum institutionellen Aufbau und zur wirtschaftlichen Entwicklung. In eben diesen Bereichen kann die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle zur Förderung einer friedlichen Entwicklung spielen. Der EWSA ist diesbezüglich bereits sehr aktiv und leistet hier wertvolle Arbeit.

5.4   Auch ein traditionell der staatlichen Souveränität vorbehaltener Bereich wie die Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird für die Zivilgesellschaft und die Öffentlichkeit Europas immer wichtiger, da die Entscheidungen in diesem Bereich strategische, haushaltspolitische und soziale Auswirkungen nach sich ziehen.

5.5   In dieser Perspektive muss die strategische Partnerschaft von EU und NATO im Sinne einer besseren Zusammenarbeit bei der Krisenbewältigung entwickelt und vertieft werden. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union ist nicht nur ein entscheidendes Element der GASP, sondern - wie in Lissabon am 20. September 2010 unter Beteiligung der institutionellen Spitzen von NATO und EU beschlossen - auch integraler Bestandteil des neuen strategischen Konzepts des transatlantischen Bündnisses.

6.   Die Rolle des EWSA

6.1   Ziel der Aktivitäten des EWSA im Bereich der Außenbeziehungen ist es, den Standpunkt der organisierten Zivilgesellschaft zur EU-Politik in den Bereichen Handel, Erweiterung, Entwicklung und Außenpolitik zum Ausdruck zu bringen.

6.2   Der EWSA begleitet die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und zahlreichen Ländern der Welt, insbesondere den Ländern und Regionen, mit denen die EU strukturierte Beziehungen unterhält und Beziehungen zu den Zivilgesellschaften dieser Länder und Regionen aufgenommen hat. Es wurden enge Beziehungen mit den Wirtschafts- und Sozialpartnern und anderen Organisationen der Zivilgesellschaft der Drittstaaten geknüpft, um Vorschläge, vor allem über wirtschaftliche und soziale Fragen vorzulegen und zur Stärkung der Zivilgesellschaft beizutragen. In diesem Kontext wurden gemeinsame, an die politischen Instanzen gerichtete Erklärungen angenommen.

6.3   Die Beziehungen zu den Partnerorganisationen des EWSA werden im Rahmen ständiger Ausschüsse gepflegt. So bestehen Gemischte Beratende Ausschüsse mit den Beitrittskandidaten (Türkei, Kroatien, ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien) und mit Staaten, mit denen Assoziierungsabkommen abgeschlossen wurden (Länder des Europäischen Wirtschaftsraums). Kontaktgruppen wurden eingerichtet für die Westbalkanländer, Russland, Japan und die östlichen Nachbarstaaten. Ferner bestehen Begleitausschüsse, die zusammen mit ihren Partnerorganisationen im Rahmen der Beziehungen mit Afrika, dem Karibik- und dem Pazifikraum, mit Lateinamerika, und im Rahmen der Mittelmeerunion tätig sind. Diskussionsforen der Zivilgesellschaft treten regelmäßig mit den WSR Brasiliens und Chinas zusammen.

6.4   Unter diesen spezifischen Politikbereichen hat der EWSA wichtige Aktivitäten in drei Bereichen durchgeführt:

In der Entwicklungspolitik arbeitet der EWSA regelmäßig mit der Kommission zusammen und bringt den Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zu den verschiedenen Vorschlägen der GD Entwicklung ein, sei es in Form von Stellungnahmen oder von gemeinsamen, zusammen mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen der AKP-Länder verfassten Empfehlungen.

Bei der Erweiterung der EU, mittels seiner zusammen mit den Beitrittskandidaten durchgeführten Arbeit, mit denen er Gemischte Beratende Ausschüsse eingesetzt hat. Diese Ausschüsse haben die Aufgabe, Know-how, Erfahrungen und Informationen bezüglich der Auswirkungen der Unionspolitiken und der effektiven Umsetzung des Besitzstands der Union weiterzureichen und als Mittler zwischen der EU und den sozioökonomischen Organisationen dieser Länder zu fungieren.

In der Handelspolitik möchte der EWSA als Sprachrohr der organisierten Zivilgesellschaft die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen internationaler Abkommen der EU überwachen. Dies kann mittels einer stärkeren Einbeziehung in die Aushandlung der internationalen Abkommen, die ausdrücklich die Präsenz und die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft vorsehen sollten, erfolgen.

6.5   Der EWSA wurde außerdem mit der Überwachung der Umsetzung der zwischen der EU und dem Forum der karibischen AKP-Staaten (Cariforum), zwischen der EU und Zentralamerika sowie zwischen der EU und Korea abgeschlossenen Handelsverträge beauftragt. Die Zunahme der Handelsverhandlungen dürfte zu einer erheblichen Steigerung dieser Rolle führen. Der EWSA ist auch an der Überwachung der Anwendung des Europäischen Instruments für Demokratie und Menschenrechte sowie des Instruments für die internationale Zusammenarbeit beteiligt, was im Wege besonderer Zusammenkünfte mit Kommissionsvertretern und eines Zusammenwirkens mit dem Europäischen Parlament geschieht, das in Bezug auf diese Instrumente über Kontrollbefugnis verfügt.

6.6   Der EWSA kann folglich einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Kohärenz der Unionspolitiken leisten, die immer stärkere Auswirkungen auf die internationale Politik haben und durch diese bedingt werden. Dabei sei auf die enge Verknüpfung zwischen Maßnahmen im Rahmen des Binnenmarkts und auf internationaler Ebene in den Bereichen Wirtschaft und Finanzen, Währung, Energie, Umwelt, Handel, Soziales, Landwirtschaft, Industrie usw. hingewiesen. Die Tätigkeit des EWSA könnte sich als besonders wirksam erweisen, da er die Maßnahmen der Mitgliedstaaten und der Organe der Union und die von der Zivilgesellschaft zum Ausdruck gebrachten Erfordernisse miteinander verbinden kann.

6.7   Nach Auffassung des EWSA müssen diese Ziele auch im Rahmen einer angemessenen Vertretung der Zivilgesellschaft und durch einschneidende Maßnahmen in den internationalen Organisationen, angefangen beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, der ILO und den Institutionen in den Bereichen Wirtschaft und Finanzen verfolgt werden. Diese bedürfen bereits seit Jahren einer tiefgreifenden Reform, um die raschen Veränderungen, die tagtäglich zu beobachten sind, widerzuspiegeln und um eine größere Transparenz der Entscheidungsprozesse zu gewährleisten, für die es häufig keine wirksamen Kontrollmechanismen gibt.

6.8   Der Vertrag von Lissabon bietet der gesamten EU die Möglichkeit, im Einklang mit der Zivilgesellschaft zu handeln - ein Modell, das auf internationaler Bühne propagiert und zur Geltung gebracht werden sollte. Der EWSA kann auf Grundlage von Artikel 11 des Vertrags bei der Verwirklichung der partizipativen Demokratie, auf der die Union beruht, im Bereich der Außenpolitik eine maßgebliche Rolle spielen. Der Ausschuss kann – auch in Bezug auf die Transparenz der Initiativen - als Garant einer „zivilen Diplomatie“ fungieren. Aus diesen Gründen und wegen seiner bislang im internationalen Bereich geleisteten Arbeit ist der EWSA der Ansicht, dass er, wie auch in anderen Politikbereichen, ein bevorzugter Ansprechpartner der Europäischen Kommission - über den neuen Europäischen Auswärtigen Dienst -, des Europäischen Parlaments und des Rates bei der Konzipierung und Überwachung der Außenpolitik sein muss. In diesem Sinne wird der EWSA dem EAD die Erarbeitung einer Vereinbarung zwischen den beiden Institutionen vorschlagen, die eine bessere Strukturierung der Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Außenpolitik der EU ermöglicht - sei es mittels Stellungnahmen oder durch andere Verfahren der regelmäßigen Konsultation.

6.9   Der EWSA ist schon seit vielen Jahren auf internationaler Ebene intensiv tätig. Er hat ein Netz von Beziehungen zu Partnerorganisationen in den verschiedenen Teilen der Welt aufgebaut und vertritt die Grundsätze der EU und die Belange der Zivilgesellschaft in Bezug auf Wirtschaft, Zusammenhalt, Partnerschaft, Bekämpfung der Diskriminierung und sozialer Ungleichheiten.

6.10   Der EWSA fordert eine größere Kohärenz der Maßnahmen der verschiedenen Generaldirektionen der Europäischen Kommission und der Arbeitsorgane der EU. Er ist ferner der Auffassung, dass die WTO die Arbeitsrechte und die Rechte in Bezug auf Wirtschaft und Freihandel einander gleichstellen sollte, indessen werden die ILO-Kernnormen in einigen Ländern nicht angewandt oder gänzlich ignoriert. Die Folgen solcher Entscheidungen haben die Gesellschaft, Unternehmen und Arbeitnehmer in Europa zu tragen. Deshalb sollte sich die EU nach Auffassung des EWSA zum Fürsprecher einer anspruchsvolleren und gerechteren Auffassung von Globalisierung machen, um zu verhindern, dass der Aufschwung ohne Beschäftigungswirkung („jobless recovery“) zu einer Konstante wird.

6.11   Nach Ansicht des EWSA muss die organisierte Zivilgesellschaft in Fragen der internationalen Politik mittels direkter Einbindung und regelmäßiger Anhörung durch den EAD aktiver beteiligt werden. Der EWSA möchte vermeiden, dass die Unionsbürger über die sie unmittelbar betreffenden Ereignisse nicht korrekt informiert werden.

6.12   In diesem Zusammenhang kann der EWSA diejenigen Fragen, die auf nationaler Ebene nicht gelöst werden können, auf europäischer Ebene debattieren: Migration, Energie, Nachbarschaft, Umwelt, demografischer Wandel, Korruption, soziale Fragen, Ernährung, Handel und Entwicklung usw. Der EWSA kann außerdem dafür sorgen, dass diese Debatten auch dann im Bewusstsein bleiben, wenn sie Gefahr laufen, durch andere dringende Ereignisse in der europäischen Agenda verdrängt zu werden.

6.13   Der EWSA kann den europäischen Institutionen auch die Erfahrung und die Fähigkeit zur Analyse spezifischer Politikbereiche der EU unter den neuen Gesichtspunkten der spezifischen Interessen der betroffenen Sektoren bieten: Förderung der Sozialwirtschaft in Drittstaaten, Interessen der Landwirte im internationalen Handel mit Nahrungsmitteln, die Rolle der Zivilgesellschaft in der Entwicklungspolitik, internationale Wasserbewirtschaftung, internationaler Handel mit Agrarerzeugnissen im Rahmen der WTO, KMU, sozialer Zusammenhalt, regionale Integration usw.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe zum Beispiel die Stellungnahmen zu „Die externe Dimension der erneuerten Lissabon-Strategie“ (ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 41-47); „Regionale Integration zur Förderung der Entwicklung in den AKP-Staaten“ (ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 126-131); „Nachhaltigkeitsprüfungen und EU-Handelspolitik“ (ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 14-18); „Finanzierungsinstrument für die Entwicklungszusammenarbeit der EU: die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialpartner“ (ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 123-128); und „Europäisches Instrument für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR)“ (ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 13-18).


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

475. Plenartagung am 26. und 27. Oktober 2011

28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/63


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB)“

KOM(2011) 121 endg. — 2011/0058 (CNS)

2012/C 24/12

Berichterstatter: Joachim WUERMELING

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 6. April 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 115 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB)

KOM(2011) 121 endg. — 2011/0058 (CNS).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 4. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 137 gegen 22 Stimmen bei 15 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt das Vorhaben einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) als einen großen und wichtigen Schritt im europäischen Binnenmarkt. Die Vollendung des Binnenmarktes erfordert eine weiter gehende Angleichung der Grundlagen der Unternehmensbesteuerung.

1.1.1   Der Richtlinienentwurf (RL-E) der Kommission ist gelungen, weil mit der GKKB geschaffen werden. Insgesamt ermöglichen die vorgeschlagenen Regeln, die Körperschaftsteuer entsprechend der wirtschaftlichen Leistung zu erheben, Verzerrungen zu vermeiden und Umgehungen vorzubeugen. Der RL-E bedarf allerdings im Detail noch weiterer Konkretisierung, aber auch einzelner Änderungen.

1.1.2   Die meisten in der EU wie Beschränkung der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung, komplizierte Berechnung von Verrechnungspreisen, Doppelbesteuerung und Ungleichbehandlung von Betriebsstätten und Unternehmenstöchtern im EU-Raum könnten mit einer GKKB verringert oder sogar beseitigt werden.

1.1.3   Der EWSA erwartet, dass der RL-E schon mittelfristig gesehen auf Seiten der Unternehmen zu einer erheblichen und auf Seiten der Mitgliedstaaten zu einer Senkung der administrativen Kosten führt.

1.1.4   Die GKKB führt zum . Unternehmerische Entscheidungen im Binnenmarkt hängen mit der GKKB nicht mehr von steuerlichen Erwägungen ab. Die GKKB fördert so den fairen und nachhaltigen Wettbewerb und wirkt sich positiv auf aus.

1.2   Der EWSA weiß um die , dass es mit der GKKB zu einer , zur Beschränkung von steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten, zu einem Rückgang der Steuereinnahmen oder zu anderen unbeabsichtigten Folgen kommt. Insbesondere besteht die Gefahr, dass die Europäische Union in einer sich rasch verändernden Weltwirtschaft mit einem harten Konkurrenzkampf mit der Anwendung eines GKKB-Systems für 27 Mitgliedstaaten nicht über die entsprechenden Strukturen verfügt, um schnell auf weltweite steuerliche Veränderungen bzw. Pakete mit Anreizen (etwa für Forschung und Entwicklung) zu reagieren, was zu einem Rückgang der ausländischen Direktinvestitionen führen könnte.

1.2.1   Der Sorge um eine beeinträchtigte Steuersouveränität und steuerliche Mindereinnahmen muss auch im Rahmen der GKKB angemessen Rechnung getragen werden. In einer Zeit, in der die öffentlichen Finanzen in der gesamten EU stark unter Druck stehen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Mitgliedstaaten nicht zu stark unter den negativen Folgen auf ihre Einnahmen leiden und dass sie die Auswirkungen auf die Finanzen ihrer Volkswirtschaften einschätzen können. Die des auf sie entfallenden Anteils an der Steuerbemessungsgrundlage. Allerdings können wirtschaftspolitische Maßnahmen im Steuerrecht für die GKKB nur noch auf europäischer Ebene ergriffen werden. Es gibt Befürchtungen, dass Europa dadurch weniger flexibel und wettbewerbsfähig wird, um ausländische Direktinvestitionen anzuziehen. Dies wird dann dazu führen, dass Investitionen statt in der EU in Staaten wie die Schweiz oder Singapur getätigt werden.

1.2.2   Ob und inwieweit die GKKB nachteilige mit Blick auf die Standortwahl von Unternehmen haben wird, kann schwer abgeschätzt werden, zumal für diese Entscheidung die Unternehmensbesteuerung nur einer von mehreren wichtigen Faktoren ist. Der , dazu eine .

1.2.3   Die Bemessungsgrundlage ist breiter angelegt als im derzeitigen Durchschnitt der Mitgliedstaaten. Das führt zunächst zu höheren Steuereinnahmen. Demgegenüber kann der grenzüberschreitende Verlustausgleich zu einer geringeren Steuerbelastung führen. Nach Auffassung des EWSA dürften sich die Verschiebungen im Durchschnitt der Jahre ausgleichen und lassen in einzelnen Mitgliedstaaten befürchten.

1.2.4   Aus der Sicht des EWSA sollte die werden. Deshalb unterstützt der EWSA die in der Richtlinie vorgesehene Möglichkeit, dass die Mitgliedstaaten die Steuersätze so anpassen, dass es weder zu einer höheren noch zu einer geringeren Steuerbelastung kommt.

1.2.5   Bei der derzeit geführten Debatte stehen naturgemäß steuerpolitische und steuersystematische Fragen im Vordergrund. Der EWSA legt dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten aber nahe, sich bei der Gesamtbeurteilung des Vorhabens auch von den leiten zu lassen, die eine GKKB mit der Schaffung freier und fairer steuerlicher Wettbewerbsbedingungen für alle Mitgliedstaaten bietet.

1.2.6   Die würden mit der GKKB . Nach Auffassung des EWSA würde die GKKB die Bedeutung nationaler Steuersätze für Standortentscheidungen der Unternehmen nicht beseitigen, weil auch nach Einführung der GKKB die Steuersätze zwischen den Mitgliedstaaten differieren werden. Im derzeitigen Steuerwettbewerb geht es im Wesentlichen um die Verlagerung von Gewinnen und Verlusten in Mitgliedstaaten, die vergleichsweise niedrig bzw. hoch besteuern. Mit der GKKB wäre der Steuerwettbewerb auf die Faktoren konzentriert, die in der Formel zur Aufteilung der Bemessungsgrundlage Berücksichtigung finden.

1.3   Die in verschiedenen Mitgliedstaaten („Konsolidierung“) wird vom EWSA als Kern der GKKB-Regelungen . Nur durch die Konsolidierung werden die bestehenden Verrechnungspreisprobleme beseitigt, EU-weit steuerneutrale Umstrukturierungen ermöglicht und Doppelbesteuerungen vermieden. Da die Konsolidierung den wesentlichen wirtschaftlichen Vorteil der GKKB ausmacht, sollte die gemeinsame Bemessungsgrundlage von Anfang an dieses Element beinhalten.

1.4   Mit Blick auf den Anwendungsbereich der GKKB hält der EWSA nicht länger an einer sofortigen obligatorischen Anwendung der GKKB fest, sondern erklärt sich auch in der Einführungsphase . Langfristig sollte die GKKB aber, zunächst bei Überschreiten einer bestimmten Schwelle, obligatorisch sein. Denn eine ständige optionale Anwendung der GKKB würde dauerhaft erhebliche administrative Lasten auf Seiten der Mitgliedstaaten verursachen, weil neben dem neuen System der GKKB weiterhin das bisherige nationale Körperschaftsteuersystem angewendet werden muss.

1.5   Der EWSA begrüßt, dass die GKKB nach dem Entwurf von und unabhängig davon genutzt werden kann, ob die Unternehmen grenzüberschreitend oder nur national tätig sind. bietet die Option der GKKB , weil die mit der grenzüberschreitenden Tätigkeit einhergehende Erhöhung von Befolgungskosten deutlich reduziert wird. Das gilt allerdings nicht für die vielen kleinen und mittleren Unternehmen, die als Personengesellschaften und Einzelunternehmen nicht der Körperschaftsteuer unterliegen.

1.6   Die Vermeidung der Doppelbesteuerung von außerhalb der EU erzielten Einkünften durch die grundsätzliche Anwendung der Freistellungsmethode ist zu begrüßen und fortzuentwickeln. Eine der EWSA für .

1.7   Mit Blick auf die einzelnen Regelungen besteht teilweise . Das ist zur Anwendung Regeln notwendig. Insbesondere fehlen Definitionen und es werden nicht hinreichend konkretisierte Rechtsbegriffe verwandt. Dies gefährdet die Einheitlichkeit der Anwendung.

1.8   Die für die Feststellung der Bemessungsgrundlage hält der EWSA für , um vor allem für die kleinen und mittleren Unternehmen die Steuerverfahren zu vereinfachen und eine einheitliche Anwendung der Regeln gegenüber dem Steuerpflichtigen sicherzustellen. Dies setzt jedoch eine verstärkte Verwaltungszusammenarbeit der Mitgliedstaaten voraus, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht besteht, insbesondere im Hinblick auf die automatische Informationsübermittlung bezüglich des Umfangs der Konsolidierung. Der EWSA stellt jedoch fest, dass es erheblichen Raum für Streitigkeiten zwischen den zuständigen nationalen Behörden der Mitgliedstaaten und der Hauptsteuerbehörde bei Ersuchen um Stellungnahme der zuständigen Behörde, bei Einkommensprüfungen und zu Fragen der Aufteilungsformel geben wird.

1.9   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Europäische Kommission die vorgeschlagene Aufteilungsregelung eingehender behandeln sollte. Der aktuelle Vorschlag, in dem der Faktor Zuordnung von Umsätzen nach dem Bestimmungsort und die Faktoren Vermögenswerte und Arbeit gleich gewichtet werden, könnte Mitgliedstaaten mit einem höheren Konsum allein aufgrund ihrer Größe Vorteile verschaffen. Dadurch, dass die Formel nahezu keine Aspekte des geistigen Eigentums berücksichtigt, enthält das System zudem eine überholte Vorstellung einer modernen europäischen Wirtschaft, die die Entwicklung einer intelligenten Wirtschaft nicht anregt oder unterstützt.

1.10   Vorhaben von zwei oder mehr Mitgliedstaaten, die Grundlagen für die Körperschaftsteuerbemessung in zwischenstaatlicher Kooperation anzugleichen, fördern nach Ansicht des EWSA die steuerrechtliche Konvergenz. Allerdings müssen solche Initiativen so angelegt sein, dass sie weder neue Hürden für die europäische Harmonisierung aufrichten, noch sollten sie versuchen, Vorfestlegungen für das EU-weite Projekt zu treffen.

2.   Inhalt des Vorschlags und Hintergrund

2.1   Die Kommission hat am 16. März 2011 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) verabschiedet (KOM(2011)121/4; IP/11/319). Bislang müssen Unternehmen die Bemessungsgrundlage nach den Vorschriften von bis zu 27 unterschiedlichen nationalen Systemen berechnen. Dies führt zu erheblichen administrativen Aufwendungen, vor allem für kleine und mittlere Unternehmen, und zu Verzerrungen des Wettbewerbs im Binnenmarkt.

2.2   Mit der GKKB sollen innerhalb der EU beseitigt oder zumindest verringert werden, die der Vollendung des Binnenmarktes entgegenstehen:

Die administrativen Kosten für die Ermittlung der Steuern („steuerliche Befolgungskosten“) werden maßgeblich verringert.

Die komplizierte Frage der Gestaltung von Verrechnungspreisen innerhalb eines Unternehmens wird obsolet, weil die steuerliche Behandlung überall dieselbe ist.

Grenzüberschreitende Verluste können verrechnet werden.

Das Problem der Doppelbesteuerung wird europaweit einheitlich gelöst.

2.3   Nach Schätzungen der Kommission ermöglicht die GKKB den Unternehmen in der EU, jährlich Befolgungskosten in Höhe von 700 Mio. EUR, weitere 1,3 Mrd. EUR durch die Konsolidierung sowie bis zu 1 Mrd. EUR bei grenzüberschreitendem Tätigwerden einzusparen. Zudem soll die GKKB die EU für ausländische Investoren attraktiver machen.

2.4   Nach der Konstruktion der Richtlinie hängt es letztlich von den Entscheidungen der Mitgliedstaaten über die Höhe der Steuersätze ab, ob sich die Einführung einer GKKB negativ auf die Höhe der Steuereinnahmen auswirkt. Nach den Modellrechnungen der Europäischen Kommission sind über mehrere Jahre hinweg keine negativen Einnahmeeffekte zu erwarten, insbesondere weil die GKKB-Bemessungsgrundlage im Schnitt breiter angelegt ist als nach den nationalen Bestimmungen.

2.5   Im Falle eines grenzüberschreitenden Verlustausgleichs würde die allerdings tendenziell geschmälert. Eine Senkung der Befolgungskosten und eine höhere Attraktivität für Investoren aus Drittländern sollten dies zumindest teilweise ausgleichen.

2.6    sind die Regeln über den Anwendungsbereich der GKKB, über die Ermittlung der Steuergrundlagen, über die grenzüberschreitende Gewinnerrechnung („Konsolidierung“), über die Aufteilung des Steueraufkommens zwischen den Mitgliedstaaten und über einen einheitlichen Ansprechpartner für die Unternehmen.

2.7   Der ist auf in der EU körperschaftsteuerpflichtige juristische Personen beschränkt. Die GKKB findet damit keine Anwendung auf Personengesellschaften, natürliche Personen und Investmentfonds.

2.8   Die erfassten Körperschaften haben ein Wahlrecht zur Besteuerung nach der GKKB (Art. 6 RL-E), an das sie anfangs für fünf Jahre, danach für drei Jahre gebunden sind (Art. 105 RL-E).

2.9   Der RL-E enthält sämtliche Regelungen zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage. Er weist keine Bezugnahme auf ein bestimmtes Regelwerk der Rechnungslegung auf, auch wenn die Prinzipien der handelsrechtlichen IFRS in einzelnen Regelungen vorzufinden sind. Die Bestimmung des zu versteuernden Einkommens orientiert sich an einer Gewinn- und Verlustrechnung und entspricht der international üblichen Praxis.

2.10   Für die GKKB optierende („Konsolidierung“). Dies ist gegenwärtig nur bechränkt oder gar nicht möglich, was eine erhebliche steuerrechtliche Benachteiligung von Unternehmensteilen außerhalb des nationalen Standortes zur Folge hat.

2.11   Der persönliche umfasst grundsätzlich alle in der EU ansässigen Gruppengesellschaften sowie die in der EU gelegenen Betriebsstätten. Tochtergesellschaften werden einbezogen, wenn die Muttergesellschaft mehr als 50 % der Stimmrechte und mehr als 75 % einer Beteiligung hält. Zum sachlichen Geltungsbereich gehören alle von den Gruppenmitgliedern erzielten Einkünfte. Der territoriale Geltungsbereich ist auf die Europäische Union beschränkt.

2.12   Der nach den einheitlichen Regeln ermittelte Gewinn wird entsprechend des (anhand von Arbeit, Vermögen und Umsatz gemessenen) Ausmaßes der (wirtschaftlichen) Geschäftstätigkeit auf die jeweiligen Mitgliedstaaten der Unternehmenstätigkeit aufgeteilt. Die Aufteilung erfolgt durch eine auf drei Wertschöpfungsfaktoren (Arbeit, Umsatz, Vermögenswerte) beruhende Formel. Besonderheiten (z.B. im Finanzsektor für Finanzinstitute und Versicherungsunternehmen) wird durch Anpassung der Faktoren Rechnung getragen. In jedem Mitgliedstaat ergibt sich die konkrete Höhe der Steuer durch die Anwendung des nationalen Steuersatzes auf die zugewiesenen Gewinnanteile.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Der EWSA einer GKKB als eine bedeutende Maßnahme zur Überwindung steuerlicher Hindernisse im Binnenmarkt: Doppelbesteuerungen entfallen, die Ungleichbehandlung von Betriebsstätten im Binnenmarkt wird beseitigt, grenzüberschreitende Verluste können verrechnet werden und das Problem der Verrechnungspreise entfällt.

3.2   Der EWSA ist bereits früher für die Schaffung freier und fairer Wettbewerbsbedingungen zur Förderung grenzüberschreitender Aktivitäten auch im Bereich des Steuerrechts eingetreten (1). Der Ausschuss hat zum Thema „Schaffung einer gemeinsamen konsolidierten Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung in der EU“ zuletzt am 14. Februar 2006 ausführlich Stellung (2) genommen. Der .

3.3   Allerdings ist das von der Kommission vorgelegte Datenmaterial widersprüchlich. Einerseits wird in der Folgenabschätzung eine Deloitte-Studie herangezogen, in der dargelegt wird, dass die Aufwendungen für die Befolgung im besonderen Falle einer multinationalen Gruppe, die eine Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat einrichtet, um 60 % sinken könnten, andererseits enthält eine PWC-Studie zu einer Auswahl multinationaler Konzerne die Schätzung, dass die Befolgungskosten nur um 1 % zurückgehen würden. In einer weiteren Studie gehen Ernst and Young davon aus, die Befolgungskosten würden um 13 % steigen, weil die zusätzlichen Kosten für die Vorbereitung und Einreichung der Steuererstattungsanträge und für die betroffenen Steuerbehörden die erwarteten Kosteneinsparungen aufgrund geringerer Notwendigkeit einer Konzernverrechnung übersteigen würden. Die Verwaltungskosten für die Steuerbehörden werden steigen, weil diese neben dem nationalen System parallel das GKKB-System anwenden müssen.

3.4   Der RL-E führt für die Unternehmen zu einer und auf Seiten der Mitgliedstaaten zu einer Senkung der administrativen Kosten, wenn auch zunächst ein Umstellungsaufwand entsteht.

3.5   Dem . Derzeit werden unternehmerische Entscheidungen in der EU nicht allein nach wettbewerblichen Kriterien getroffen. Vielmehr sind oft Erwägungen zur „steuerlichen Optimierung“ maßgeblich: Zum Beispiel werden Forschungsinvestitionen dort getätigt, wo die Aufwendungen abgezogen werden können, oder risikoreiche Aktivitäten dort angesiedelt, wo Verluste steuermindernd geltend gemacht werden können. Es widerspricht dem Grundgedanken des Binnenmarktes, dass unternehmerische Entscheidungen verzerrt von steuerlichen Gesichtspunkten getroffen werden, und wirkt sich nachteilig auf das Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen aus.

3.6   Dabei verkennt der EWSA nicht die von vielen – insbesondere den nationalen Parlamenten von neun Mitgliedstaaten (3), die der Auffassung sind, dass mit dem Vorschlag gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen wird – vorgetragenen , dass es zu einer Einschränkung der nationalen Souveränität, zur Beschränkung von steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten, zu einem Rückgang der Steuereinnahmen oder zu anderen unbeabsichtigten Folgen kommt.

3.6.1   Richtig ist, dass die Mitgliedstaaten gegenüber den für die GKKB optierenden Unternehmen mit wirtschaftspolitischer Zielsetzung mehr ergreifen können, da die Bemessungsgrundlage europäisch festgelegt wird. Andererseits können solche Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und zur Schaffung von Arbeitsplätzen nun auf europäischer Ebene mit positiven Wirkungen für den gesamten Binnenmarkt ergriffen werden, ohne dass es zu unterschiedlichen Rahmenbedingungen für die einzelnen Unternehmen kommt.

3.6.2   Mittel- und langfristig kann es durch die GKKB zur kommen, die infolge von nationalen steuerlichen Anreizen an bestimmten Standorten angesiedelt worden sind. In der Tat soll die GKKB gerade solche Verzerrungen des Wettbewerbs durch steuerrechtliche Begünstigungen vermeiden. Dennoch sollte nach Auffassung des EWSA die Kommission diese Aspekte im Rahmen einer genauer untersuchen, damit die EU-Institutionen und andere Stakeholder solche Folgen besser einschätzen können.

3.7   Die der Mitgliedstaaten bei der GKKB bleibt gewahrt, denn die Mitgliedstaaten sind frei bei der Festlegung der Höhe der Besteuerung des auf sie entfallenden Anteils. Die Steuerbemessungsgrundlage, nicht die Steuersätze werden mit der GKKB harmonisiert. Die Mitgliedstaaten können nach wie vor entsprechend ihrer haushaltspolitischen Präferenzen die nationalen Steuersätze festlegen. Vorübergehend kann es aber zu Rückgängen des Aufkommens kommen, die durch eine Erhöhung des Steuersatzes nur für die Zukunft korrigiert werden können.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Der Kommission ist mit dem RL-E ein „großer Wurf“ gelungen, der aber bedarf. Insgesamt ermöglichen die vorgeschlagenen Regeln doch, die Körperschaftsteuer entsprechend der wirtschaftlichen Leistung zu erheben, Verzerrungen zu vermeiden und Umgehungen vorzubeugen.

4.2   Der EWSA begrüßt, dass die GKKB nach dem RL-E von und unabhängig davon genutzt werden kann, ob die Unternehmen grenzüberschreitend oder nur national tätig sind – auch wenn der RL-E vor allem auf grenzüberschreitend tätige Unternehmen bzw. Gruppen ausgerichtet ist. Sie wird aber auch kleinen und mittleren Unternehmen die grenzüberschreitende Ausweitung ihrer Aktivitäten erleichtern, weil sich aus der GKKB erhebliche Kostenvorteile gegenüber der Besteuerung nach mehreren nationalen Systemen ergeben. Für kleine und mittlere Unternehmen, die in der Form von Kapitalgesellschaften eingerichtet sind, bietet die Option der GKKB Vorteile. Dies gilt allerdings nicht für die vielen kleinen und mittleren Einzelunternehmen und Personengesellschaften, die nicht der Körperschaftsteuer unterliegen.

4.3   Aus diesem Gesichtspunkt heraus hält der Ausschuss nicht länger an einer sofortigen obligatorischen Anwendung der GKKB fest, sondern spricht sich für eine in der Einführungsphase aus. Langfristig sollte die GKKB, zunächst bei Überschreiten einer bestimmten Schwelle für grenzüberschreitend tätige Unternehmen, obligatorisch sein. Denn eine ständige optionale Anwendung der GKKB würde dauerhafte erhebliche administrative Lasten auf Seiten der Mitgliedstaaten verursachen, weil sie neben dem neuen System der GKKB weiterhin mit dem bisherigen Körperschaftsteuersystem operieren müssten.

4.4   Die Zusammenrechnung sämtlicher Gewinne und Verluste der einzubeziehenden Gruppenmitglieder () stellt den Kern der Beseitigung der steuerlichen Hindernisse im Binnenmarkt dar und . Nur durch die Konsolidierung werden folgende Vorteile sichergestellt: die grenzüberschreitende Verlustverrechnung, die Vermeidung der Verrechnungspreisprobleme, die Möglichkeit zur EU-weit steuerneutralen Unternehmensstruktur, die Vermeidung von Doppelbesteuerungen und die Gleichbehandlung von EU-Tochterkapitalgesellschaften und EU-Betriebsstätten. Der Konsolidierung ist daher uneingeschränkt zuzustimmen. Sie ist als „große“ Lösung gegenüber einer „kleinen“ Lösung einer gemeinsamen Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage ohne Konsolidierung vorzuziehen.

4.5   Mit der Definition des wird der Anwendungsbereich der GKKB sachgerecht festgelegt. Die anhand formaler Kriterien vorgenommene Bestimmung des persönlichen Geltungsbereichs hat den Vorteil, dass diese Kriterien leicht handhabbar, nachprüfbar und weniger anfällig für Gestaltungen sind. Aus Sicht der Unternehmen sind die Kriterien dabei praktikabel und rechtssicher. Dies gilt für die Regelungen zu Ein- und Austritt in die bzw. aus der Gruppe nur eingeschränkt. Die weite Definition des sachlichen Geltungsbereichs, wonach alle erzielten Einkünfte einzubeziehen sind, ist zur Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten vernünftig. Auch der territoriale Geltungsbereich der Europäischen Union ist angemessen. Eine weitergehende Einbeziehung der global erzielten Einkünfte würde mangels weltweiter Gewinnermittlungsvorschriften sehr aufwändige Überleitungsrechnungen erforderlich machen.

4.6   Die auf die Mitgliedstaaten anhand der Wertschöpfungsfaktoren Arbeit, Vermögenswerte und Umsatz hält der EWSA wegen des konkreten wirtschaftlichen Bezugs für sinnvoller als eine Berechnung aufgrund makroökonomischer Kennzahlen.

4.6.1   Die . Die Möglichkeit von Steuerpflichtigen, Faktoren einem Mitgliedstaat mit einem möglichst niedrigen Steuersatz zuzuordnen, ist durch das Abstellen auf mehrere Faktoren erheblich eingeschränkt. Die Anwendung alternativer Aufteilungsmethoden bedarf eindeutiger Abgrenzungsregeln und der besonderen Rechtfertigung. Erforderlich sind diese etwa für den Finanzsektor (Banken und Versicherungsunternehmen) auf Grund der spezifischen Geschäftsmodelle.

4.6.2   Allerdings besteht die , dass einzelne Mitgliedstaaten die Formel und so die Summe aller zugewiesenen Anteile größer oder kleiner als das tatsächliche aufzuteilende Gesamteinkommen wird. So käme es zu einer Mehrfachbesteuerung oder Minderbesteuerung des aufzuteilenden Gesamteinkommens. Dem muss die EU-Kommission durch den zeitnahen Erlass von Durchführungsrechtsakten begegnen.

4.6.3   Was die bei dem anbelangt, so bedarf es einer genaueren Abgrenzung mit Blick auf das wirtschaftliche Eigentum und die tatsächliche Nutzung sowie der Überlegung, wie der Aspekt des geistigen Eigentums aufgenommen werden kann. Beim zweigeteilten ist eine Aufteilung nach der Anzahl der Beschäftigten einfach und praktikabel, kann sich aber als problematisch erweisen, insbesondere wenn eine Tätigkeit „unter Aufsicht und Verantwortung“ eines Gruppenmitglieds ausgeführt wird. Eine Gewinnaufteilung anhand des Faktors Arbeit kann Studien zufolge negative ökonomische Effekte für den Arbeitsmarkt haben. Die Einbeziehung von sozialen und Altersversorgungsleistungen birgt angesichts der unterschiedlichen Sozialversicherungssysteme in der EU zusätzliches Streitpotenzial zwischen den Mitgliedstaaten in sich. Der ist marktorientiert und könnte unzulässigerweise größeren Mitgliedstaaten allein wegen ihrer Größe Vorteile verschaffen. Es sollte daher eine Streichung oder Neugewichtung in der Aufteilungsformel erwogen werden.

4.7   Die Bemessungsgrundlage ist breiter angelegt als im derzeitigen Durchschnitt der Mitgliedstaaten. Das führt zunächst zu höheren Steuereinnahmen. Demgegenüber kann der grenzüberschreitende Verlustausgleich zu einer geringeren Steuerbelastung führen. Aus der Sicht des EWSA sollte die werden. Deshalb unterstützt der EWSA die in der Richtlinie vorgesehene Möglichkeit, dass die Mitgliedstaaten die Steuersätze so anpassen, dass es weder zu einer höheren noch zu einer geringeren Steuerbelastung kommt.

4.8   Die gewählte ist an internationalen Standards orientiert, insbesondere an den Standards in 25 von 27 Mitgliedstaaten. Der EWSA erachtet dies als sachgerecht. Eine Bezugnahme auf die handelsrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften der IFRS findet sich im RL-E nicht, weil die GKKB für ein Regelwerk zur eigenständigen steuerlichen Gewinnermittlung steht. Allerdings finden sich die IFRS-Prinzipien, die sich seit Beginn des langjährigen Vorhabens der GKKB fortentwickelt haben, in einzelnen Bestimmungen wieder.

4.9   Mit Blick auf die einzelnen Regelungen besteht teilweise . Diese ist notwendig zur Vermeidung einer Zersplitterung durch die nationale Anwendung. Insbesondere und es werden nicht hinreichend konkretisierte Rechtsbegriffe (wie z.B. Wirtschaftsgut oder Anschaffungs- und Herstellungskosten) verwendet. Fehlende Detailregelungen für einzelne Sektoren wie z.B. die Behandlung des Finanzanlagevermögens oder unzureichende Detailregelungen wie z.B. bei der Definition des wirtschaftlichen Eigentümers gefährden die .

4.10   Die Aufnahme einer allgemeinen ist in der gewählten Form fragwürdig. Nach dem RL-E werden Transaktionen ohne wirtschaftliche Grundlage, deren einziger Zweck darin besteht, eine Besteuerung zu vermeiden, bei der Berechnung der Bemessungsgrundlage nicht berücksichtigt (Art. 80 RL-E). Die Anwendung bzw. Auslegung einer solchen allgemeinen Missbrauchsregelung wird erhebliche Schwierigkeiten bereiten, weil der Missbrauch nach der EuGH-Rechtsprechung im Einzelfall nachgewiesen werden muss.

4.11   Die Vermeidung der Einkünften durch die grundsätzliche Freistellung solcher Einkünfte von der Steuer wird vom EWSA begrüßt. So unterliegen die EU-Unternehmen nur der Steuer des Auslandsmarktes. Aus der Sicht des EWSA ist nicht einzusehen, warum nach dem Vorschlag der Kommission bei niedriger Auslandssteuer davon abgewichen werden soll. bei zu geringer ausländischer steuerlicher Vorbelastung ist aus der Sicht des EWSA fragwürdig, weil dies nicht nur missbräuchliche Gestaltungen, sondern auch normale Geschäftsaktivitäten erfassen soll.

4.12   Die Möglichkeit zur Bildung von Rückstellungen wird nach Auffassung des EWSA in zu weitem Umfang beschränkt.

4.12.1   Die Bildung von Rückstellungen ist auf Sachverhalte beschränkt, denen ausschließlich rechtliche Verpflichtungen zugrunde liegen. Dies schließt aus. Das ist aus der Sicht des EWSA ökonomisch gesehen nicht gerechtfertigt, weil die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und damit der zu versteuernde Gewinn auch durch wirtschaftlich entstandene Vermögensbelastungen eingeschränkt werden.

4.12.2   Bei den Rückstellungen aus Rechtsverpflichtungen sind die der Inanspruchnahme klarzustellen. Auch sind die Kriterien für eine zuverlässige Schätzbarkeit nicht hinreichend bestimmt. Mangels Konkretisierung bleibt die Behandlung von Drohverlustrückstellungen im Detail unklar. Auch Pensionsrückstellungen werden in der Vorschrift nicht erwähnt, sind aber zu berücksichtigen; anderenfalls wäre die eigenständige Bewertungsvorschrift hinfällig.

4.12.3   Hinsichtlich der EU-rechtlich anerkannten enthält der RL-E keine weitere Konkretisierung und auch keine Delegation von Durchführungsbefugnissen an die Kommission. Es findet sich lediglich eine Sondervorschrift über die Abziehbarkeit der versicherungstechnischen Rückstellungen der Versicherungsunternehmen, wo hinsichtlich der Schwankungsrückstellungen den Mitgliedstaaten ein Abzugswahlrecht zugebilligt wird.

4.12.4   Weiterer Detailregelungen bedarf es insbesondere für den , um den risikospezifischen Besonderheiten (vor dem Hintergrund der Finanzkrise) angemessen Rechnung zu tragen. Detailregelungen fehlen insbesondere für die Behandlung von Derivaten sowie von Leasing. Darüber hinaus erscheint die Aufnahme eine Regelung notwendig, die entweder die Abziehbarkeit von banktechnischen Rückstellungen (für allgemeine Bankrisiken) oder die Wertminderungen bei finanziellen Vermögenswerten berücksichtigt. Die Richtlinie sollte wie bei der Sondervorschrift für die Versicherungen die Detailregelungen für den Finanzsektor selbst enthalten.

4.13   Es ist sachgerecht, die Körperschaftsteuer selbst und die körperschaftsteuerähnlichen Steuern nicht zum Abzug zuzulassen. Allerdings muss der Katalog der nicht abzugsfähigen nationalen Steuern in der Anlage III zu Art. 14 GKKB-RLE noch einmal kritisch überprüft werden. So ist die Versicherungssteuer, die nur hinsichtlich der im Inland erhobenen Steuer nicht abzugsfähig sein soll, nicht mit der Körperschaftsteuer vergleichbar. Soweit die Versicherungssteuer auf die Versicherungsprämie gezahlt und von den Versicherungsunternehmen als Einnahme erfasst wird, sollte auch ein Abzug als Betriebsausgabe möglich sein.

4.14   Die Festlegung des erscheint unter dem Aspekt der Gleichmäßigkeit der Besteuerung sachgerecht mit Blick darauf, dass bei einer freien Wahl ein zu weiter Ermessenspielraum entstehen würde. Insofern ist nicht unproblematisch, dass ausnahmsweise auf vereinbarte Zinssätze zurückgegriffen werden darf.

4.15   Der Vorschlag sieht die Möglichkeit einer vor. Dies ist sachgerecht. Die Technik der Poolabschreibung bietet den Unternehmen die Möglichkeiten der Innenfinanzierung. Bei einem Abschreibungssatz von nur 25 % wäre ein Großteil des Abschreibungsbetrags aber erst zum Zeitpunkt der Ersatzinvestition verrechnet. Deshalb sollte der Abschreibungssatz für die Poolabschreibung angemessen erhöht werden.

4.16   Die Beschränkung der außerplanmäßigen Abschreibung auf nicht abschreibungsfähige Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens bei Nachweis eines dauerhaften Wertverlusts schränkt die Verlustberücksichtigung zu sehr ein. Zudem fehlt die notwendige Konkretisierung für das Vorliegen eines „dauernden Wertverlustes“. Von der Sonderabschreibung sind Wirtschaftsgüter ausgeschlossen, deren Veräußerungserlös steuerfrei ist, z.B. Anteile an Kapitalgesellschaften. Dies könnte sich nachteilig für Holding- und Wagniskapitalgesellschaften auswirken.

4.17   Die Einführung eines für die Feststellung der Bemessungsgrundlage hält der EWSA für nützlich, um vor allem für die kleinen und mittleren Unternehmen die Steuerverfahren zu vereinfachen und eine einheitliche Anwendung der Regeln gegenüber dem Steuerpflichtigen sicherzustellen. Dies setzt jedoch eine verstärkte Verwaltungszusammenarbeit der Mitgliedstaaten voraus, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht besteht, insbesondere im Hinblick auf eine wirkungsvolle Kontrolle der konsolidierten Bereiche (Gesellschaften, Tochtergesellschaften, Betriebsstätten), die sich jedes Jahr ändern. Die automatische Informationsübermittlung muss, wie bei der innergemeinschaftlichen Mehrwertsteuer, die Norm werden.

4.18   Hervorzuheben ist, dass die gesamte Kommunikation mit der Finanzverwaltung nur noch zwischen einem sog. Hauptsteuerpflichtigen der Gruppe und einer diesem zugeordneten Hauptsteuerbehörde stattfinden soll. Damit würde eine Abstimmung mit verschiedenen nationalen Steuerbehörden entfallen. Der damit verbundene Abbau bürokratischer Lasten für die Steuerpflichtigen und die Finanzverwaltung wird vom EWSA begrüßt.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Steuerpolitik in der Europäischen Union – Prioritäten für die nächsten Jahre“ - ABl. C 48 vom 21.2.2002, S. 73.

(2)  Sondierungsstellungnahme im Auftrag der Kommission, ABl. C 088 vom 14.4.2006, S. 48.

(3)  Gemäß Artikel 6 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Ziffer II) richteten die nationalen Parlamente in Bulgarien, Irland, Malta, Polen, Rumänien, der Slowakei, Schweden, den Niederlanden und Großbritannien begründete Stellungnahmen an das Europäische Parlament, den Rat und die Europäische Kommission.


ANHANG

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgender abgelehnter Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 1.4

Ändern:

Mit Blick auf den Anwendungsbereich der GKKB hält der EWSA nicht länger an einer sofortigen obligatorischen Anwendung der GKKB fest, sondern erklärt sich auch mit einer optionalen Ausgestaltung in der Einführungsphase einverstanden. Langfristig sollte die GKKB aber, zunächst bei Überschreiten einer bestimmten Schwelle , obligatorisch sein. Denn eine ständige optionale Anwendung der GKKB würde dauerhaft erhebliche administrative Lasten auf Seiten der Mitgliedstaaten verursachen, weil neben dem neuen System der GKKB weiterhin das bisherige nationale Körperschaftsteuersystem angewendet werden muss.

Der Änderungsantrag wurde mit 90 gegen 70 Stimmen bei 15 Enthaltungen abgelehnt.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/70


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/96/EG zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom“

KOM(2011) 169 endg. — 2011/0092 (CNS)

und der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über intelligentere Energiebesteuerung in der EU: Vorschlag für eine Änderung der Energiesteuerrichtlinie“

KOM(2011) 168 endg.

2012/C 24/13

Berichterstatter: Eric PIGAL

Der Rat beschloss am 29. April 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 113 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/96/EG zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom

KOM(2011) 169 endg. — 2011/0092 (CNS)

und

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über intelligentere Energiebesteuerung in der EU: Vorschlag für eine Änderung der Energiesteuerrichtlinie

KOM(2011) 168 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 4. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 158 gegen 4 Stimmen bei 13 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Schlussfolgerungen

1.1.1   Derzeit feilen viele Mitgliedstaaten an ihrer Strategie zur Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftkrise. Die Überarbeitung der Richtlinie zur Besteuerung von Energieerzeugnissen bietet Gelegenheit, ökologische und ökonomische Ziele miteinander in Einklang zu bringen. Im Einklang mit der Europa-2020-Strategie können die Mitgliedstaaten außerdem einen Teil der Steuerbelastung von Arbeit oder Kapital auf eine Besteuerung umverteilen, die umweltfreundliche und energieeffiziente Verhaltensmuster fördert.

1.1.2   Die EU darf sich nicht mit den Zielen ihrer Energiepolitik zufrieden geben, sie muss sich nun auch die Mittel an die Hand geben, um diese zu erreichen. Hierfür muss sie ein starkes „Preissignal“ aussenden. Dies ist ein sinnvolles, wenn nicht sogar das einzige Mittel, um ein Umdenken und Verhaltensänderungen herbeizuführen.

1.1.3   Die Neufassung der Energiesteuerrichtlinie ist unbestritten ein Fortschritt im Vergleich zur geltenden Richtlinie. Durch die Einführung von zwei Komponenten zur Messung/Besteuerung von Energie wird sie genauer und zweckdienlicher. Die Komponente „CO2-abhängige Steuer“ ist eine Ergänzung zum Emissionshandelssystem (EU-EHS).

1.1.4   Auf der Grundlage dieser beiden Besteuerungskomponenten kann der Großteil der Energieträger auf gleiche Weise entsprechend ihrer CO2-Emissionen und ihres Energieinhalts behandelt/besteuert werden. Allerdings wird der elektrische Strom von der einheitlichen Behandlung der Energiequellen ausgenommen.

1.1.5   Ungeachtet der unmittelbaren „Härte“, mit der eine hohe Besteuerung von Kraftstoffen die Verbraucher trifft, bereitet das davon ausgehende Preissignal die europäischen Energieverbraucher auf die unvermeidbaren Verknappungen und Beschränkungen vor, da es Energiesparinvestitionen und -anstrengungen fördert, die Attraktivität erneuerbarer Energieträger erhöht und ihre Entwicklung voranbringt, die Widerstandsfähigkeit gegenüber Ölschocks stärkt usw.

Bei Heizstoffen fehlt allerdings ein entsprechendes Preissignal über die Besteuerung - und dies könnte auch nach der Überarbeitung der Energiesteuerrichtlinie der Fall bleiben. Für die Verbraucher bedeutet das, dass sie nicht von Energiesparanstrengungen und -investitionen bei Heizstoffen profitieren können und den unvorhersehbaren Marktschwankungen unterworfen sind.

1.1.6   Stärkere Anreize für Verbraucher zur Verringerung ihres Heizstoffverbrauchs würden über eine höhere Erneuerungsrate von Heizungsanlagen und die Öffnung neuer Marktchancen auch den Unternehmen in diesem Bereich zugute kommen.

1.1.7   Energieintensive Branchen, die bislang nicht in den Anwendungsbereich der Energiesteuerrichtlinie fallen, werden richtigerweise in diesen aufgenommen.

Einige Sektoren bleiben jedoch nach wie vor teilweise oder zur Gänze steuerbefreit, beispielsweise

Landwirtschaft, Bau, öffentliche Arbeiten;

öffentlicher Verkehr, Streitkräfte, Müllabfuhr, öffentliche Verwaltung;

Krankenwagen (nicht jedoch Taxis), Luft- und Seeverkehr;

elektrischer Strom, der von privaten Haushalten verwendet wird, usw.

All diese Ausnahmen entbehren der Logik und dürften bei denjenigen, für die sie nicht gelten, kaum auf Verständnis stoßen.

1.1.8   Im Gegensatz zu dem in der Kommissionsmitteilung enthaltenen Standpunkt wird in dem Richtlinienvorschlag weder ein Rahmen noch ein Standpunkt, ja noch nicht einmal eine einschlägige Empfehlung zur Verwendung eines Teils oder der Gänze der Einnahmen aus den neuen Steuervorschriften durch die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Verbesserung des Angebots an neuen, saubereren Technologien oder Energieträgern vorgegeben.

1.1.9   Der Ausschuss ist sich jedoch bewusst, dass die Energiesteuerrichtlinie durch eine Harmonisierung der Energiebesteuerung auch zur Vollendung des Binnenmarktes beiträgt.

1.2   Empfehlungen

1.2.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstützt die Bemühungen der Europäischen Kommission zur Verwirklichung der Ziele der Europa-2020-Strategie. Die Neufassung der Energiesteuerrichtlinie weist klar in diese Richtung. Mit ihr werden folgende Ziele angestrebt:

Förderung einer nachhaltigen Entwicklung und des Umweltschutzes;

Schutz des Binnenmarkts und Stärkung des Wachstums;

Verringerung der Arbeitskosten und der Haushaltsdefizite.

1.2.2   Der Ausschuss bedauert jedoch, dass die Neufassung nicht ehrgeiziger und kohärenter ist. Noch vor Vorlage und Erörterung im Rat hat die Europäische Kommission bereits Ausnahmebestimmungen in ihren Vorschlag aufgenommen, um verschiedene Mitgliedstaaten zu beschwichtigen.

Die Europäische Kommission läuft Gefahr, in den bevorstehenden Verhandlungen im Rat keinen Handlungsspielraum mehr zu haben, ohne die vorliegende Neufassung endgültig und riskant zu verwässern.

1.2.3   Seitens der Mitgliedstaaten sind Vorbehalte, ja sogar Widerstände zu erwarten. De Ausschuss ist jedoch der Ansicht, dass Europa und insbesondere die Europäische Kommission in der Lage sein sollten, den Mitgliedstaaten Maßnahmen vorzuschreiben, insbesondere wenn auf nationaler Ebene Entscheidungen blockiert werden, die notwendig sind, um die von allen gemeinsam vereinbarten Ziele auf europäischer Ebene umzusetzen.

1.2.4   Die Europäische Kommission muss sich gegen das Lobbying derjenigen wappnen und wehren, die jedwede Änderung mit den Argumenten „mögliche Zusatzkosten“ oder „gefährliche Verluste an Wettbewerbsfähigkeit“ verhindern möchten. Zwar muss sie den Mitgliedstaaten zuraten, bestimmten ebenso seltenen wie heiklen Fällen Rechnung zu tragen, gleichzeitig muss sie jedoch auch die europäischen Energieziele aufrechterhalten und die strategischen Vorteile von Innovationen in neue Energieträger und die damit verbundene Schaffung von Arbeitsplätzen und Wachstumsbelebung, Verbesserung der Lebensqualität usw. hervorheben.

1.2.5   Der Ausschuss schlägt vor, dass die Europäische Kommission flankierende Maßnahmen für die verbindlich vorgeschriebenen Änderungen ausarbeitet und nach Möglichkeit in den Richtlinienvorschlag aufnimmt, um absehbaren Vorbehalten der Mitgliedstaaten zu begegnen. Ein derartiges Vorgehen erscheint dem Ausschuss sinnvoller, als noch vor Beginn der Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten Zugeständnisse zu machen, zumal sich auf diese Weise auch die Verbraucher besser auf die gewünschten Veränderungen einstellen können.

2.   Einleitung

2.1   Zusammenfassung

2.1.1   Es geht hier nicht um eine neue Richtlinie, sondern um eine Neufassung der geltenden Energiesteuerrichtlinie. Diese Neufassung sollte normalerweise am 1. Januar 2013 in Kraft treten, d.h. zeitgleich mit dem dritten Emissionshandelszeitraum des EU-Emissionshandelssystems (EU-EHS).

2.1.2   Für jeden Kraft- bzw. Heizstoff werden mit der überarbeiteten Richtlinie zwei Besteuerungskomponenten eingeführt, wobei jede auf ein spezifisches Ziel anhebt:

die Besteuerung der CO2-Emissionen, um die Verschmutzung durch Treibhausgas zu verringern;

die Besteuerung auf der Grundlage des Energieinhalts, um den Energieverbrauch unabhängig von dem verwendeten Energieerzeugnis zu senken.

2.1.3   Für Kraftstoffe

gilt ab 2013 eine CO2-abhängige Steuer von 20 EUR/t CO2;

gilt ab 2018 eine allgemeine Energieverbrauchsteuer von 9,6 EUR/GJ.

2.1.4   Für Heizstoffe

gilt ab 2013 eine CO2-abhängige Steuer von 20 EUR/t CO2;

gilt ab 2013 eine allgemeine Energieverbrauchsteuer von 0,15 EUR/GJ.

2.1.5   Mit der geltenden Energiesteuerrichtlinie wurden Mindeststeuerbeträge eingeführt, die auch in der Neufassung beibehalten werden. Die Mitgliedstaaten können daher höhere Steuersätze festlegen, was die meisten im Übrigen auch tun.

2.2   Kontext

2.2.1   Diese Neufassungs-Richtlinie schließt an eine Reihe in der Vergangenheit ausgearbeiteter und angenommener Richtlinie an, namentlich:

die Richtlinie 2003/96/EG zur Energiebesteuerung, die Gegenstand der Überarbeitung ist;

die Richtlinie 2003/87/EG zur Definition von Treibhausgasen und zur Einführung des Emissionshandelssystems (EU-EHS);

die Richtlinie 2009/29/EG zur Überarbeitung der Emissionsquoten ab 2013;

die Richtlinie 2006/32/EG zur Energieeffizienz und zur Definition des Nettowärmeinhalts (1) (Anhang II);

die Richtlinie 2009/28/EG mit Nachhaltigkeitskriterien insbesondere für Kraft- und Heizstoffe, die aus Biomasse hergestellt werden.

2.2.2   Bei der Erörterung des Richtlinienvorschlags werden in dieser Stellungnahme auch die zusätzlichen Informationen berücksichtigt, die in der Mitteilung (2) und dem Vermerk (3) der Europäischen Kommission enthalten sind.

2.2.3   Die Arbeiten der Europäischen Kommission zur Gestaltung dieser EU-Politik sind in einen internationalen Kontext eingebettet, der sich erheblich auf verschiedene Bereiche auswirkt:

—   Rechtsvorschriften: Das Abkommen von Chicago über die internationale Zivilluftfahrt enthält strenge und zwingende Vorschriften zur Begrenzung der Besteuerung der Luftfahrt;

—   Markt: Dank der Forschungsanstrengungen kann Öl nunmehr aus „Ölschiefer“ gewonnen werden. Aufgrund dieser Entdeckung konnten neue Abbaugebiete erschlossen werden, wodurch sich das Angebot an fossilen Brennstoffen erhöht hat. Außerdem hat sie den Gasmarkt vollkommen auf den Kopf gestellt: die Preise sind weltweit gefallen, wodurch wiederum andere, insbesondere erneuerbare Energieträger an Attraktivität eingebüßt haben;

—   Strategie: Die Ereignisse in Nordafrika und im Fernen Osten wirken sich nicht nur erheblich auf den Preis für Brennstoffe aus, sondern auch auf die Einstellung der Mitgliedstaaten gegenüber den betroffenen Energieträgern;

—   Umwelt: Es gilt, dem Kyoto-Protokoll und den Diskussionen von Cancún Rechnung zu tragen. Strategie und Politik der EU müssen gegebenenfalls entsprechend angepasst werden;

—   Öffentliche Meinung: Die Atomkatastrophe von Fukushima hat gezeigt, wie sehr die öffentliche Meinung von einem derart schwerwiegenden und unerwarteten Ereignis beeinflusst werden kann. Die Mitgliedstaaten und die EU müssen dem in ihren Strategien und Entscheidungen Rechnung tragen und ihre Politik rasch anpassen.

2.2.4   Daher ist zu überlegen, wie die Besteuerung der Energieträger in einen internationalen Kontext gestellt werden kann:

Welchen Referenzpreis sollte die EU für Kohlenstoff festlegen, wenn es kein globales Übereinkommen gibt?

Die Idee einer internationalen und allgemeinen Steuer sollte ebenfalls beleuchtet werden.

2.3   Chronologische Übersicht

2.3.1   Die geltende Richtlinie 2003/96/EG beruht auf einem Vorschlag der Europäischen Kommission aus dem Jahr 1996. In langwierigen Verhandlungen im Rat wurde dieser Vorschlag erheblich geändert, um den Besonderheiten der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen. So wurde eine Anwendung in kleinen Schritten mit Übergangszeiträumen, Freistellungen und Ausnahmeregelungen vorgeschlagen. Der Richtlinienvorschlag wurde letztlich erst im Jahr 2003 angenommen.

2.3.2   Im Zuge ihrer praktischen Anwendung in den Mitgliedstaaten sowie aufgrund der Entwicklungen der Energiemärkte und der Sensibilisierung für die Umwelt- und Klimafolgen des Energieverbrauchs sind Schwachpunkte und Verbesserungsmöglichkeiten zu Tage getreten (siehe nachstehend).

2.3.3   Mit der Überarbeitung dieser Richtlinie wurde bereits 2005 begonnen. Ein erster, auf gewerblich genutztes Gasöl ausgerichteter Vorschlag wurde 2007 ausgearbeitet, im Rat jedoch verworfen. In den Schlussfolgerungen der Tagung von März 2008 forderte der Europäische Rat einen neuen Vorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie; im Jahreswachstumsbericht 2011 der Europäischen Kommission wurde dieser dann als Priorität eingestuft.

Das Kollegium der Kommissionsmitglieder nahm den Vorschlag für eine Neufassung der Energiesteuerrichtlinie schließlich am 12. April 2011 an.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Mit der Neufassung der Energiesteuerrichtlinie soll in erster Linie den neuen Prioritäten der EU Rechnung getragen werden, die in der Europa-2020-Strategie dargelegt sind, u.a.

Bekämpfung des Klimawandels;

Vorrang für ein nachhaltiges Wachstum;

umweltfreundlichere und wettbewerbsfähigere Wirtschaft;

Beteiligung an einer Steuerharmonisierung;

Senkung der Besteuerung der Arbeit;

Unterstützung der einkommensschwachen Haushalte;

Haushaltskonsolidierung in den Mitgliedstaaten.

3.2   Sie trägt auch den „20-20-20“-Zielen der EU-Klima- und Energiestrategie für den Zeitraum 2013-2020 Rechnung:

Verringerung des Treibhausgasausstoßes um 20 %;

Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energieträger auf 20 %;

Verbesserung der Energieeffizienz um 20 %.

3.3   Ferner sollen mit dieser Neufassung Schwächen und Mängel in der geltenden Richtlinie ausgemerzt werden:

Die geltenden Mindeststeuersätze finden ganz allgemein auf die verbrauchte Menge Anwendung, ohne jedoch Energieinhalt oder Verschmutzung zu berücksichtigen.

Dies führt zu Verhaltensmustern im Widerspruch zu den EU-Zielen: So wird beispielsweise die Nutzung von Kohle gefördert, wohingegen erneuerbare Energieträger benachteiligt werden.

In der geltenden Richtlinie sind keine Anreize für Alternativenergien vorgesehen: So wird beispielsweise Ethanol erheblich höher besteuert.

Die unzureichende Koordinierung zwischen der Energiesteuerrichtlinie und dem EU-EHS in Bezug auf die CO2-Emissionen führt je nach Industriesektor zu Doppel- oder Nichtbesteuerung.

3.4   In dieser Neufassung werden auch exogene Zwänge berücksichtigt:

die Neustrukturierung und Modernisierung der Steuersysteme;

die Wirtschaftkrise, die den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten eingeschränkt und den Druck auf die Staatsfinanzen erhöht hat;

die ersten spürbaren und messbaren Auswirkungen des Klimawandels;

die internationalen Spannungen, die zu Störungen und Verunsicherung auf dem globalen Energiemarkt geführt haben.

3.5   Sie muss sich allerdings auch bestimmten endogenen Zwängen beugen:

Die Energiesteuer darf weder diskriminierend sein noch Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Unternehmen in den verschiedenen Mitgliedstaaten verursachen;

im Gegenzug müssen die Wettbewerbsverzerrungen aufgrund der fehlenden Energiesteuerharmonisierung in der EU eingeschränkt werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Die wichtigsten Aspekte

4.1.1   Wie bereits einleitend festgestellt, ist der wichtigste Aspekt des Vorschlags die Festsetzung von zwei Besteuerungskomponenten (Artikel 1). Außerdem wird bekräftigt, dass die angeführten Sätze Mindeststeuerbeträge sind; die Mitgliedstaaten können höhere Beträge festlegen. Diese Mindeststeuerbeträge werden alle drei Jahre angepasst (Artikel 4).

4.1.2   Ein weiterer wichtiger Punkt des Vorschlags ist die Einführung einer neuen Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, die gleichen Steuerbeträge für alle auf die gleiche Weise verwendeten Erzeugnisse (Kraft- oder Heizstoff) anzuwenden, die ausgehend von ihren CO2-Emissionen und ihrem Energieinhalt festgelegt werden (Artikel 4 Absatz 3).

4.1.3   In der bisher geltenden Richtlinie wurden die Mindeststeuerbeträge zwar je nach Erzeugnis (und Verwendung) festgelegt, ohne diese jedoch miteinander in Bezug zu setzen.

4.1.4   Aufgrund dieser Änderung müssen die Mitgliedstaaten ihre (nationalen) Steuerbeträge überprüfen, um sicherzustellen, dass sie im gleichen Verhältnis zueinander stehen wie die europäischen Mindeststeuerbeträge (siehe Richtlinienvorschlag, Anhang I, Tabelle A, B, C und D).

4.1.5   Diese Regelung betrifft sowohl Kraft- als auch Heizstoffe und gilt ab 2013 für Heizstoffe und ab 2023 für Kraftstoffe; durch diesen Aufschub soll den beträchtlichen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden.

4.1.6   Die Mindeststeuerbeträge für elektrischen Strom sind in einer separaten Tabelle (Tabelle D) aufgeführt. Die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit und der Anpassung der Steuerbeträge finden allerdings keine Anwendung auf elektrischen Strom.

4.1.7   Für elektrischen Strom wird die Energiesteuer auch weiterhin beim Endverbraucher („an der Steckdose“) erhoben, um eine Doppelbesteuerung – bei Erzeugung und bei Verbrauch – zu vermeiden.

4.1.8   Da beim Stromverbrauch selbst keine CO2-Emissionen entstehen, kann die CO2-abhängige Steuer nur auf Stromerzeuger angewendet werden. Großerzeuger sind von der Energierichtlinie ausgenommen, da sie im EU-EHS erfasst werden.

Diesbezüglich ist festzuhalten, dass Atomstrom nicht nach seinen CO2-Emissionen (da keine anfallen), sondern nach dem Energieverbrauch besteuert wird.

4.1.9   Zur Aufnahme der Vorschriften aus der Richtlinie 2003/87/EG über die CO2-Quoten und zur Vermeidung jedweder Überlappung wird in der überarbeiteten Fassung vorgeschlagen, dass Energieerzeugnisse, die für Tätigkeiten verwendet werden, die vom EU-EHS erfasst sind, von der CO2-abhängigen Steuer befreit werden (Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe d). Gleichzeitig fallen bislang vom EU-EHS ausgeschlossene Tätigkeiten nunmehr in den Anwendungsbereich der Energiesteuerrichtlinie.

4.2   Die einzelnen Sektoren im Überblick

4.2.1   In dem Vorschlag wird auch der Tatsache Rechnung getragen, dass für einzelne Sektoren ein Risiko einer Verlagerung der CO2-Emissionen bestehen kann (Artikel 14 a). Es wird vorgeschlagen, bis 2020 für jede betroffene Anlage eine Steuergutschrift vorzusehen. Diese Steuergutschrift wird auf der Grundlage des durchschnittlichen Jahresverbrauchs an Energieerzeugnissen im Referenzzeitraum berechnet.

4.2.2   Tätigkeiten, die bislang von der Besteuerung ausgenommen waren, fallen nunmehr in den Anwendungsbereich der Richtlinie, entweder für die CO2-abhängige oder die Energieinhalt-bezogene Besteuerungskomponente (Artikel 2).

4.2.3   Die einzige Änderung in Bezug auf die gestaffelten Steuersätze betrifft die Ausnahme von Taxis (Artikel 5).

4.2.4   Der Luftverkehr (mit Ausnahme des privaten Luftverkehrs) und der Seeverkehr (mit Ausnahme der privaten nichtgewerblichen Schifffahrt) sind von der Energiesteuerrichtlinie ausgenommen.

4.2.5   In bestimmten Sektoren können Kraftstoffe wie Heizstoffe besteuert werden (Artikel 8), und zwar:

Landwirtschaft, Gartenbau, Fischzucht und Forstwirtschaft;

ortsfeste Motoren;

Hoch- und Tiefbau und öffentliche Bauarbeiten;

Fahrzeuge, die über keine Genehmigung für die Verwendung auf öffentlichen Straßen verfügen.

4.2.6   In Bezug auf die Landwirtschaft und ihre CO2-Emissionen will die Europäische Kommission, prüfen, ob diese von der Verlagerung von CO2-Emissionen betroffen ist; in diesem Fall könnten die Mitgliedstaaten eine Steuergutschrift für landwirtschaftliche Betriebe genehmigen (Artikel 14 a).

Außerdem gestattet die Europäische Kommission in Bezug auf die allgemeine Energieverbrauchssteuer eine vollständige Ausnahme der Landwirtschaft, wenn diese eine Gegenleistung betreffend die Energieeffizienz erbringt. Dies fällt jedoch in den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten (Artikel 15 Absatz 3).

4.2.7   Biokraftstoffe werden nicht länger wie fossile Brennstoffe besteuert (Artikel 16). Die allgemeine Energieverbrauchssteuer (auf der Grundlage des Energieinhalts) kommt zur Anwendung.

4.2.8   Bei der CO2-abhängigen Steuer wird hingegen ein Unterschied gemacht. Nicht alle Biokraftstoffe sind nachhaltig, einige verursachen einen höheren Ausstoß an CO2 als in ihnen gebunden ist. Nachhaltige Biokraftstoffe sind von der Besteuerung ausgenommen, da sie von Natur aus CO2-neutral sind. Nicht nachhaltige Biokraftstoffe fallen jedoch wie alle herkömmlichen Energieerzeugnisse unter die CO2-abhängige Steuer.

4.2.9   Die Mitgliedstaaten können bis 2023 besondere Steuersätze anwenden, die unter den Mindeststeuerbeträgen der Energiesteuerrichtlinie liegen.

4.2.10   In Bezug auf Heizstoff und elektrischen Strom, die von privaten Haushalten (und gemeinnützigen Organisationen) verwendet werden, können die Mitgliedstaaten eine Steuerbefreiung oder -ermäßigung gewähren (Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe h).

5.   Standpunkte des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

5.1   Die Grundlagen der Energiesteuerrichtlinie

5.1.1   Die Berücksichtigung zweier Komponenten für die Energiebesteuerung ist unbestritten ein Fortschritt im Vergleich zur geltenden Richtlinie. Erstens entspricht sie damit zwei Zielen der Europa-2020-Strategie, namentlich der Verringerung des CO2-Ausstoßes und des Energieverbrauchs.

Und zweitens werden die schädlichen Auswirkungen des Energieverbrauchs (Verschmutzung und übermäßiger Verbrauch) auf die weltweiten Energiereserven genauer gemessen (als anhand nur eines einzigen Kriteriums).

5.1.2   Mit dem Vorschlag für eine Überarbeitung der Energiesteuerrichtlinie wird eine CO2-abhängige Steuer auf nationaler Ebene in jedem einzelnen Mitgliedstaat vorgeschrieben. Ein weiterer Mechanismus besteht bereits auf europäischer Ebene, und zwar der Kauf von Emissionshandelszertifikaten im EU-EHS.

Anlagen, die vom EU-EHS erfasst werden, können nicht noch zusätzlich aufgrund der Energiesteuerrichtlinie besteuert werden; sie sind von der Richtlinie ausgenommen. Mit diesem Vorschlag wird somit der Doppelbesteuerung der CO2-Emissionen durch beide Mechanismen vorgebeugt. Hingegen wird mit der Energiesteuerrichtlinie ein Steuerinstrument geschaffen, in dem auch die kleinen Anlagen berücksichtigt werden, die bislang aufgrund ihrer Größe vom EU-EHS ausgenommen waren.

Der Ausschuss befürwortet den Vorschlag, das EU-EHS in die Energiesteuerrichtlinie einzugliedern, da das System auf diese Weise korrigiert wird, das auf die Hälfte aller CO2-Emissionen von Heiz- und Kraftstoffen keine Anwendung gefunden hat.

5.1.3   Einige Energieträger sind umweltschädlicher als andere. Energieträger mit hoher Dichte ermöglichen einen günstigeren Verbrauch als andere. Die in dem Vorschlag angestrebte faire Gewichtung der Energiequellen ist daher im Grunde schlüssig und gerecht.

Allerdings bedingt sie auch erhebliche Steuererhöhungen für bestimmte Energieträger, die in einigen Mitgliedstaaten derzeit weniger stark besteuert werden. Das eklatanteste Beispiel ist Diesel, für den der Mindeststeuerbetrag angesichts eines zwar nur geringfügig höheren CO2-Ausstoßes, aber eines viel höheren Energieinhalts über dem Steuersatz für Benzin liegen sollte. In den meisten Mitgliedstaaten ist die derzeitige Situation jedoch genau umgekehrt. Da Diesel weniger besteuert wird und preiswerter als Benzin ist, ist ein Großteil des Fuhrparks mit Dieselmotoren ausgestattet.

5.1.4   Der Ausschuss stimmt der Analyse der Europäischen Kommission in dem Punkt zu, dass der Raffineriemarkt aufgrund des erheblichen Preisunterschieds zwischen Diesel und Benzin und der daraus resultierenden übermäßig starken Diesel- und der geringen Benzinnachfrage derzeit gestört ist. Eine höhere Besteuerung von Diesel wird zur Wiederherstellung eines ausgewogenen Verhältnisses beitragen.

5.1.5   Der Ausschuss warnt die Europäische Kommission jedoch auch, dass die Umkehrung des Preisunterschiedes zwischen Benzin und Diesel zu einer erheblichen Störung des Fahrzeugmarkts führen könnte. Außerdem könnten so zusätzliche Kosten für die Haushalte bei der Nutzung ihres Pkw entstehen. Auch mit Blick darauf sollte der Übergang schrittweise erfolgen.

5.1.6   Die hohen Steuern auf Kraftstoffe haben die Verbraucher paradoxerweise vor einem „Ölschock“bewahrt. Aufgrund hoher Preise drosseln die Verbraucher ihren Verbrauch vorsorglich. Und hohe Steuern verringern den Anteil des Kraftstoffpreises, der Marktschwankungen („Schocks“) unterliegt.

5.1.7   Über mehrere Jahrzehnte haben Automobilunternehmen in Forschung und Entwicklung investiert und so den Kraftstoffverbrauch der Motoren verringern können. Auch wiederholte Ölschocks haben den Verkehrssektor nicht lahmgelegt.

5.1.8   Unter Berücksichtigung dieser Analyse stellt der Ausschuss fest, dass die CO2-abhängige Steuer für Heiz- und Kraftstoffe gleich ist. Sie wird 20 EUR/t CO2 betragen, d.h. beispielsweise 0,0533 EUR pro Liter Gasöl (als Heizöl oder Dieselkraftstoff).

Er ist jedoch erstaunt, dass die allgemeine Energieverbrauchssteuer

für Kraftstoffe 9,6 EUR/Gj, d.h. 0,316 EUR pro Liter Diesel beträgt und

für Heizstoffe wesentlich weniger, und zwar 0,15 EUR/Gj, d.h. 0,0054 EUR pro Liter Heizöl.

5.1.9   Daher spricht er sich dafür aus, die allgemeine Energieverbrauchssteuer für Heizstoffe auch für die Verbraucher spürbar zu machen, was bei 0,0054 EUR pro Liter nicht möglich ist!

Er empfiehlt, dass diese Steuer schrittweise, aber merklich erhöht wird, um

den für die Verbraucher unvermeidbaren Heizbedarf berücksichtigen zu können,

den Kraftstoffverbrauch zu verringern und

die Investitionen der Wirtschaftsakteure für Energieinnovationen im Gebäudebereich und in der Industrie zu rechtfertigen (die beispielsweise von den Automobilherstellern getätigt wurden).

5.2   Die Ausnahmeregelungen der Energiesteuerrichtlinie

5.2.1   Fünf Mitgliedstaaten haben einen niedrigeren Steuersatz für gewerblich genutztes Gasöl (Schwerfahrzeuge, Busse, Taxi usw.) im Vergleich zu privat genutztem Gasöl genehmigt. In dem Richtlinienvorschlag wird diese Möglichkeit abgeschafft; die Mitgliedstaaten müssen eine ausgewogene Besteuerung sicherstellen.

Die Verschmutzung durch Gasöl ist die gleiche, egal wie es genutzt wird (gewerblich oder privat). Daher ist die Abschaffung dieser Steuerermäßigung sinnvoll und steht vor allem im Einklang mit den Grundsätzen der Europa-2020-Strategie. Außerdem ist es aufgrund des exponentiellen Zuwachses des überwiegend dieselbetriebenen Straßenverkehrs notwendig, diese Entwicklung aufzuhalten bzw. das Straßengüterverkehrsaufkommen zu verringern.

Die kumulative Wirkung dieser beiden mit einer Erhöhung der Besteuerung von Diesel einhergehenden Maßnahmen (ausgewogene Besteuerung im Vergleich zu Benzin – siehe oben – und Abschaffung der Steuerermäßigung für die gewerbliche Nutzung) wird einen gewaltigen Anstieg des Dieselpreises in einigen Mitgliedstaaten zur Folge haben. Dann könnten einige gut organisierte und leicht mobilisierbare Berufsverbände Druck auf die Regierungen ausüben oder zu umfassenden Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen.

Der Ausschuss warnt die Europäische Kommission vor zu einschneidenden oder überstürzten Änderungen sowie den unvermeidlichen Vorbehalten seitens der Mitgliedstaaten. Er schlägt vor, flankierende Maßnahmen vorzusehen, um einerseits den Anforderungen der Europa-2020-Strategie gerecht zu werden und andererseits die Mitgliedstaaten zu einer Zustimmung zu diesem Vorschlag zu bewegen.

5.2.2   Die Mitgliedstaaten müssen dafür sorgen, dass alle Energieträger gerecht und im Verhältnis zu ihren CO2-Emissionen und ihrem Energieinhalt besteuert werden (siehe oben). Elektrischer Strom ist jedoch von dieser Verpflichtung zur ausgewogenen Besteuerung ausgenommen.

Der Ausschuss stellt diese Ausnahmeregelung in Frage und fordert, dass die Europäische Kommission ihren Vorschlag dahingehend überarbeitet, dass elektrischer Strom genauso behandelt wird wie alle übrigen Energieträger.

5.2.3   Die Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich der geltenden Energiesteuerrichtlinie fallen, sollten nun an die übrigen Tätigkeiten angepasst und ebenso auf der Grundlage ihrer CO2-Emissionen und ihres Energieverbrauchs besteuert werden.

Zu diesen von der Richtlinie ausgenommenen Tätigkeiten zählen Prozesse in der Metallindustrie und chemische Reduktion, Elektrolyse, stromintensive Unternehmen (für die die Stromkosten mehr als 50 % der Produktionskosten ausmachen) und die Herstellung von nichtmetallischen Mineralerzeugnissen (Zement, Glas, Kalk usw.).

Mit dieser Änderung sorgt die Europäische Kommission für klare Kohärenz in ihrem Vorschlag für eine überarbeitete Richtlinie: Einerseits werden ausnahmslos alle Sektoren, die für die Umweltverschmutzung verantwortlich sind oder Energie verbrauchen, besteuert. Andererseits werden alle Sektoren auch zu Investitionen zur Verringerung ihres Energieverbrauchs angehalten.

Der Ausschuss kann diese Wiederherstellung von Ausgewogenheit und Kohärenz daher nur befürworten. Er zeigt sich jedoch über die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der betroffenen Sektoren besorgt. Er schlägt daher vor, auch in diesen Bereichen flankierende Maßnahmen auszuarbeiten, um

diese Sektoren bei ihren Investitionen bzw. ihrer Umstrukturierung zu unterstützen;

ihre Bestandsfähigkeit und ihren Verbleib in der EU sicherzustellen.

Der Ausschuss hinterfragt außerdem die tatsächliche Tragweite dieser Änderung, mit der diese Sektoren zwar in den Anwendungsbereich der Energiesteuerrichtlinie aufgenommen werden, gleichzeitig jedoch die Sektoren ausgenommen werden, die in den Anwendungsbereich des EU-EHS fallen.

Der Ausschuss stellt sich ferner die Frage, inwieweit nicht auch bislang befreite Tätigkeiten vom Risiko einer CO2-Verlagerung betroffen sein könnten. Im EU-EHS sind Schutzmechanismen enthalten; die Energiesteuerrichtlinie sollte sich diese zum Vorbild nehmen.

5.2.4   Die Mitgliedstaaten können auch weiterhin für fast alle in der geltenden Richtlinie aufgelisteten Sektoren gestaffelte Steuersätze anwenden. Diese Ausnahmeregelung gilt auch für den öffentlichen Personennahverkehr, was sicherlich nicht Investitionen zur Verringerung der Umweltverschmutzung oder des Kraftstoffverbrauchs begünstigen wird. Andererseits könnte sie im Interesse einer Förderung des Kollektivverkehrs gegenüber dem Individualverkehr gerechtfertigt sein.

Der Ausschuss wirft jedoch die Frage auf, wie sich diese Ausnahmeregelung für die Müllabfuhr, Krankenwagen, die öffentliche Verwaltung, Fahrzeuge von Menschen mit Behinderung, die Streitkräfte usw. rechtfertigen lässt.

Daher empfiehlt er, den Richtlinienvorschlag dahingehend zu ändern, damit die ausgezeichneten Gründe, die die Nichtanwendung der gestaffelten Steuersätze auf Taxis rechtfertigen, gleichermaßen auch auf andere Verkehrsträger Anwendung finden.

5.2.5   Auf der Grundlage der gleichen Analyse wie für die gestaffelten Steuersätze stellt der Ausschuss die Gründe in Frage, die die Steuerbefreiungen für im Luft- und Seeverkehr verwendeten Kraftstoff rechtfertigen.

5.2.6   Selbst wenn die CO2-Emissionen aus dem Luft- und Seeverkehr in Zukunft vom EU-EHS erfasst werden könnten, findet der Ausschuss es dennoch beunruhigend, dass diese beiden energieintensiven Bereiche von der allgemeinen Energieverbrauchssteuer befreit sind.

Aufgrund internationaler Übereinkommen können diese beiden Verkehrsträger in Bezug auf den Energieinhalt allerdings nicht besteuert werden. Daher schlägt der Ausschuss vor, internationale Verhandlungen zur Annäherung dieser Übereinkommen an die europäischen Rechtsvorschriften aufzunehmen.

5.2.7   Der Ausschuss stellt die Möglichkeit der Mitgliedstaaten in Frage, private Haushalte weiterhin (insbesondere) von der Steuer für Heizstoffe und elektrischen Strom zu befreien.

Damit wird die Kohärenz der gesamten Energiesteuerrichtlinie in Frage gestellt. Die Energiesteuerrichtlinie beruht schließlich auf der Annahme, dass die betroffenen Akteure durch Preissignale ihre CO2-Emissionen und ihren Energieverbrauch drosseln werden. Warum sollten nicht auch die Haushalte, die zu den großen Energieverbrauchern zählen, entsprechend auf dieses Signal reagieren?

Der Ausschuss empfiehlt, diese Möglichkeit der Steuerbefreiung für Heizstoffe für private Haushalte zu streichen, dabei jedoch die spezifischen Sachzwänge der lokalen/nationalen Verbraucher zu berücksichtigen.

5.2.8   Aus Kohärenzgründen wurde bei der Überarbeitung der Energiesteuerrichtlinie sichergestellt, dass alle bislang nicht erfassten Sektoren in die Richtlinie aufgenommen wurden und gewerblich genutztes Gasöl im Vergleich zu in Haushalten genutztem Gasöl nicht länger bevorzugt wird.

Allerdings stellt sich dann die Frage, warum andere Sektoren (wie Landwirtschaft, Bau, öffentliche Bauarbeiten usw.) weiterhin bevorzugt behandelt werden, indem Kraftstoffe wie Heizstoffe, das heißt um vieles niedriger, besteuert werden? Zumal diese Sektoren doch eine Vorbildfunktion haben: Durch ihre Tätigkeiten und ihr Profil in der Öffentlichkeit spielen sie eine wichtige Rolle bei Verbesserungen der Raumplanung und des Wohn- und Siedlungswesens.

5.2.9   Der Ausschuss stellt ferner die Gründe für diese Ausnahmeregelung in Frage, da sie weder wirtschaftlicher, sozialer noch ökologischer Natur sein können. Er befürchtet, dass dieser Ansatz genutzt werden kann, um die Durchführung der neuen Energiesteuerrichtlinie zu bremsen oder ganz zu blockieren, unter dem Vorwand, dass sie willkürlich und diskriminierend ist.

5.2.10   In Bezug auf die Landwirtschaft warnt der Ausschuss die Europäische Kommission, dass der Richtlinienvorschlag äußerst vage ist und die Mitgliedstaaten vor seiner Annahme Klarstellungen und Sicherheiten einfordern könnten.

Folgende Aspekte müssen geklärt werden:

die Gründe für eine äußerst vorteilhafte Sonderbehandlung der Landwirtschaft, die im Widerspruch zu den Grundsätzen und Preissignalen steht, die von der Energiesteuerrichtlinie ausgehen sollen, sowie den Anstrengungen, die von anderen Sektoren in einer vergleichbar schwierigen Lage gefordert werden;

die Verfahren und Bewertungskriterien in Bezug auf das Risiko einer CO2-Verlagerung sowie die vorgeschlagene Gegenleistung betreffend die Energieeffizienz.

5.3   Weitere Aspekte der Energiesteuerrichtlinie

5.3.1   Die neue Energiesteuerrichtlinie kann keine einfache Patentlösung sein, da auch die Energiepolitik der EU mehr noch als anderswo vielschichtig und komplex ist. Sie erfordert entweder eine Kombination mehrerer Lösungen oder aber eine komplexe Lösung.

Der Ausschuss nimmt jedoch die Bemühungen der Europäischen Kommission zur Kenntnis, die Grundsätze, die Ziele und die Durchführung der Energiesteuerrichtlinie im Zuge ihrer Überarbeitung zu vereinfachen.

5.3.2   Gleichzeitig reiht sich diese Neufassung der Energiesteuerrichtlinie wie bereits erwähnt in ein komplexes und umfangreiches Regelungsumfeld ein. So enthält sie auch zahlreiche Verweise auf andere Dokumente und Richtlinien. Aufgrund all dieser Querverweise lässt sich eine redundante Wiederholung bestimmter Punkte in verschiedenen Richtlinien vermeiden.

Die Bereiche Energie und Umwelt entwickeln sich jedoch sehr rasch. Die Möglichkeit zur Aktualisierung der Codes der Kombinierten Nomenklatur (KN) (Artikel 2 Absatz 5) zeigt dies ganz deutlich. Jedwede weitere Änderung eines Referenzdokuments kann unerwartete oder unerwünschte Änderungen anderer Dokumente nach sich ziehen.

Der Ausschuss schlägt daher vor, zunächst die Referenzdokumente im Anhang zu erfassen und dann gegebenenfalls klarzustellen, ob bestimmte davon als endgültig betrachtet werden können, um die Kohärenz der künftigen Energiesteuerrichtlinie sicherzustellen.

5.3.3   Laut Artikel 4 umfassen die Mindeststeuerbeträge „die Gesamtheit der als indirekte Steuern (…) erhobenen Abgaben“, d.h. auch rein nationale Maßnahmen wie die Kohlenstoffsteuer, die in einigen Mitgliedstaaten bereits erhoben wird. Allerdings können sich Anwendungsbereich und Ausnahmeregelungen der Kohlenstoffsteuer der Mitgliedstaaten von der im Richtlinienvorschlag vorgesehenen CO2-abhängigen Steuer unterscheiden.

Daher sollte die Europäische Kommission klarstellen, dass die Zusammenführung dieser beiden CO2-Steuern zum Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht erfolgen muss.

5.3.4   Im Mittelpunkt dieser Neufassung steht die Energiebesteuerung. Die Europäische Kommission betont im Übrigen, dass die Verwendung der aufgrund der Energiesteuerrichtlinie erzielten Einnahmen in eben dieser Richtlinie nicht behandelt wird.

Nachhaltiges Wachstum ist eine der Prioritäten der Europa-2020-Strategie, um eine ressourcenschonendere, ökologischere und wettbewerbsfähigere Wirtschaft zu schaffen.

Der Ausschuss kritisiert, dass in der Überarbeitung der Energiesteuerrichtlinie keine konkreten Maßnahmen für ein gemeinsames und kohärentes Vorgehen der Mitgliedstaaten zur Schaffung einer nachhaltigeren, grüneren und wettbewerbsfähigeren Wirtschaft enthalten sind, z.B.

soziale Maßnahmen zur Förderung von Beschäftigung und zur Senkung der Arbeitskosten;

Anreize zur Förderung der technologischen Entwicklung im Bereich erneuerbare Energieträger;

Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung in den Mitgliedstaaten.

5.3.5   CO2-Emissionen werden in Tonnen (t) ausgedrückt, der Energieinhalt in Gigajoule (GJ). Der Mindeststeuerbetrag für jedes Energieerzeugnis wird auf der Grundlage seines CO2-Ausstoßes und seines Energieinhalts berechnet. Diese Mindeststeuerbeträge müssen daher auf die herkömmliche Berechnungs- und Besteuerungseinheit umgerechnet werden, in der Regel Liter für Kraftstoffe und einige Heizstoffe, Kilowattstunden (KWh) für Strom usw. Diese Umrechnung wird von den Dienststellen der Europäischen Kommission vorgenommen. Allerdings werden die Vorschriften und Hypothesen, die diesen Berechnungen zu Grunde liegen, nicht erklärt, so dass die Vertreter einiger Mitgliedstaaten nicht zu den gleichen Ergebnissen gelangen.

Der Ausschuss betont, dass die Umrechnungsmethoden unbedingt harmonisiert werden müssen, und schlägt daher vor, die Umrechnungsmodalitäten für die verwendeten Einheiten in dem Richtlinienvorschlag zu erklären. Dabei müssen möglichst ähnliche Einheiten gewählt werden, wie sie für die Besteuerung in den Mitgliedstaaten herangezogen werden.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Nettowärmeinhalt der Energieerzeugnisse und von elektrischem Strom.

(2)  KOM(2011) 168 endg.

(3)  Vermerk MEMO 11/238.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/78


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung des Rates (EG) Nr. 1083/2006 im Hinblick auf rückzahlbare Beihilfe und Finanzierungstechniken“

KOM(2011) 483 endg. — 2011/0210 (COD)

2012/C 24/14

Hauptberichterstatter: Michael SMYTH

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 2. September bzw. am 5. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 177 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung des Rates (EG) Nr. 1083/2006 im Hinblick auf rückzahlbare Beihilfe und Finanzierungstechniken

KOM(2011) 483 endg. — 2011/0210 (COD).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 20. September 2011 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) Michael SMYTH zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 87 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA nimmt den Kommissionsvorschlag zur Kenntnis, die Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 im Hinblick auf rückzahlbare Beihilfe und Finanzierungstechniken aus Gründen der erforderlichen Klarheit und Rechtssicherheit zu ändern.

1.2

Der EWSA befürwortet den Vorschlag.

2.   Begründung

2.1

In Artikel 28 der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 des Rates, der Bestimmungen über die Strukturfonds und die Kohäsionspolitik für den Zeitraum 2000-2006 enthält, werden verschiedene Formen der Unterstützung genannt (u.a. die rückzahlbare und nichtrückzahlbare Direktbeihilfe), die über eine Beteiligung der Strukturfonds geleistet werden können. Artikel 44 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates mit allgemeinen Bestimmungen über die Kohäsionspolitik für den jetzigen Programmplanungszeitraum (2007-2013) geht auf Finanzierungsinstrumente ein, enthält jedoch keine angemessene rechtssprachliche Definition der rückzahlbaren bzw. der nichtrückzahlbaren Unterstützung.

2.2

Die Mitgliedstaaten nehmen rückzahlbare Formen der Unterstützung recht häufig in Anspruch, insbesondere nach den positiven Erfahrungen, die sie mit diesem Instrument im vergangenen Programmplanungszeitraum (2000-2006) gemacht haben.

2.3

Deshalb hat es sich als erforderlich erwiesen, die Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 zu ändern und darin eine allgemeine Definition der rückzahlbaren Beihilfen aufzunehmen, und in Bezug auf die Finanzierungsinstrumente eine Reihe von technischen Verfahren zu klären, da revolvierende Finanzierungsformen derzeit in mehr Bereichen verwendet werden als für bloße Finanzierungstechniken.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/79


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung gemeinsamer Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzstatus (Neufassung)“

KOM(2011) 319 endg. — 2009/0165 (COD)

2012/C 24/15

Der Rat beschloss am 19. Juli 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung gemeinsamer Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzstatus (Neufassung)

KOM(2011) 319 endg. — 2009/0165 (COD).

Da der Ausschuss sich bereits in seiner am 28. April 2010 verabschiedeten Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzstatus (Neufassung)“ (1) zu dem gegenständlichen Thema geäußert hat, beschloss er auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 149 Ja-Stimmen bei 5 Enthaltungen, von der Ausarbeitung einer neuen Stellungnahme abzusehen und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in der oben genannten Stellungnahme vertreten hat.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Mindestnormen/Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzstatus (Neufassung)“, ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 85–89.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/80


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Asylbewerbern (Neufassung)“

KOM(2011) 320 endg. — 2008/0244 (COD)

2012/C 24/16

Der Rat beschloss am 19. Juli 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Asylbewerbern

KOM(2011) 320 endg. — 2008/0244 (COD).

Da der Ausschuss sich bereits in seiner Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (Neufassung)“ vom 16. Juli 2009 (1) geäußert hat, beschloss er auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 148 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 12 Enthaltungen, von der Ausarbeitung einer neuen Stellungnahme abzusehen und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in der oben genannten Stellungnahme vertreten hat.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  EWSA-Stellungnahme „Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern“, ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 110.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/81


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates zu Vorkehrungen für die finanzielle Abwicklung in Bezug auf bestimmte, hinsichtlich ihrer Finanzstabilität von Schwierigkeiten betroffene bzw. von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedrohte Mitgliedstaaten“

KOM(2011) 482 endg. — 2011/0211 (COD)

2012/C 24/17

Hauptberichterstatter: Michael SMYTH

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 2. September bzw. am 5. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 177 des AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates hinsichtlich bestimmter Vorschriften zur finanziellen Abwicklung für bestimmte Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind

KOM(2011) 482 endg. — 2011/0211 (COD).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 20. September 2011 mit den Vorarbeiten zu diesem Thema.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) Michael SMYTH zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 89 gegen 2 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Änderung der Verordnung 1083/2006 zur Kenntnis. Diese Verordnung sieht die Möglichkeit vor, die Zahlungen an Länder, die von der Krise betroffen sind und die aus dem Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) oder dem Zahlungsbilanzmechanismus finanziellen Beistand erhalten haben, für den Zeitraum der Inanspruchnahme dieser Beistandsmechanismen zu erhöhen, ohne jedoch die insgesamt für den Zeitraum 2007-2013 für diese Länder bereitgestellten Mittel zu erhöhen.

1.2

Der EWSA befürwortet den Vorschlag.

1.3

Der EWSA bedauert jedoch, dass die Kommission, ausgehend von ihrer Mitteilung „ Regionalpolitik als Beitrag zum intelligenten Wachstum im Rahmen der Strategie Europa 2020 “ (KOM(2010) 553), nicht einen Schritt weiter gegangen ist und keine 100 % EU-Finanzierungsfazilität für Innovation und Projekte im Zusammenhang mit FuE vorgeschlagen hat, die besonders mittelständischen Unternehmen (KMU) zugute gekommen wären und dazu beigetragen hätte, mehrere der im Rahmen derEuropa-2020-Strategie gesetzten Ziele zu erreichen.

2.   Begründung

2.1

Gemäß Kommissionsvorschlag müssten sechs Länder, die momentan Beistand aus dem EFSM und dem Zahlungsbilanzmechanismus erhalten, weniger zu den Projekten beitragen, an denen sie sich im Rahmen der EU-Kohäsionspolitik beteiligen. Somit können einzelstaatliche Ergänzungsfinanzierungen durch die betroffenen Länder geringer ausfallen, was in Zeiten, in denen ihre Staatshaushalte sehr stark belastet sind, einen bedeutenden Beitrag dazu leisten würde, ihre krisengeschüttelten Wirtschaften wieder auf den Wachstunspfad zu bringen.

2.2

Der Ausschuss ist ebenfalls der Ansicht, dass es entscheidend ist, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit in den von der Krise am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten zu fördern, und deshalb unterstützt er den vorliegenden Vorschlag.

2.3

Im Oktober 2010 hat die Kommission eine Mitteilung mit dem Titel „Regionalpolitik als Beitrag zum intelligenten Wachstum im Rahmen der Strategie Europa 2020“ (KOM(2010) 553) angenommen, in der sie die Wichtigkeit der Entwicklung von Innovation, Forschung und Entwicklung in der ganzen Union deutlich unterstreicht und die potenzielle Rolle der Regionalpolitik in diesem Zusammenhang hervorhebt. In der Mitteilung betont sie außerdem die bisher nur schleppende Inanspruchnahme der Mittel, die für Innovationen bereitstehen. Es ist daher eine verpasste Gelegenheit, dass der jetzige Vorschlag keine 100 %-Finanzierung von Innovations-Projekten durch die Union erlaubt, was besonders den KMU zugute kommen würde.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/83


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates hinsichtlich bestimmter Vorschriften zur finanziellen Abwicklung für bestimmte Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind“

KOM(2011) 481 endg. — 2011/0209 (COD)

2012/C 24/18

Hauptberichterstatter: Michael SMYTH

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 13. September bzw. 5. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 42 und 43 des AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates hinsichtlich bestimmter Vorschriften zur finanziellen Abwicklung für bestimmte Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind

KOM(2011) 418 endg. — 2011/0209 (COD).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 20. September 2011 mit den Vorarbeiten zu diesem Thema.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 475. Plenartagung am 26. und 27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) Michael SMYTH zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 90 gegen 2 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Kenntnis, Artikel 70 der Verordnung 1698/2005 zu ändern. Diese Verordnung sieht die Möglichkeit vor, die Zahlungen an Länder, die von der Krise betroffen sind und die aus dem Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) oder dem Zahlungsbilanzmechanismus finanziellen Beistand erhalten haben, für den Zeitraum der Inanspruchnahme dieser Beistandsmechanismen zu erhöhen, ohne jedoch die insgesamt für den Zeitraum 2007-2013 für diese Länder bereitgestellten Mittel zu erhöhen.

1.2

Der EWSA befürwortet den Vorschlag.

2.   Begründung

2.1

Der vorliegende Vorschlag enthält besondere Bestimmungen für die Verordnung (EG) 1698/2005, die es ermöglichen, den für die Entwicklungsprogramme für den ländlichen Raum der betreffenden Mitgliedstaaten geltenden Satz der ELER-Beteiligung während des Zeitraums, in dem diese Mitgliedstaaten unter die Beistandsmechanismen fallen, in den unter das Konvergenzziel fallenden Regionen, den Regionen in äußerster Randlage und den kleineren Inseln des Ägäischen Meeres auf bis zu der zuschussfähigen öffentlichen Ausgaben und in den übrigen Regionen auf bis zu der zuschussfähigen öffentlichen Ausgaben anzuheben. Durch diese Bestimmungen, die nur so lange in Kraft bleiben, wie die entsprechenden Mitgliedstaaten die oben erwähnten Beistandsmechanismen in Anspruch nehmen, werden zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung gestellt und die weitere Durchführung der Programme vor Ort erleichtert. Somit können einzelstaatliche Ergänzungsfinanzierungen durch die betroffenen Länder geringer ausfallen, was in Zeiten, in denen ihre Staatshaushalte sehr stark belastet sind, einen bedeutenden Beitrag dazu leisten würde, ihre krisengeschüttelten Wirtschaften wieder auf den Wachstunspfad zu bringen.

2.2

Der EWSA ist ebenfalls der Ansicht, dass es entscheidend ist, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit in den von der Krise am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten zu fördern, und deshalb unterstützt er den vorliegenden Vorschlag.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/84


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1198/2006 des Rates über den Europäischen Fischereifonds hinsichtlich bestimmter Vorschriften zur finanziellen Abwicklung für bestimmte Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind“

KOM(2011) 484 endg. — 2011/0212 (COD)

2012/C 24/19

Hauptberichterstatter: Michael SMYTH

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 6. bzw. 29. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1198/2006 des Rates über den Europäischen Fischereifonds hinsichtlich bestimmter Vorschriften zur finanziellen Abwicklung für bestimmte Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind

KOM(2011) 484 endg. — 2011/0212 (COD).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 20. September 2011 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) Michael SMYTH zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 91 gegen 2 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt den Vorschlag der Kommission zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1198/2006 zur Kenntnis, durch den die Zahlungen angehoben werden sollen, indem der für die Prioritätsachse für Mitgliedstaaten, die von der Krise betroffen sind und aus dem Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) oder dem Zahlungsbilanzmechanismus finanziellen Beistand erhalten haben, geltende Kofinanzierungssatz für den fraglichen Zeitraum um zehn Prozentpunkte heraufgesetzt wird. Die im Rahmen der EU-Kohäsionspolitik für den Programmplanungszeitraum 2007-13 insgesamt zugewiesenen Mittel werden jedoch nicht angehoben.

1.2

Der EWSA befürwortet diesen Vorschlag.

2.   Begründung

2.1

Im Sinne des Vorschlags der Kommission müssten derzeit sechs Mitgliedstaaten, die unter den EFSM und den Zahlungsbilanzmechanismus fallen, einen geringeren Beitrag zu Projekten leisten, die sie im Rahmen der EU-Kohäsionspolitik kofinanzieren. Ihre nationale Kofinanzierung würde somit erleichtert, was in Zeiten gravierender Haushaltszwänge einen erheblichen Beitrag dazu leisten würde, ihre in Bedrängnis geratene Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.

2.2

Der Ausschuss ist sich darin einig, dass Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit in den von der Krise am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten unbedingt gefördert werden müssen, und unterstützt daher den oben genannten Vorschlag.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/85


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Online-Glücksspiele im Binnenmarkt“

KOM(2011) 128 endg.

2012/C 24/20

Berichterstatter: Stefano MALLIA

Die Europäische Kommission beschloss am 24. März 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Online-Glücksspiele im Binnenmarkt

KOM(2011) 128 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 3. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober (Sitzung vom 26. Oktober) mit 126 gegen 4 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Kommission möchte mit der Konsultation im Rahmen des Grünbuchs ihre Kenntnisse bezüglich der Online-Glücksspielbranche verbessern, die rasch wächst, grenzüberschreitend tätig und durch verschiedene, von den Mitgliedstaaten derzeit umgesetzte nationale Rechtsvorschriften gekennzeichnet ist.

1.2   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stellt fest, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Ziele verfolgen. Dazu zählen die Bekämpfung des illegalen Glückspiels, der Verbraucherschutz, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Finanzierung von im Allgemeininteresse liegenden Tätigkeiten (gemeinnützigen Zwecken).

1.3   Der Verbraucherschutz ist ein Bereich, in dem die EU einen Mehrwert für ihre Bürgerinnen und Bürger erbringen kann. Die EU sollte einen Rechtsrahmen in Form von EU-Verbraucherschutzvorschriften schaffen, die für alle in der EU lizenzierten Anbieter verbindlich sind. Auf diese Weise würde ein Mindestmaß (nicht aber ein niedriges Maß) an Verbraucherschutzstandards geschaffen. Nationale Regierungen müssen jedoch weiterhin das Recht haben, gegebenenfalls höhere Verbraucherschutzstandards für ihre Märkte festzulegen; konkret müssen die von den Mitgliedstaaten kommenden Vorschriften u.a. die Prävention und Behandlung der Spielsucht zum Ziel haben.

1.4   Die Bekämpfung von Betrug, Identitätsdiebstahl, Geldwäsche, und weiteren Vergehen erfordert eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten auf EU-Ebene. Der EWSA fordert eine formalisierte Struktur der Zusammenarbeit auf EU-Ebene zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten. Insbesondere sollte jeder Mitgliedstaat eine Liste der Anbieter zur Verfügung stellen, die in dem betreffenden Land lizenziert sind, und der Geltungsbereich der Geldwäscherichtlinie (1) sollte über Kasinos hinaus auf Online-Glücksspiele ausgeweitet werden, wodurch nationale Behörden mehr Befugnisse bei der Bekämpfung illegaler Aktivitäten erhalten.

1.5   Die Möglichkeiten zum Glücksspiel können zu Glücksspielsucht führen. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine unionsweite Studie durchzuführen, um die Charakteristika der Glücksspielsucht gänzlich zu erfassen. Im Anschluss an diese Studie sollten geeignete Maßnahmen (z.B. zur Prävention) ergriffen werden. Zu diesem Zweck empfiehlt der EWSA, dass ein Teil der Steuereinnahmen für die Prävention und Behandlung der Spielsucht verwendet wird.

1.6   Der EWSA fordert auch die Einführung strenger Rechtsvorschriften über das Verbot von Glücksspielwerbung, die sich an Minderjährige richtet bzw. die Minderjährige oder Personen zeigt, deren Alter unter der nationalen Altersgrenze für die Teilnahme an Glücksspielen zu liegen scheint, um einen wirksamen Schutz von Minderjährigen und anderen Risikogruppen sicherzustellen.

1.7   Kennzeichnend für die Branche sind derzeit die nicht genehmigte Erbringung von Glücksspieldienstleistungen durch Anbieter ohne Lizenz (im Grünbuch als „Schwarzmarkt“ definiert) sowie durch Anbieter, die in einem Mitgliedstaat lizensiert sind, die ihre Dienstleistungen aber den Verbrauchern in einem anderen Mitgliedstaat ohne erforderliche Genehmigung anbieten (im Grünbuch als „Graumarkt“ definiert). Für eine kohärente Entwicklung der Branche und die Vereinbarkeit von Zielen von öffentlichem Interesse mit Binnenmarktgrundsätzen bedarf es mehr Rechtssicherheit.

1.8   Es gibt viele unterschiedliche Formen der Finanzierung von Maßnahmen von öffentlichem Interesse in den Mitgliedstaaten. Der EWSA stimmt dem Grundsatz zu, dem zufolge festgelegte prozentuale Anteile der Einnahmen aus bzw. Steuern auf Glücksspiele unmittelbar für den Sport im Allgemeinen oder andere Aktivitäten von öffentlichem Interessen verwendet werden.

1.9   Der EWSA stimmt den vom Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ am 10. Dezember 2010 angenommenen Schlussfolgerungen zum Rechtsrahmen im Bereich Glücksspiele und Wetten zu.

1.10   Der EWSA fordert die Kommission auf, die Folgen grenzüberschreitender Angebote für die Finanzierung des Sports (einschließlich der Frage, ob diese Finanzierung den Basissport erreicht) zu untersuchen und konkrete Maßnahmen zur Gewährleistung der Sportfinanzierung vorzuschlagen.

1.11   Die Mitgliedstaaten setzen auf Präventiv- und Repressivmaßnahmen gegen illegale Online-Glücksspielangebote. Die starke Zunahme illegaler Angebote lässt erkennen, dass solche Maßnahmen nicht wirksam genug sind. Deshalb hält es der EWSA für notwendig, ein System von Verstößen und Strafen einzurichten, um die wirksame Anwendung der Rechtsvorschriften zu gewährleisten – bis hin zur Sperrung von Aktivitäten und zur Schließung der Medien, über die die Dienstleistungen der Informationsgesellschaft, die illegale Glücksspielaktivitäten ermöglichen, erbracht werden, einschließlich der Beschlagnahme und Zerstörung aller Elemente, die mit der Durchführung solcher Aktivitäten im Zusammenhang stehen.

1.12   Die Behörden und die Sozialpartner müssen Garantien vorsehen, damit die Initiativen des Online-Glücksspiels keine Auswirkungen auf die Beschäftigung in der Branche der Präsenzspiele haben.

2.   Einleitung

2.1   Der EWSA begrüßt das Grünbuch zum Online-Glücksspiel als eine gute Initiative für eine praxisorientierte und eingehende Diskussion über die Zukunft der Branche in Europa. Angesichts dieser Aufgaben ersucht der EWSA die EU, dringend eine eingehende Studie zu erarbeiten, um die potenziellen Auswirkungen auf die Beschäftigung in der gesamten – öffentlichen wie privaten - Glücksspielbranche bewerten zu können.

2.2   Die von der Kommission mit ihrem Grünbuch eingeleitete Konsultation hat zum Ziel, einen umfassenden Dialog über Online-Glücksspiele zu erreichen, um zu einem besseren Verständnis der konkreten Probleme zu gelangen, die sich aus dem wachsenden legalen Angebot wie auch dem Angebot ohne Zulassung (d.h. Schwarz- und Graumarkt) an Online-Glücksspielen für in der EU ansässige Verbraucher ergeben. Aufgrund der Art dieser Dienstleistungen unterliegt ihre Erbringung oftmals nicht der Kontrolle der nationalen Regierungen, für deren Bürger diese Spiele angeboten werden.

2.3   Dieses Grünbuch ist auch eine Reaktion auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. März 2009 zu der Integrität von Online-Glücksspielen (2) und wurde vom Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 10. Dezember 2010 zum Rechtsrahmen für Glücksspiele und Wetten in den EU-Mitgliedstaaten (3) gefordert.

2.4   In der EU gibt es diverse Rechtsvorschriften für Glücksspiele, wobei diese Vorschriften in vielen Mitgliedstaaten gegenwärtig überarbeitet werden, um der Ausweitung des Online-Marktsegments über die nationalen Grenzen hinaus Rechnung zu tragen.

2.5   Das Hauptziel der Kommission besteht darin, eine Konsultation einzuleiten, um damit ein faktenbasiertes Bild von der aktuellen Situation der Online-Glücksspiele in der EU zu erhalten. Zweck der Konsultation ist also eine klare Darstellung der Herausforderungen für die Gesellschaft und öffentliche Ordnung, die sich aus Online-Glücksspielen in der EU ergeben, sowie der Herausforderungen in den Bereichen Regulierung und Technologie.

2.6   Der EWSA fordert die EU-Institutionen und insbesondere die Kommission auf, dringend die entscheidende Frage der Wettbewerbsverzerrungen durch nicht zugelassene Unternehmen anzugehen, die ihren Sitz nicht in dem Wohnsitzland der Verbraucher haben, denen sie ihre Online-Glücksspieldienstleistungen anbieten, und die in ihrem Ursprungsland von niedrigen Steuern und Sozialbeiträgen profitieren.

Parallel dazu fordert der EWSA auch die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, illegale Anbieter („Schwarzmarkt“) rigoros zu bekämpfen, auf die die meisten Fälle von Betrug und Geldwäsche sowie andere Vergehen zurückzuführen sind.

3.   Ziele von öffentlichem Interesse

3.1   Der EWSA hält es für unentbehrlich, den Schutz der im Grünbuch genannten Ziele von öffentlichem Interesse sicherzustellen, insbesondere den Schutz der Verbraucher vor Betrug, problematischem Spielverhalten und Spielsucht sowie deren schädlichen Folgen, d.h. gesundheitlichen Problemen und Überschuldung. Die Entwicklung der Glücksspielbranche muss auf nationalen Genehmigungen der Mitgliedstaaten beruhen, um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, Betrug zu bekämpfen, Suchtverhalten zu verhindern, die Rechte von Minderjährigen zu schützen und die Rechte der Teilnehmer an Glücksspielen sicherzustellen.

3.2   In dieser Hinsicht stellt der EWSA fest, dass es eine Reihe von Zielen gibt, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind, nämlich: die Bekämpfung illegaler Glücksspiele, Schutz der Verbraucher (Spieler, Minderjährige und besonders Schutzbedürftige, Suchtbekämpfung), Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Betrugsprävention, Geldwäsche und andere Verbrechen) und Finanzierung von im Allgemeininteresse liegenden Tätigkeiten (gemeinnützige Zwecke) und die Verteidigung der Arbeitnehmer/-innen der Branche des Online-Glücksspiels und des Glücksspiels in seinen unterschiedlichen heutigen Formen.

3.3   Angesichts der Besonderheit der Online-Glücksspiele infolge der damit verbundenen sozialen Fragen und Aspekte der öffentlichen Ordnung und des Gesundheitswesens weist der EWSA im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs darauf hin, dass die Mitgliedstaaten mangels gemeinschaftlicher Harmonisierung einen „Ermessensspielraum“ (4) haben, um ihre Glückspielmärkte entsprechend ihrer Tradition und Kultur zu regulieren und zu kontrollieren. Die restriktiven Maßnahmen, die sie auferlegen, müssen jedoch die Kriterien erfüllen, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bezüglich ihrer Verhältnismäßigkeit festgelegt sind (5).

3.4   Gleichwohl gibt es eine Reihe von Zielen, die die Mitgliedstaaten alleine nicht hinreichend verwirklichen können und bei denen sich durch das Handeln auf EU-Ebene ein eindeutiger Mehrwert erzielen ließe.

3.5   Da diese Ziele allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind, empfiehlt der EWSA die Förderung des Austauschs bewährter Methoden zwischen diesen Ländern. In diesem Zusammenhang konstatiert der EWSA auch, dass es eine Reihe von Selbstregulierungsinitiativen der öffentlichen und kommerziellen Glücksspielanbieter gibt. Der EWSA betont gleichwohl, dass die Selbstregulierung der Industrie einschlägige Gesetze nicht ersetzen, sondern nur ergänzen kann. Angesichts dessen ist der EWSA der Auffassung, dass die EU-Institutionen sich abstimmen und ihre Anstrengungen darauf ausrichten sollten, die europäische Dimension in diese gemeinsamen Ziele einfließen zu lassen, wobei das Subsidiaritätsprinzip umfassend zu wahren ist.

3.6   Der Verbraucherschutz ist ein Bereich, in dem die EU tatsächlich einen Mehrwert erbringen kann. Nach Auffassung des EWSA sollten die EU-Institutionen einen anfänglichen EU-Rahmen in Form von EU-Verbraucherschutzvorschriften schaffen, die für alle in der EU lizenzierten Anbieter verbindlich sind. Auf diese Weise würde ein Mindestmaß (nicht aber ein niedriges Maß) an Verbraucherschutzstandards geschaffen. Dieses Mindestschutzniveau sollte Aspekte umfassen wie die Notwendigkeit der Verhinderung problematischen Spielverhaltens, der Festlegung von Altersgrenzen für den Zugang zu jeglichen Glücks- und Hasardspielen, die Untersagung der Inanspruchnahme von Krediten und das Verbot jeglicher Form von Glücksspielwerbung, die sich an Minderjährige richtet bzw. Minderjährige oder Personen zeigt, deren Alter unter der nationalen Altersgrenze für die Teilnahme an Glücksspielen zu liegen scheint. Nationale Regierungen würden jedoch weiterhin das Recht haben, gegebenenfalls höhere Verbraucherschutzstandards für ihre Märkte festzulegen.

3.6.1   Im gesamten EU-Markt sollten Verbraucher in der Lage sein, zwischen illegalen Internetportalen und von einem EU-Mitgliedstaat genehmigten Portalen zu unterscheiden. In dieser Hinsicht empfiehlt der EWSA, dass jeder Mitgliedstaat jeden Anbieter, der für seine Tätigkeit eine Lizenz eben dieses Landes besitzt, dazu verpflichtet, an einer festen und herausragenden Stelle auf der Eingangsseite seiner Internetpräsenz ein interaktives Kennzeichen zu platzieren, das zeigt, dass es sich um einen lizenzierten Anbieter handelt. Das Kennzeichen ist von allen Mitgliedstaaten zu verwenden und sollte gemeinsame Gestaltungsmerkmale aufweisen, damit es überall in der EU leicht wiederzuerkennen ist. Aber auch das Herkunftsland, in dem die Lizenz ausgestellt wurde, muss klar erkennbar sein. Die Europäische Kommission sollte für die Durchführung dieser Maßnahme zuständig sein.

3.7   Der EWSA schlägt die Schaffung einer unabhängigen Instanz in jedem Mitgliedstaat vor, die für die Überwachung und Gewährleistung der wirksamen Umsetzung der unter 3.6 genannten Verbraucherschutzvorschriften zuständig wäre. Die Einführung von EU-Verbraucherschutzvorschriften sollte in jedem Mitgliedstaat durch eine Informationskampagne flankiert werden. Die nationalen Behörden jedes Mitgliedstaats müssen die Anbieter dazu verpflichten, die Nummer der staatlichen Genehmigung gut sichtbar aufzuführen, damit die Identität des Glücksspielanbieters bekannt ist und die Beschwerden der Verbraucher entsprechend dem nationalen Verbraucherschutzrecht und gemäß der Rechtsprechung ihres Wohnsitzlands beigelegt werden.

3.8   Die Maßnahmen für verantwortungsvolles Glücksspiel setzen voraus, dass Glückspielaktivitäten im Rahmen einer umfassenden Politik der sozialen Verantwortung der Unternehmen angegangen werden. Dabei sollte das Glücksspiel als komplexes Phänomen aufgefasst werden, das eine Kombination von Maßnahmen zur Prävention, Sensibilisierung, Intervention und Kontrolle sowie zur Schadensbehebung erfordert. Dazu gehört:

den Risikogruppen gebührende Aufmerksamkeit zu widmen;

den Bürgerinnen und Bürgern die notwendigen Informationen bereitzustellen, damit sie bei ihren Glücksspielaktivitäten eine bewusste Wahl treffen können, wodurch ein gemäßigtes, nicht zwanghaftes und verantwortungsvolles Glücksspielverhalten gefördert wird;

je nach Art des einzelnen Glücksspiels und der in ihm verwendeten Mittel über das Verbot der Teilnahme an Glücksspielen für Minderjährige oder Personen, die freiwillig den Ausschluss beantragt haben, zu informieren.

3.9   Der EWSA stellt fest, dass nur einige Mitgliedstaaten hinreichende Daten über Spielsucht zusammengetragen haben. Es wurden eine Reihe nationaler empirischer Untersuchungen durchgeführt, die unterschiedliche, teils widersprüchliche Schlussfolgerungen enthielten. Fest steht jedoch, dass Spielmöglichkeiten zu Spielsucht führen können, was wiederum gesellschaftliche Probleme aufwirft. Bei der Gestaltung der Verbraucherschutzpolitik für diese Branche muss diesem Aspekt stets Rechnung getragen werden.

3.10   Es gilt auch Aspekte wie die neuen Möglichkeiten für Online-Glücksspiele zu bedenken, da durch die neuen Technologien mehr Glücksspielforen für Menschen geschaffen werden, die vergleichsweise viel Zeit zu Hause verbringen, z.B. Rentner, Hausfrauen und Arbeitslose. Es muss gewährleistet werden, dass Minderjährige und nicht spielberechtigte Personen sowie Personen, die dies selbst so wünschen oder denen dies aufgrund eines Gerichtsbeschlusses untersagt ist, keinen Zugang zu Glücksspielen haben, die über telematische und interaktive Medien angeboten werden.

3.11   Der EWSA fordert eine umfassende unionsweite Studie, um ein genaues Bild des Suchtverhaltens bei Glücksspielen im Internet und außerhalb des Internets zu erstellen, damit der EU-Gesetzgeber wirksame und gezielte Maßnahmen ergreifen und diesem Problem vorgreifen kann.

3.12   Der EWSA ist der Auffassung, dass eine effiziente Möglichkeit zur Eindämmung der Geldwäsche in der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf EU-Ebene besteht, um dem Ausufern des illegalen Online-Glücksspiels in der EU entgegenzuwirken. Der EWSA fordert daher, dass die EU-Mitgliedstaaten zur Erreichung dieses Ziels wirksame Mechanismen in Gang setzen, die sicherlich positive Auswirkungen im Sinne einer Erhöhung der Steuereinnahmen haben werden.

3.13   Der EWSA ist zudem der festen Überzeugung, dass die Geldwäscherichtlinie über Kasinos hinaus auf Online-Glücksspiele ausgeweitet werden sollte, wodurch die nationalen Behörden mehr Befugnisse zur Bekämpfung dieser kriminellen Aktivitäten erhalten würden.

3.14   In Bezug auf Spielabsprachen ist der EWSA der Ansicht, dass die Integrität des Sports um jeden Preis gewahrt werden muss. Der EWSA nimmt die Beiträge öffentlicher und einiger privater Wettanbieter zur Integrität der Sportwetten, zu Bildungsprogrammen für Athleten und offizielle Sportvertreter und zu Früherkennungs- und Frühwarnsystemen bezüglich verdächtigem Wettverhalten sowie ihre unterschiedliche Qualität und Dimension zur Kenntnis. Der EWSA hält einen Rahmen für Koordinierungsmaßnahmen aller betroffenen Akteure für notwendig, um einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen und eine Doppelung von Ressourcen zu vermeiden. Insbesondere sollte ein System eingerichtet werden, das nicht auf die bloße Ermittlung beschränkt ist, sondern auch Präventiv-, Bildungs- und Durchsetzungsmaßnahmen umfasst.

3.15   Schließlich wird im Grünbuch auch die Finanzierung gemeinnütziger und im Allgemeininteresse liegender Tätigkeiten sowie von Sportereignissen angesprochen, die Gegenstand von Online-Sportwetten sind. Der EWSA spricht sich für ein System aus, durch das diese Aktivitäten und Veranstaltungen einen Teil der aus Glücksspielen gewonnenen Einnahmen erhalten, wie sie in den vom Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ am 10. Dezember 2010 angenommenen Schlussfolgerungen zum Rechtsrahmen im Bereich Glücksspiele und Wetten anerkannt wurden. Er fordert die Kommission auf, konkrete Schritte vorzuschlagen, um solche nationalen Finanzierungsmechanismen aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus sollte nach Auffassung des Ausschusses vermieden werden, dass solche „Aktivitäten“ dazu eingesetzt werden, den negativen sozialen Konnotationen des Glücksspiels entgegenzuwirken, und dass sie das Glücksspiel in der Annahme, dieses diene einem guten Zweck, weiter fördern. Des Weiteren fordert der EWSA in diesem Zusammenhang, dass ein Teil der Steuereinnahmen für die Finanzierung von Therapien zur Prävention und Behandlung von Spielsucht sowie für die berufliche Aus- und Weiterbildung der Arbeitnehmer/-innen der Branche verwendet werden.

4.   Niederlassung und Lizenzvergabe

4.1   Die Online-Glücksspielbranche ist derzeit von einer Zersplitterung gekennzeichnet, die aus unterschiedlichen Rechtsvorschriften der EU-Mitgliedstaaten resultiert.

4.2   Eines der Hauptprobleme, vor denen die Branche steht, ist die Tatsache, dass die in einem Mitgliedstaat lizenzierten Anbieter Dienstleistungen für Verbraucher in einem anderen Mitgliedstaat ohne die Genehmigung erbringen können, die in dem betreffenden Land erforderlich ist. Solche Angebote gelten als „ungenehmigt“ (6).

4.3   Andererseits übermittelte die Kommission zwischen April 2006 und Februar 2008 zwölf Mahnschreiben an zehn Mitgliedstaaten und erstellte im Falle von sieben dieser Länder eine mit Gründen versehene Stellungnahme. Am 5. Mai 2010 stellte die Kommission die Verfahren gegen Italien und am 24. November 2010 das Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich ein. Die Kommission eröffnete aufgrund der zahlreichen bei ihr eingegangenen Beschwerden über mutmaßliche Vertragsverstöße Vertragsverletzungsverfahren wegen Beschränkungen des grenzüberschreitenden Angebots an Glücksspieldienstleistungen, um die Verhältnismäßigkeit dieser Einschränkungen zu verifizieren. Der EWSA fordert die Kommission auf, klar festzulegen, wie sie mit den anhängigen Rechtssachen verfahren wird.

4.4   In Bezug auf die Art und den Rechtsstatus des Online-Glücksspiels sind bis dato mehrere Grundsätze aus der Rechtsprechung hervorgegangen. Vor allem fallen Glücksspieldienste unter Artikel 56 AEUV und unterliegen somit den Bestimmungen für die Erbringung von Dienstleistungen.

4.5   Da Glücksspiele bisher keinen unionsweiten Regelungen unterliegen, behalten die Mitgliedstaaten einen „Ermessensspielraum“ bei der Regulierung dieser Dienstleistungen, darunter die Begrenzung der Zahl der Anbieter, Arten von Spielen und deren Umfang (7).

4.6   Der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zufolge dürfen in einem Mitgliedstaat zugelassene Anbieter ihre Dienste Verbrauchern in anderen Mitgliedstaaten grundsätzlich anbieten, es sei denn, dort wurden Beschränkungen auferlegt, die aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses wie dem Verbraucherschutz oder der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sind.

4.7   Solche Beschränkungen müssen verhältnismäßig und diskriminierungsfrei sowie Teil einer Politik sein, die konsequent und systematisch angewandt wird.

4.8   Der EWSA stellt fest, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nicht für die Glücksspielbranche gilt; somit kann ein Mitgliedstaat davon ausgehen, dass die bloße Tatsache, dass ein Anbieter seine Spiele in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig anbietet, keine hinreichende Garantie dafür ist, dass Verbraucher innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats gegen Betrugs- und Verbrechensrisiken geschützt sind, u.a. wegen der Schwierigkeiten, die die Behörden des Mitgliedstaats der Niederlassung in einem solchen Kontext bei der Bewertung der professionellen Qualitäten und der Integrität der Anbieter haben können.

4.9   Unter Bezug auf Ziffer 4.8 steht aber auch weiter außer Frage, dass die Branche mehr Rechtssicherheit benötigt, wenn ihre mit der öffentlichen Ordnung verbundenen Ziele und die Binnenmarktgrundsätze kohärenter entwickelt werden sollen. Die Grünbuchkonsultation sollte einen wichtigen Anstoß in diese Richtung liefern.

4.10   Darüber hinaus ist der EWSA der Ansicht, dass es auch strenger Regelungen für die Glücksspielwerbung bedarf, um den Schutz besonders gefährdeter Gruppen (z.B. Minderjährige) zu gewährleisten. Es ist besonders wichtig, diesbezüglich Grenzen festzulegen, vor allem um zu vermeiden, dass Minderjährige und nicht spielberechtigte Personen Zugang erhalten, und um die Verwendung von Bildern, Botschaften und Gegenständen, die die Menschenwürde und die Grundrechte und -freiheiten direkt oder indirekt verletzten können, sowie jegliche Form der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder des Geschlechts, des Aufrufs zu Gewalt oder der Ausübung von Straftaten zu verhindern.

5.   Sport

5.1   Die Kommission richtet ihr Augenmerk auf zwei sportbezogene Fragestellungen: 1. Sollte ein angemessener Mittelrückfluss von den betreffenden Glücksspielen zu den Sportereignissen stattfinden, auf deren Ergebnisse gewettet wird? 2. Besteht ein „Freifahrt-Risiko“?

5.2   Der EWSA stellt fest, dass es viele unterschiedliche Formen der Finanzierung von Maßnahmen von öffentlichem Interesse in den Mitgliedstaaten gibt. In einigen Mitgliedstaaten sehen die Rechtsvorschriften z.B. für die nationalen Lotterien die unmittelbare Abgabe eines bestimmten Prozentsatzes ihrer Einnahmen an den Sport oder andere im öffentlichen Interesse liegende Aktivitäten vor. In anderen Mitgliedstaaten leitet das Finanzministerium einen Teil der Steuereinnahmen aus Glücksspielen in ausgewählte Bereiche von öffentlichem Interesse.

5.3   Der EWSA stimmt dem Grundsatz zu, dem zufolge festgelegte prozentuale Anteile der Einnahmen aus bzw. Steuern auf Glücksspiele unmittelbar für den Sport oder andere Aktivitäten von öffentlichem Interesse verwendet werden.

5.4   Der EWSA unterstreicht den wichtigen Beitrag staatlicher/nationaler Lotterien und anderer legaler Glücksspielaktivitäten zur Finanzierung des Sports, insbesondere des Basissports. Der EWSA stellt auch fest, dass sich die Bereitstellung von Online-Glücksspielen und Wettdiensten durch Anbieter, die in einem bestimmten Rechtssystem niedergelassen sind, auf die Finanzierung des Sports und weiterer Ziele von öffentlichem Interessen in einem anderen Hoheitsgebiet, wo er Dienstleistungen erbringt, negativ auswirken könnte.

5.5   Dementsprechend fordert der EWSA die Kommission auf, die Folgen grenzüberschreitender Angebote für diese Finanzierung zu ermitteln, dabei zu untersuchen, ob diese Finanzierung den Basissport erreicht und neue konkrete Maßnahmen zur Gewährleistung der Sportfinanzierung vorzuschlagen.

5.6   Der EWSA äußert Vorbehalte gegen die mögliche Schaffung des „Sportrechts“ bzw. des Rechts auf angemessenen Mittelrückfluss. Der EWSA ist der Auffassung, dass Klärungsbedarf besteht, um zu verstehen, was das Recht auf angemessenen Mittelrückfluss bedeutet und ob es auf europäischer Ebene zur Schaffung eines neuen Rechts des geistigen Eigentums in Bezug auf Sportveranstaltungen führt.

5.7   Er fordert deshalb die Kommission auf, Art, Geltungsbereich und Auswirkungen dieses Rechts sowie die ihm zugrunde liegende Rechtsgrundlage klarzustellen.

5.8   Das „Freifahrt“-Problem ist eine steuerliche Frage und sollte als solche nach Einschätzung des EWSA in die nationale Zuständigkeit fallen. Der EWSA ist aber auch der Ansicht, dass auch über einen gerechten Ansatz zur Bereitstellung eines Mittelrückflusses für alle beteiligten Akteure diskutiert und zwischen den Mitgliedstaaten entschieden werden muss. Es handelt sich um ein schwieriges Diskussionsthema auf EU-Ebene; allerdings muss es zu einem bestimmten Zeitpunkt eingehender erörtert werden, um größere Störungen in dieser Branche zu vermeiden.

5.9   Der EWSA fordert die Kommission auf zu klären, ob tatsächlich eine Verbindung zwischen den im Grünbuch aufgeworfenen Sportfragen und der Integrität des Sports besteht, oder ob es sich dabei um unterschiedliche, getrennt zu behandelnde Themen handelt. Außerdem könnte die Kommission verdeutlichen, ob sie der Auffassung ist, dass die Schaffung eines Rechts auf angemessenen Mittelrückfluss („Sportrecht“) wirklich geeignet ist, um die Integrität des Sports sicherzustellen.

6.   Durchsetzung

6.1   Ein weiteres zentrales Thema, das es dringend anzugehen gilt, ist die Erbringung von Glücksspieldienstleistungen überall in der EU (8), zulasten des Verbraucherschutzes, des Allgemeinwohls und der Finanzierung von Zielen von öffentlichem Interesse.

6.2   Die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ist entscheidend, um die Verbraucher in der EU vor illegalen Anbietern zu schützen. In dieser Hinsicht würde nach Auffassung des EWSA eine formalisierte Struktur der Zusammenarbeit in Regulierungsfragen auf EU-Ebene diese Zusammenarbeit erleichtern (9). Insbesondere sollte jeder Mitgliedstaat eine Liste der Anbieter zur Verfügung stellen, die in dem betreffenden Land lizenziert sind. Jede dieser Listen sollte der Kommission, den Mitgliedstaaten, den nationalen Regulierungsstellen und den Verbrauchern zugänglich gemacht werden. Die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten sollte den Austausch bewährter Verfahren umfassen.

6.3   Der EWSA weist auf einen Mangel an branchenspezifischen Daten hin. Deshalb ist es nicht möglich, die Branche und insbesondere ihre Dynamik angemessen zu analysieren. Der EWSA schlägt angesichts dessen vor, gemeinsame Datenerhebungskriterien auf EU-Ebene festzulegen und allen Regulierungsbehörden vorzuschreiben, die ihrerseits wiederum alle Lizenzinhaber dazu verpflichten würden, die erforderlichen Daten zu übermitteln. Die Daten können dann auf EU-Ebene aggregiert werden. Informationen über Maßnahmen gegen illegale Spieleportale wären ebenfalls nützlich, um die Wirksamkeit der nationalen Anstrengungen zur Bekämpfung des Schwarzmarkts zu bewerten.

6.4   Der Kampf gegen illegale Anbieter erfordert wirksame Durchsetzungsmaßnahmen. Für den EWSA ist dies ein Schwachpunkt, bei dem die Mitgliedstaaten mehr tun müssen, um illegale Glücksspielbetreiber daran zu hindern, im Internet ihre Dienste anzubieten, womit ein System von Sanktionen bei Verstößen verbunden sein könnte. Er ersucht deshalb die Kommission zu prüfen, ob ein rechtsverbindliches Instrument vorgeschlagen werden kann, mit dem Banken, Kreditkartenunternehmen und sonstige Teilnehmer an Bezahlsystemen in der EU dazu verpflichtet werden, Transaktionen zwischen den Betreibern illegaler Glücksspiele und ihren Kunden zu blockieren, ohne aber rechtmäßige Transaktionen zu behindern Dies umfasst potenziell auch die Sperrung von Aktivitäten, die die Schließung der Medien, über die die Dienstleistungen der Informationsgesellschaft, die illegale Glücksspielaktivitäten ermöglichen, erbracht werden, einschließlich der Beschlagnahme und Zerstörung aller Elemente, die mit der Durchführung solcher Aktivitäten im Zusammenhang stehen.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Richtlinie 2005/60/EG, ABl. L 309 vom 25.11.2005, S. 15.

(2)  http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+Report+A6-2009-0064+0+DOC+XML+V0//DE.

(3)  http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/intm/118398.pdf.

(4)  C-212/08 Zeturf - Vorabentscheidung; Urteil vom 30. Juni 2011, Randnummer 39.

(5)  Placanica u.a., Ziffer 48; Liga Portuguesa u.a., Ziffer 59.

(6)  Grünbuch SEK(2011) 321 endg., S. 6.

(7)  C-212/08 Zeturf - Vorabentscheidung; Urteil vom 30. Juni 2011, Absatz 39.

(8)  Siehe letzter Absatz auf S. 3. des Grünbuchs.

(9)  Mehrere Mitgliedstaaten beteiligen sich freiwillig am Gaming Regulators European Forum (GREF), dem Europäischen Forum der für Glücksspiele zuständigen Regulierungsbehörden: http://www.gref.net/.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Der folgende Absatz wurde aufgrund des im Plenum angenommenen Änderungsantrags gestrichen, erhielt jedoch mindestens ein Viertel der Stimmen (Artikel 54 Absatz 4 der Geschäftsordnung):

Ziffer 4.11

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Anforderungen und Bedingungen zu beurteilen, die gegenwärtig für nationale Lizenzen und Kontrollen in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehen, um ein gemeinsames Bündel an Bedingungen zu erarbeiten, das dann jedes Mal zur Anwendung kommt, wenn ein Lizenzinhaber eines EU-Lands eine Lizenz in einem anderen Land beantragt, wobei gleichzeitig die Achtung der mit der öffentlichen Ordnung verbundenen Ziele gewährleistet sein muss (siehe Abschnitt 2).

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

73

Nein-Stimmen

:

46

Enthaltungen

:

18


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/91


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch — Europäischer Corporate-Governance-Rahmen“

KOM(2011) 164 endg.

2012/C 24/21

Berichterstatterin: Milena ANGELOVA

Mitberichterstatter: Denis MEYNENT

Die Europäische Kommission beschloss am 5. April 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Grünbuch — Europäischer Corporate-Governance-Rahmen

KOM(2011) 164 endg.

Die mit Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 3. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 168 gegen 6 Stimmen bei 14 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die dem Grünbuch der Europäischen Kommission zugrunde liegende Intention, empfiehlt jedoch nachdrücklich (1) eine genauere und solidere Definition von Corporate Governance.

1.2   Das Grünbuch enthält wichtige Fragestellungen. Bei ihrer Beantwortung verweist der EWSA stets auf die in Ziffer 2.14 aufgeführten zehn Grundsätze der guten Unternehmensführung und ersucht die Kommission, mit geeigneten Maßnahmen sicherzustellen, dass diese sowie die in Ziffer 2.15 aufgeführten relevanten operationellen Regeln von allen Unternehmen befolgt werden.

1.3   Angesichts der in Ziffer 2.4 beschriebenen enormen Bandbreite an nationalen Modellen der Unternehmensführung fällt es dem EWSA schwer, eine Pauschallösung für alle zu finden. Die besonderen Eigenheiten der Gesetzgebung, der Traditionen, der Geschäftspraktiken und der Verhaltensmuster von Aktionären sind von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden und stellen für die Erarbeitung eines soliden rechtlichen Rahmens auf EU-Ebene eine große Herausforderung dar.

1.4   Auch wenn sich nach Ansicht des EWSA die Antwort auf die Mehrheit der Fragen des Grünbuchs in nationalen Corporate-Governance-Kodizes findet, sollte dies die EU nicht daran hindern, eine gesetzgeberische Maßnahme mit dem im Grünbuch vorgesehenen Themen- und Geltungsbereich zu ergreifen, um die Corporate Governance in der EU zu verbessern und so den Besitzstand der Rechtsvorschriften und nicht verbindlichen Bestimmungen zu optimieren.

1.5   Der EWSA ruft die Kommission jedoch dazu auf, Beschlüsse über Regulierungsinitiativen mit Vorsicht anzugehen. Aus diesem Grund wird dringend empfohlen, im Vorfeld jeglicher Rechtssetzung eine gründliche Folgenabschätzung durchzuführen.

1.6   Der EWSA hebt hervor, dass die Kommission im Hinblick auf angemessene Antworten auf die Fragen 16 bis 25 eine ausführliche Studie durchführen und vorlegen sollte, die über die jüngsten Entwicklungen und Tendenzen bei den Typen von Aktionären, ihrer Struktur und ihrer relativen Bedeutung gemessen an den gehaltenen Aktien Auskunft gibt.

2.   Einleitung

2.1   Der EWSA begrüßt die in einer Reihe von Texten dargelegte und in den Mittelpunkt ihres Reformprogramms gestellte umfassende Initiative der Kommission zur Verbesserung der Corporate Governance (2). In der vorliegenden Stellungnahme sollen die Standpunkte des EWSA zu den einschlägigen bisherigen Dokumenten der Europäischen Kommission dargelegt und weiterentwickelt werden (3).

2.2   Zweck des Grünbuchs ist die Verbesserung der Unternehmensführung in der Europäischen Union durch Optimierung des Systems aus Rechtsvorschriften und nicht zwingendem Recht („soft law“). Unterteilt in drei Abschnitte werden 25 Fragen gestellt, die auf die Zusammensetzung und Arbeit des Verwaltungsrats, die Rolle der Aktionäre und die Anwendung des Grundsatzes „Mittragen oder Begründen“ („comply or explain“), der die Basis des europäischen Corporate-Governance-Rahmens bildet, Bezug nehmen.

2.3   Der Ausschuss bezieht sich bei der Beantwortung der Fragen im Grünbuch stets auf das oberste Leitungsorgan des Unternehmens, bei dem es sich um einen Verwaltungsrat oder einen Aufsichtsrat handelt. Die Kommission sollte den spezifischen Eigenheiten des monistischen bzw. dualistischen Systems in stärkerem Maße Rechnung tragen. Die Kommission umgeht das Thema, trifft eine kurze (und falsche (4)) Unterscheidung zwischen „Verwaltungsrat“ und „Aufsichtsrat“ und ignoriert somit die Verschiedenheit der in Europa bestehenden Systeme.

2.4   Der EWSA ersucht die Kommission, bestehende Unterschiede zwischen den verschiedenen bestehenden Systemen der Unternehmensführung zu berücksichtigen.

2.4.1   Das britische System der Corporate Governance zeichnet sich durch das spezifische Konzept des „Shareholder Value“ (Ertragswert des Eigenkapitals eines Unternehmens) aus, bei dem der Aktienmarkt für die Finanzierung der Unternehmen und für die externe Unternehmenskontrolle eine bedeutende Rolle spielt. Die Unternehmen verfügen über ein monistisches System der Unternehmensleitung und in der Regel eine sehr geringe Eigentümerkonzentration.

2.4.2   Daneben wird im so genannten „germanischen Modell“ der Unternehmensführung das Unternehmen als eine Partnerschaft zwischen verschiedenen Beteiligten betrachtet, die „Ansprüche“ an die Firmentätigkeit haben. Neben der Maximierung des Aktionärsvermögens verfolgen die Unternehmen eine breitere Palette strategischer Ziele. Die Finanzierung durch Banken ist bei der Kapitalaufnahme für Unternehmen weitaus wichtiger als die Kapitalmärkte. Sehr oft verfügen Banken über große Kapitalbeteiligungen, erbringen Finanzdienstleistungen, leisten Finanzberatung und vertreten Aktionäre in Leitungsorganen von Unternehmen. Der externe Markt für Unternehmenskontrolle existiert aufgrund großer Blockbeteiligungen und Überkreuzbeteiligung quasi nicht. Die Beschlussfassung des Managements wird durch den direkten Einfluss der Anteilseigner in einem dualistischen System, in dem neben den Aktionären auch andere Anspruchsgruppen („Stakeholder“) vertreten sind, gestützt (5).

2.4.3   Zwischen diesen beiden Extremen, jedoch näher am letztgenannten, bewegt sich das „romanische Modell“ der Unternehmensführung. Es weist Gemeinsamkeiten mit beiden Modellen auf, unterscheidet sich jedoch durch die bedeutende Rolle des Staates und große Anteile in Familienbesitz. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und während des Übergangs zur Marktwirtschaft begann sich auch in den neuen EU-Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa ein neues Modell zu entwickeln. Dieses Modell hat keinen homogenen Charakter - manche Länder in der Region legen den Schwerpunkt auf die Interessen der Anteilseigner, während andere eher an das kontinentaleuropäische Modell mit seiner Ausrichtung auf die Anspruchsgruppen angelehnt sind (6). Ein besonderes gemeinsames Merkmal ist die relativ große Eigentumsbeteiligung von Arbeitnehmern infolge von Privatisierungen, während die Kapitalmärkte relativ unterentwickelt sind.

2.5   Der EWSA begrüßt die dem Grünbuch zugrunde liegende Zielsetzung, gibt aber zu bedenken, dass die Definition der Kommission von Corporate Governance nicht umfassend genug ist; der EWSA ist der Ansicht, dass die Definition einer Ergänzung bedarf und schlägt ein prägnanteres und weiter gefasstes Konzept vor (7). Insbesondere möchte der EWSA die Kommission nachdrücklich darauf hinweisen, dass das Hauptziel der Unternehmensführung darin besteht sicherzustellen, dass das Unternehmen am Markt bestehen und nachhaltig wachsen kann. Zu diesem Zweck muss der Verwaltungsrat den legitimen Erwartungen der Aktionäre gerecht werden und dabei die entsprechende Zufriedenheit aller Beteiligten - Verbraucher, Teilhaber, Auftragnehmer, Lieferanten und Beschäftigten - sicherstellen (8).

2.6   Der EWSA ersucht die Kommission, die neuen Arten von Aktionären, die mit den tiefgreifenden Veränderungen der traditionellen kontinentaleuropäischen Form der Corporate Governance seit Mitte der 90-er Jahre aufkamen, und ihre relative Bedeutung, gemessen an ihren Anteilen am EU-Kapitalmarkt, eingehend zu untersuchen und zu berücksichtigen. In Zusammenhang mit der wieder erstarkten Deregulierung und Globalisierung der Finanzmärkte sind die Finanzinstitutionen in ganz Europa in zunehmendem Maße weltweitem Wettbewerbsdruck ausgesetzt (9). Große Privatbanken und die größten Spitzenunternehmen sind von engen Bank-Unternehmen-Beziehungen abgewichen. Parallel zu der sich auflösenden Beziehung zu den Banken nehmen die Aktienmärkte bei der Unternehmensfinanzierung an Bedeutung zu. Der zunehmende Wettbewerb auf den Produktmärkten stellt für europäische Unternehmen einen Anreiz dar, vor allem durch externe Wachstumsstrategien und Swap auf Aktien- oder Aktienindexbasis ausreichend an Größe und Markteinfluss zu gewinnen (10). Ein wichtiger Aspekt ist die zunehmende Präsenz ausländischer (vorwiegend britischer und amerikanischer) institutioneller Anleger, d.h. Pensionsfonds, offene Investmentfonds und Hedgefonds, auf europäischen Aktienmärkten. Solche Investoren sind starke Befürworter einer Maximierung von Aktienkursgewinnen; sie üben in ganz Europa dahingehend zusätzlichen Druck auf das traditionelle Unternehmensführungsmodell aus, dass weniger die Anliegen der Anspruchsgruppen als vielmehr die kurzfristigen Interessen der Aktionäre in den Mittelpunkt gestellt werden.

2.7   Der EWSA kritisiert ebenso wie die Kommission den Schaden, der durch kurzfristiges Denken und das Eingehen allzu großer Risiken entstanden ist - beides sind wichtige Merkmale eines Corporate-Governance-Modells, das in den vergangenen zwanzig Jahren stetig an Bedeutung gewonnen hat. Der EWSA ist der Auffassung, dass Unternehmen durch eine nachhaltige Politik, die in vielen Fällen eine fortgesetzte Änderung des bestehenden Corporate-Governance-Rahmens erfordert, eine langfristige Wertschöpfung anstreben sollten.

2.8   Der EWSA sieht es ebenso als notwendig an, die Rolle der Corporate Governance vor dem Hintergrund zu stärken, dass „Maßnahmen ergriffen werden sollten, um nachhaltiges Wachstum zu gewährleisten und ein solideres internationales Finanzsystem aufzubauen“ (11). Sich an gute Grundsätze der Corporate Governance zu halten, ist zweifellos von Nutzen für die Unternehmen, da es diesen ermöglicht, ihre Geschäftsvorgänge und Risiken effizienter zu handhaben, ihre Ziele zu erreichen und zugleich zur Mehrung des allgemeinen Wohlstands in der EU beizutragen. Eine solche Politik trägt dazu bei, dass Verbraucher verantwortungsvolle Produkte erhalten, die auf fairem Handel und relevanten Informationen basieren. Die Ausweitung der Grundsätze der Corporate Governance durch ein System von Rechtsvorschriften und nicht zwingendem Recht auf nicht börsennotierte Unternehmen muss unterstützt und gefördert werden.

2.9   Der EWSA weist auch auf die soziale Funktion der Unternehmen in einer inklusiven Gesellschaft hin und unterstreicht, dass bei der Corporate Governance die Prinzipien der sozialen Verantwortung berücksichtigt und widergespiegelt werden müssen.

2.10   Der EWSA stellt fest, dass in manchen Corporate-Governance-Modellen Arbeitnehmervertreter mit in der Unternehmensleitung sitzen und somit direkt an der Unternehmensführung beteiligt sind. Ungeachtet solcher Formen erhöhen Betriebsräte und sonstige Beteiligungsmechanismen das Engagement der Arbeitnehmer in ihrem Unternehmen. Der EWSA regt an, diese Überlegungen in das endgültige Kommissionsdokument aufzunehmen.

2.11   Gemessen an Kapital, Umsatz und Mitarbeiterzahl schwankt die Größe börsennotierter Unternehmen und reicht von großen multinationalen Konzernen bis hinunter zu Kleinstunternehmen und KMU. In der Debatte um die Corporate Governance geht es vor allem um die Großunternehmen, deren Erfolg oder Misserfolg stets einen wirtschaftlichen und sozialen Nachklang hat. Gute Corporate-Governance-Maßnahmen müssen auf die Eigenschaften und Bedürfnisse der KMU zugeschnitten sein. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus den beschränkten Ressourcen der KMU, insbesondere hinsichtlich Verwaltung und Personal.

2.12   Der EWSA fordert die Kommission auf, für die geplanten Änderungen des Corporate-Governance-Pakets eine gründliche Folgenabschätzung hinsichtlich der Kosten, des erforderlichen Personals und der erforderlichen Gesetzesreformen durchzuführen, damit der künftige Vorschlag realitätsnah ist (12). Dieser Zielsetzung lässt sich am ehesten gerecht werden, wenn die Größe, die Struktur und die Bedeutung der Unternehmen und die wirtschaftliche Situation internationaler Konzerne berücksichtigt werden.

2.13   In seiner endgültigen Fassung muss der Vorschlag der Kommission börsennotierte Unternehmen (und im Falle einer Ausweitung auch nicht-börsennotierte Unternehmen) in die Lage versetzen, ihre Geschäftstätigkeiten effizient durchzuführen und wettbewerbsfähig zu bleiben, damit Wirtschaftswachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen nicht gefährdet werden (13).

2.14   Der EWSA fordert die Kommission auf, in ihren künftigen Legislativvorschlägen zwischen verbindlichen Rechtsvorschriften und nicht zwingendem Recht, einschließlich Empfehlungen und Corporate-Governance-Kodizes, ein Gleichgewicht herzustellen. Der EWSA ist jedoch der Überzeugung, dass alle Kodizes im Hinblick auf eine gelungene Corporate Governance auf den folgenden Grundsätzen beruhen sollten:

2.14.1

Hauptziel der Corporate Governance ist, sicherzustellen, dass ein Unternehmen am Markt bestehen und wachsen kann.

2.14.2

Verwaltungs- bzw. Aufsichtsräte müssen im bestmöglichen Interesse des Unternehmens und im Einklang mit den Interessen der Aktionäre, für die Gleichbehandlung gelten muss, handeln. Sie sollten einen aktiven Dialog mit den Anspruchsgruppen unterhalten, damit sie auf deren Erwartungen eingehen und die langfristige Nachhaltigkeit des Unternehmens sichern und Wohlstand und Arbeitsplätze schaffen können.

2.14.3

Verwaltungs- bzw. Aufsichtsräte sollten für die gesamte Performance des Unternehmens, einschließlich der strategischen Führung, wichtiger Aktionen, des Risikomanagements, der Unternehmensplanung, der effizienten Kontrolle des Managements und der Berichterstattung Verantwortung tragen.

2.14.4

Der Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrat sollte so zusammengesetzt sein, dass er dem Bedarf an komplexem Fachwissen je nach Branche, Geschäftsbereich und Standort des Unternehmens gerecht wird. Im Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrat sollte ferner ein ausgewogenes Verhältnis hinsichtlich Befugnissen, Geschlechterverteilung, geschäftsführenden und nicht geschäftsführenden Mitgliedern sowie Unterschiedlichkeit der Interessen der Mitglieder bestehen, um dem Unternehmen einen breiteren, umfassenderen Horizont zu geben.

2.14.5

Die Mitglieder des Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrats sollten in der Lage sein, sich wirkungsvoll ihren Aufgaben zu widmen und ausreichend Zeit und Energie dafür aufzuwenden. Sie müssen ihre Entscheidungen auf der Basis korrekter, relevanter und aktueller Informationen treffen.

2.14.6

Der Verwaltungsrat bzw. Aufsichtsrat hat das Unternehmen so zu leiten, wie es das Wohl des Unternehmens unter Berücksichtigung der Eigentümer bzw. Aktionäre und der Arbeitnehmer sowie das öffentliche Interesse erfordert. Entscheidungen müssen daher auf der Basis korrekter, relevanter und aktueller Informationen getroffen werden. Die tatsächliche Unabhängigkeit der Mitglieder des Verwaltungs- oder des Aufsichtsrats ist durch die Begrenzung ihrer aufeinanderfolgenden Mandate sicherzustellen.

2.14.7

Unternehmen müssen über eine transparente Vergütungspolitik verfügen. Diese bedarf der Billigung der Aktionäre. Die Vergütung der Verwaltungs- bzw. Aufsichtsratsmitglieder richtet sich nach dem Umfang ihres Aufgaben- und Zuständigkeitsbereiches, der Erreichung der Unternehmensziele sowie der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens und bedarf der Zustimmung der Aktionäre.

2.14.8

Unternehmen müssen alle das Unternehmen betreffenden materiellen Fragen präzise und rechtzeitig offenlegen. Sie sollten Aktionäre zur Teilnahme an Hauptversammlungen ermuntern und offen sein für den Dialog über Fragen der Unternehmensführung mit Aktionären und anderen Anspruchsgruppen.

2.14.9

Unternehmen sollten die Anwendung bewährter Corporate-Governance-Praktiken anstreben, wie sie in den entsprechenden nationalen Corporate-Governance-Kodizes, die ihrerseits die spezifischen Merkmale der lokalen wirtschaftlichen Entwicklung und Gesetzgebung widerspiegeln, enthalten sind.

2.15   Der EWSA befürwortet die folgenden operationellen Regeln für die Corporate Governance des Verwaltungs- bzw. des Aufsichtsrats, die in die Corporate-Governance-Kodizes aufgenommen werden sollten:

2.15.1

Bei einer monistischen Corporate-Governance-Struktur sind die Funktion des Verwaltungs- bzw. Aufsichtsratsvorsitzenden und des „Chief Executive Officer/CEO“ klar voneinander zu trennen.

2.15.2

Neue Verwaltungsrats- bzw. Aufsichtsratsmitglieder werden nach einem offiziellen, rigorosen und transparenten Verfahren ernannt.

2.15.3

Verwaltungsrats- bzw. Aufsichtsratsmitglieder müssen in der Lage sein, ausreichend Zeit für das Unternehmen aufzuwenden, um ihren Verpflichtungen wirkungsvoll nachzukommen.

2.15.4

Verwaltungsrats- bzw. Aufsichtsratsmitglieder erhalten bei ihrem Eintritt eine Einführung und müssen ihre Fähigkeiten und ihr Wissen fortlaufend auf dem neuesten Stand halten.

2.15.5

Der Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrat führt alljährlich in gehöriger Form eine rigorose Bewertung seiner eigenen Leistung und der seiner Ausschüsse und der einzelnen Verwaltungsrats- bzw. Aufsichtsratsmitglieder durch.

2.15.6

Die Vergütungsstruktur für Führungskräfte wird nach einem offiziellen, transparenten Verfahren festgelegt.

3.   Fragen

3.1   Einleitung

Frage 1: Sollten die EU-Corporate-Governance-Maßnahmen die Größe börsennotierter Gesellschaften berücksichtigen? Wenn ja, wie? Sollte für kleine und mittlere börsennotierte Unternehmen eine unterschiedliche und zweckmäßige Lösung gefunden werden? Wenn ja, gibt es geeignete Definitionen oder Schwellenwerte? Wenn ja, schlagen Sie bitte bei der Beantwortung der nachstehenden Fragen Möglichkeiten für ihre eventuelle Anpassung an KMU vor.

Auf den regulierten europäischen Märkten werden Wertpapiere verschiedenster Unternehmen gehandelt. Jedes Unternehmen hat seine eigenen Merkmale, die durch die wirtschaftliche Entwicklung und die Rechtsetzung des jeweiligen Mitgliedstaats geprägt sind. Größe, Struktur und Geschäftsmodell wirken sich auf die Unternehmensführung aus. Da die einzelnen Anspruchsgruppen ein legitimes Interesse an allen Arten von Unternehmen haben und darin einbezogen sind, sollten die in Ziffer 2.14 dargelegten Grundsätze der Corporate Governance auf alle börsennotierten Unternehmen Anwendung finden. Die nationalen Corporate-Governance-Kodizes geben hierfür eine gute Grundlage. Sie sind auch ein wirkungsvolles Mittel für die Überwachung und Kontrolle der Unternehmensleistung (welche im Normalfall durch die Regulierungsbehörde durchgeführt wird). Nach Auffassung des EWSA muss für börsennotierte KMU, die nicht im obersten Segment der regulierten Märkte gehandelt werden, eine differenzierte, für sie zweckmäßige Regelung gesucht werden.

Frage 2: Sollten Corporate-Governance-Maßnahmen auf EU-Ebene für nicht börsennotierte Unternehmen ergriffen werden? Sollte sich die EU auf die Förderung der Entwicklung und Anwendung freiwilliger Kodizes für nicht börsennotierte Unternehmen konzentrieren?

In allen Mitgliedstaaten gibt es viele namhafte Unternehmen, die nicht börsennotiert sind. Der EWSA hält sie für gesellschaftlich ebenso bedeutungsvoll wie börsennotierte Unternehmen. Dennoch sind Corporate-Governance-Maßnahmen für börsennotierte Unternehmen auf EU-Ebene in diesem Augenblick unnötig, da das nationale Gesellschaftsrecht die kritischen Elemente ihrer Unternehmensführung regulieren sollte. Die Kommission sollte die Entwicklung und Anwendung freiwilliger nationaler Kodizes für börsennotierte Unternehmen herausstreichen und fördern, insbesondere für solche, denen eine besondere gesellschaftliche Bedeutung zukommt, vor allem wenn diese in staatlichem oder kommunalem Besitz sind (14) oder eine erhebliche Marktmacht haben.

3.2   Verwaltungsrat

Frage 3: Sollte die EU versuchen, eine klare Trennung der Aufgaben und Zuständigkeiten des Verwaltungsratsvorsitzenden und des „Chief Executive Officer/CEO“ zu gewährleisten?

Der EWSA befürwortet die Trennung der Aufgaben und Zuständigkeiten des Verwaltungsratsvorsitzenden und des „Chief Executive Officer“, da dies eine effektivere Organisation des Führungsgremiums und eine bessere Kontrollstruktur bewirkt und eine Machtkonzentration verhindert. Er ist jedoch der Ansicht, dass die Entscheidung darüber, ob diese Aufgaben und Zuständigkeiten getrennt werden sollten, bei dem einzelnen Unternehmen (Aktionäre und Verwaltungsrat) liegen muss, und spricht sich dagegen aus, diese durch Reglementierung auf europäischer Ebene zu einer solchen Trennung zu verpflichten. Letztlich liegt es in der Entscheidungsfreiheit der Unternehmen in Bezug auf ihre Corporate Governance, da die Unternehmensleitungen kleiner Unternehmen aus nur wenigen Mitgliedern bestehen. Auf EU-Ebene wird aber unbedingt zu einer solchen Trennung geraten.

3.2.1   Zusammensetzung des Verwaltungsrats

Frage 4: Sollen im Rahmen der Personalpolitik das Profil der Verwaltungsratsmitglieder und des Verwaltungsratsvorsitzenden genau definiert und ausreichende Befähigungen der Verwaltungsratsmitglieder sowie Vielfalt bei der Zusammensetzung des Verwaltungsrats gewährleistet werden? Wenn ja, wie könnte dies am Besten geschehen und auf welcher Governance-Ebene, d.h. auf nationaler, auf EU- oder auf internationaler Ebene?

Es ist wünschenswert, dass in der Zusammensetzung des Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrats eine zweckmäßige Ausgewogenheit zwischen Erfahrung, Sachverstand, Kompetenz und Vielfältigkeit seiner Mitglieder hergestellt wird, gerade auch, um ein „Herdenverhalten“ zu vermeiden und das Entstehen neuer Ideen zu ermutigen. Bei diesen Bestrebungen könnten die folgenden Faktoren einbezogen werden: eine breitere Vertretung ausländischer Mitglieder, das Geschlechtergleichgewicht und die Vertretung der Arbeitnehmer. In seiner Antwort auf eine ähnliche Frage im Grünbuch: Corporate Governance in Finanzinstituten und Vergütungspolitik  (15) hat der EWSA bereits festgestellt, dass bei der Wahl eines Verwaltungs- bzw. Aufsichtsratsmitglieds die für die jeweilige Funktion erforderlichen Qualifikationen und Erfahrungen analysiert werden müssen. Ausgehend davon sind diejenigen Kandidaten einzustellen, die diese Kriterien am besten erfüllen. Diese Sicht hat für den EWSA immer noch Gültigkeit. Verwaltungs- und Aufsichtsratsmitglieder sollten integer, kompetent und engagiert sein, und es ist Sache des Unternehmens, hierüber zu befinden.

Frage 5: Sollten börsennotierte Unternehmen zur Veröffentlichung einer eventuell vorhandenen Diversitätsstrategie angehalten werden und wenn ja, sollten sie dann ihre Ziele und ihren wesentlichen Inhalt beschreiben sowie regelmäßige Fortschrittsberichte offenlegen?

Corporate-Governance-Kodizes empfehlen oder erfordern die Informationsoffenlegung getreu dem Grundsatz „Mittragen oder Begründen“ („comply or explain“). Demnach sollte die Offenlegung einer Diversitätsstrategie für Unternehmen, die einen solchen Kodex akzeptiert oder sich einem solchen Kodex angeschlossen haben, verbindlich sein. Bei anderen Unternehmen könnte das Berichten über ihre Diversitätsstrategie als einer ihrer Vorteile hinsichtlich der praktischen Umsetzung der Grundsätze der Transparenz und der Offenlegung beworben werden.

Frage 6: Sollten börsennotierte Unternehmen gehalten sein, für ein besseres Gleichgewicht in den Verwaltungsräten zu sorgen, und wenn ja, wie?

Zweifelsohne hat die Rolle der Frauen in der Wirtschaftswelt und im gesellschaftlichen Leben der EU eine Aufwertung erfahren, was der EWSA begrüßt. Die ausgewogenere Vertretung in allen Bereichen steht im Einklang mit dem europäischen Wertesystem (16). Diesbezüglich sei auf die „Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2010-2015“ (17), die Initiative „Frauen in Vorständen – Verpflichtung für Europa“ (18) von Kommissionsmitglied Viviane Reding und die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 6. Juli 2011 (19) zu Frauen in wirtschaftlichen Führungspositionen verwiesen.

Der EWSA hält die Beteiligung von Frauen an Entscheidungsvorgängen immer noch für unzureichend. Ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen ist anzustreben, weil es neue Perspektiven eröffnen kann. Frauen müssen Zugang zu allen Positionen haben, für die sie die notwendigen Erfahrungen, Fähigkeiten und Qualifikationen mitbringen. Für einen Sitz in der Unternehmensleitung sollte die Fachkompetenz selbstverständlich einen höheren Stellenwert haben als die Geschlechtszugehörigkeit. Die Schlüsselkriterien sind so zu gestalten, dass bei der Ernennung eines Verwaltungs- bzw. Aufsichtsratsmitglieds ein optimales Gleichgewicht von Bildung, Fachkenntnis, Erfahrung, Wissen und Fähigkeiten garantiert wird. Dadurch wird es dem Unternehmen am besten möglich gemacht, seine Ziele zu erreichen und die berechtigten Erwartungen der Aktionäre und anderer Anspruchsgruppen zu erfüllen.

3.2.2   Verfügbarkeit und zeitliches Engagement

Frage 7: Sollte Ihrer Auffassung nach auf EU-Ebene eine Maßnahme bestehen, die die Zahl der Mandate eines nicht geschäftsführenden Verwaltungsratmitglieds begrenzt? Wenn ja, wie sollte sie formuliert sein?

Die Zahl der Mandate, die ein nicht geschäftsführendes Mitglied der Unternehmensleitung gleichzeitig wahrnehmen kann, sollte grundsätzlich begrenzt sein. Allerdings wäre es schwer, willkürlich eine genaue Zahl zu nennen. Nach Auffassung des EWSA muss jedoch ein angemessenes Gleichgewicht gefunden werden, damit die Mitglieder der Unternehmensleitung ihre Pflichten ordnungsgemäß erfüllen können, ausreichend Zeit zum Aktenstudium haben, Fachgremien und Schulungen besuchen und Prüfungen – insbesondere die der Unternehmensbücher – vornehmen können etc. Für alle Mandate gilt, dass Verwaltungs- bzw. Aufsichtsratsmitglieder zeitlich in der Lage sein müssen, ihren Obliegenheiten nachzukommen.

3.2.3   Beurteilung des Verwaltungsrats

Frage 8: Sollten börsennotierte Unternehmen dazu angehalten werden, regelmäßig eine externe Beurteilung durchzuführen (z.B. alle drei Jahre)? Wenn ja, wie sollte dies geschehen?

Gute Praktiken der Unternehmensführung sollten gefördert werden. Außerdem sollten Mechanismen geschaffen und propagiert werden, um Investoren, Aktionäre, Verbraucher, Arbeitnehmer, sonstige Interessenträger und die Gesellschaft als Ganzes besser über die Leistungskriterien bezüglich der Corporate Governance zu informieren. Probate Schritte in diese Richtung könnte die Konzipierung von Börsenindizes und unabhängigen Ratings sein, die Aufschluss über eine solide Unternehmensführung geben. Mitglieder des Verwaltungsrats oder des Aufsichtsrats könnten ggf. externe Bewertungen in Auftrag geben oder Sonderberichte von Prüfungsausschüssen zum internen Gebrauch anfordern. Dieses als bewährt anzusehende Vorgehen könnte auf die in Frage 2 behandelten nicht-börsennotierten Unternehmen ausgedehnt werden.

3.2.4   Vergütung von Verwaltungsratsmitgliedern

Frage 9: Sollte die Offenlegung der Vergütungspolitik, des Jahresvergütungsberichts (ein Bericht über die Art und Weise der Umsetzung der Vergütungspolitik im Vorjahr) und der Einzelvergütung der geschäftsführenden und nicht geschäftsführenden Mitglieder der Unternehmensleitung obligatorisch werden?

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass Aktionäre, potenzielle Investoren und sämtliche Interessenträger Zugang zu erschöpfenden und genauen Informationen über die Anreizsysteme der Verwaltungs- und Aufsichtsräte haben sollten. Insbesondere gilt dies für die Vergütungspolitik des Unternehmens (20) (siehe Ziffer 2.14.7). Daher ist der EWSA der Ansicht, dass jedes Unternehmen eine klare und verständliche Erklärung zu seiner Vergütungspolitik veröffentlichen sollte. Diese sollte insbesondere die in Artikel 5 der Empfehlung 2009/384/EG vom 30. April 2009 (21) geforderten Informationen enthalten.

Frage 10: Sollte eine Abstimmung der Aktionäre über die Vergütungspolitik und den Vergütungsbericht obligatorisch werden?

Der EWSA befürwortet dies, denn die Aktionäre müssen informiert werden, und ferner steht es ihnen zu, die künftige Richtung des Unternehmens anzunehmen und Berichte über die Vergütung zu erhalten. Der Antrag, der den Aktionären auf der Hauptversammlung vorgelegt wird, muss allerdings vorher von der gesamten Unternehmensleitung erörtert und gebilligt werden. Dies spiegelt die neuen Praktiken in Deutschland seit dem 2009 verabschiedeten Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung wider.

3.2.5   Risikomanagement

Frage 11: Stimmen Sie damit überein, dass der Verwaltungsrat den „Risikoappetit“ des Unternehmens billigen und dafür verantwortlich sein sowie ihn den Aktionären verständlich machen sollte? Sollten diese Offenlegungsanforderungen auch relevante wichtige Gesellschaftsrisiken umfassen?

Der EWSA verweist darauf, dass die rechtzeitige Anzeige von Risiken das Vertrauen zwischen Unternehmensleitung und Anspruchsgruppen fördert. Die Corporate-Governance-Kodizes empfehlen derzeit die Einführung und Anwendung eines soliden Risikomanagementsystems. Unternehmen, die sich diesen Kodizes angeschlossen haben, müssen darlegen, wie ihre Systeme funktionieren und auf welche Schwierigkeiten sie dabei stoßen.

Soziale und gesellschaftliche Risiken müssen in vollem Umfang einkalkuliert werden, und zwar nicht nur in den internen Risikoüberwachungs- und Kontrollsystemen, sondern auch bei der Offenlegung sowie in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der OECD (22). Mit anderen Worten bedeutet dies, dass der Aufsichtsrat nicht nur die (finanzielle, soziale und ökologische) Risikobereitschaft des Unternehmens validieren und kontrollieren sollte, sondern sie auch auf sinnvolle Weise den Aktionären, den Arbeitnehmern und deren Vertretern sowie den sonstigen Anspruchsgruppen nach den in den Kodizes anvisierten Offenlegungsverfahren darlegen sollte.

Frage 12: Sollte der Verwaltungsrat Ihrer Meinung nach gewährleisten, dass die Vorkehrungen im Zusammenhang mit dem Risikomanagement des Unternehmens wirksam und seinem Risikoprofil angemessen sein sollten?

Ja. Sofern Vorschriften bestehen, ist die Unternehmensleitung zu einem effektiven Risikomanagement gemäß dem Risikoprofil des Unternehmens verpflichtet. Das effektive Risikomanagement liegt somit in der Verantwortung der Unternehmensleitung, ebenso wie die sonstigen Aspekte der Geschäftsstrategie des Unternehmens. In ihren Berichten müssen die Verwaltungs- bzw. Aufsichtsratsmitglieder Aufschluss über die Geschäftstätigkeiten und sämtliche damit zusammenhängenden Risiken geben. Die Grundsätze von EuropeanIssuers in Bezug auf Risikomanagement und Buchprüfung (23) stützen diesen Punkt.

3.3   Aktionäre

3.3.1   Kurzfristiges Denken auf den Kapitalmärkten

Frage 13: Bitte nennen Sie uns alle etwaigen EU-Rechtsvorschriften, die Ihrer Meinung nach zum unangemessenen kurzfristigen Denken unter Anlegern beitragen, und unterbreiten Sie Vorschläge, wie diese Bestimmungen im Hinblick auf die Verhinderung eines solchen Verhaltens geändert werden könnten.

Neue Investoren wie Hedgefonds und der Umstand, dass Vermögensverwalter anders motiviert sind als zuvor, haben die Kapitalmärkte tiefgreifend verändert. Die derzeitige europäische Rechtslage bei Unternehmensfusionen und -zukäufen untersagt keine feindlichen Übernahmeangebote, deren einziges Ziel darin besteht, den Aktienpreis kurzfristig in die Höhe zu treiben, was wiederum auf Kosten des langfristigen Mehrwerts für die Aktionäre und Anspruchsgruppen geht. Hier sollte eine entsprechende Änderung durchgeführt werden.

Nach Auffassung des EWSA ist die Offenlegung von Informationen dann am effektivsten, wenn sie beidseitig erfolgt. Da börsennotierte Unternehmen in der EU zahllosen gesetzlichen Bestimmungen unterliegen, die die zeitgerechte Offenlegung sämtlicher regulierter, preisempfindlicher oder unternehmensinterner Informationen vorschreiben, wäre es ggf. sachdienlich, wenn auch institutionelle Investoren ihre Investitionsstrategien offenlegen müssten. Dies würde dem Unternehmen, in das investiert wird, nutzen: Berechenbarkeit im Zusammenhang mit möglichen Kapitalaufnahmen, erhöhte Transparenz und die Möglichkeit zum Aufbau langfristiger Beziehungen zwischen börsennotierten Unternehmen und Investoren.

Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission die Rechnungslegungsvorschriften für die Solvabilität von Pensionsfonds überarbeitet, damit Problempotenziale abgeschätzt werden können. Zu diesem Zweck könnte ebenfalls der kurze Zyklus der Auflagen für die Finanzberichterstattung geändert werden.

3.3.2   Bevollmächtigtenverhältnis zwischen institutionellen Anlegern und Vermögensverwaltern

Frage 14: Sind Maßnahmen - und wenn ja, welche - im Hinblick auf die Anreizstrukturen für Vermögensverwalter, die die Portfolios von langfristig orientierten institutionellen Anlegern verwalten, und ihre Leistungsbewertung zu ergreifen?

Ja, die Anreizstruktur und insbesondere die Vergütungssysteme für Vermögensverwalter von Portfolios langfristig orientierter institutioneller Anleger sollten offengelegt werden. Der EWSA ersucht die Europäische Kommission um die Ergreifung von Maßnahmen gegen Interessenskonflikte in der Vermögensverwaltung und zur Einschränkung von Transaktionen, die dem Kundeninteresse zuwiderlaufen.

Frage 15: Sollten die EU-Rechtsvorschriften eine wirksamere Überwachung der Vermögensverwalter durch die institutionellen Anleger vorsehen, was Strategien, Kosten, den Handel und die Frage angeht, in welchem Maße sich Vermögensverwalter in Unternehmen, in die investiert werden wird, einbringen sollen? Falls ja, wie?

Der EWSA befürwortet strengere Anforderungen an die Unternehmen, in die investiert wird. Umgesetzt werden könnte dies, indem Vermögensverwalter darüber informieren, welche Investitionsstrategie sie für ihre Zielunternehmen verfolgen. Strategien und Kosten sind in den meisten Fällen vertraglich gut geregelt. Gleiches gilt für die Verfahren der Offenlegung von Informationen.

3.3.3   Sonstige mögliche Hindernisse für das Engagement institutioneller Anleger

Frage 16: Sollte in den EU-Vorschriften eine gewisse Unabhängigkeit vom Leitungsorgan der Vermögensverwalter, wie z.B. der Muttergesellschaft, festgeschrieben werden, oder sind andere (Legislativ-) Maßnahmen erforderlich, um die Offenlegung und die Handhabung von Interessenkonflikten zu verbessern?

Der EWSA spricht sich für klare, strenge Vorgaben auf EU-Ebene aus, die den Führungsgremien von Vermögensverwaltungen ein gewisses Maß an Unabhängigkeit belassen und die Offenlegung sowie den Umgang mit Interessenkonflikten regeln. Außerdem sollten Vermögensverwalter ermutigt werden, sich freiwilligen Initiativen anzuschließen. Dazu zählen die Annahme von Corporate-Governance-Kodizes und die Offenlegung von Informationen über das derzeitig vorgeschriebene gesetzliche Minimum hinaus.

Frage 17: Wie könnte die Zusammenarbeit zwischen Aktionären in der EU am Besten erleichtert werden?

Der EWSA empfiehlt als ersten Schritt einen klaren Rechtsrahmen. Es ist nach Wegen einer engeren Zusammenarbeit langfristig orientierter Investoren zu suchen.

Heutzutage ist Informationstechnologie zu erschwinglichen Preisen verfügbar - sie macht die Zusammenarbeit zwischen den Aktionären über das Internet möglich und sehr effizient. Fachforen mit institutioneller Unterstützung könnten zu diesem Zweck eingerichtet werden, insbesondere bei der Zusammenarbeit der Anspruchsgruppen und ihrer Organisationen.

3.3.4   Berater für die Stimmrechtsvertretung („Proxy advisors“)

Frage 18: Sollte in den EU-Rechtsvorschriften eine größere Transparenz der Berater für die Stimmrechtsvertretung gefordert werden, wenn es beispielsweise um ihre Analysemethoden, Interessenkonflikte und ihre Konfliktbewältigungsstrategie und/oder um die Anwendung bzw. Nichtanwendung eines Verhaltenskodexes geht? Wenn ja, wie könnte dies am Besten erreicht werden?

Der EWSA empfiehlt neue Auflagen zur Verbesserung der Transparenz von Beratertätigkeiten für die Stimmrechtsvertretung. Die Berater müssen rechtzeitig nicht nur gegenüber ihren Klienten, sondern auch gegenüber den Unternehmen offenlegen, ob ein Interessenkonflikt besteht, wenn das Stimmrecht wahrgenommen wird oder wenn Beratungsdienste zum Abstimmverhalten erbracht werden. Auch ihre Strategie für die Vermeidung von Interessenkonflikten muss offengelegt werden. An einen guten Überwachungsmechanismus sollte ebenfalls gedacht werden.

Frage 19: Sind Ihrer Auffassung nach weitere (Legislativ-)Maßnahmen erforderlich, z. B. Einschränkungen der Möglichkeit für die Berater, Consulting-Dienstleistungen für Unternehmen, in die investiert werden soll, zu erbringen?

Für seriöse Emittenten entstehen keine Hemmnisse und zugleich wäre es ein Beitrag zur Vermeidung potenzieller Interessenkonflikte. Berater für die Stimmrechtsvertretung dürfen keine Consulting-Dienstleistungen für Unternehmen erbringen, bei denen sie als Stimmrechtsberater für ihre eigenen Kunden tätig sind.

3.3.5   Identifizierung der Aktionäre

Frage 20: Halten Sie die Einführung eines technischen und/oder rechtlichen Mechanismus auf EU-Ebene für erforderlich, mit dem Emittenten ihre Aktionäre leichter identifizieren können, um so den Dialog zu Corporate-Governance-Fragen zu erleichtern? Wenn ja, würde dieser Mechanismus auch der Zusammenarbeit zwischen Anlegern zugutekommen? Bitte nennen Sie Einzelheiten (z. B. verfolgte(s) Ziel(e), bevorzugtes Instrument, Häufigkeit, Detailniveau und Kostenzuweisung).

Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass bei der Gestaltung solcher Mechanismen die landesspezifische Rechtsetzung für den Schutz personenbezogener Daten zu beachten ist (24). Daher wäre es besser, dieses Problem auf nationaler statt auf europäischer Ebene zu lösen. Ein möglicher Weg wäre, den nationalen Hinterlegestellen zu empfehlen, eine Internetadresse im Aktionärsbuch anzugeben. Die würde die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen den Emittenten und ihren Aktionären verbessern.

3.3.6   Schutz von Minderheitsaktionären

Frage 21: Benötigen Ihrer Meinung nach Minderheitsaktionäre zusätzliche Rechte, um ihre Interessen in Unternehmen mit Mehrheitsaktionären oder Aktionären mit beherrschendem Einfluss wirksam zu vertreten?

Nein, das ist nicht notwendig. Durch die jüngsten Änderungen in der europäischen Rahmengesetzgebung zum Schutz der Rechte von Aktionären und zur Erleichterung ihrer Teilnahme an Hauptversammlungen wurde ein gutes System geschaffen, das den Aktionären die Möglichkeit gibt, an Informationen zu gelangen, problemlos an Hauptversammlungen teilzunehmen und alle ihre Rechte wahrzunehmen. Bei einer Einführung zusätzlicher Rechte sollte sorgfältig auf das Gleichgewicht der Interessen von Minderheitsaktionären und Mehrheitsaktionären geachtet werden, damit die Verfahren für wichtige Entscheidungen nicht blockiert werden. Die Anwesenheit eines beherrschenden Aktionärs könnte zusätzliche Kontrolle über die Mitglieder und die Tätigkeiten des Verwaltungsrats gewährleisten.

Frage 22: Sollten Minderheitsaktionäre Ihrer Auffassung nach stärker gegen Transaktionen mit nahe stehenden Unternehmen und Personen geschützt werden? Wenn ja, welche Maßnahmen sollten ergriffen werden?

Ja, weil Transaktionen mit nahe stehenden Unternehmen und Personen häufig Ursache potenzieller Interessenkonflikte sein könnten. Für Transaktionen mit nahe stehenden Unternehmen und Personen sollte es auf europäischer Ebene eine einheitliche Regelung geben. Eine solche Regelung muss eindeutig und zugleich ausreichend flexibel sein, um Unternehmen vor größeren Fehlern zu bewahren. Sie muss verhindern, dass Kontrollorgane im Falle uneindeutiger und irreführender Texte willkürliche Entscheidungen treffen.

3.3.7   Kapitalbeteiligung von Arbeitnehmern

Frage 23: Sind Maßnahmen – und wenn ja, welche – zur Förderung der Kapitalbeteiligung von Arbeitnehmern auf EU-Ebene zu ergreifen?

Nein, der EWSA hält dies auf EU-Ebene nicht für notwendig. Es genügt derzeit vollkommen, dass diese Möglichkeit grundsätzlich besteht, ohne verbindlich zu sein; sie könnte genutzt werden, wenn es angebracht ist.

Angestellte und Arbeitnehmer können motiviert werden, indem man ihnen Eigentum in Form von Aktien anbietet und so ihren Mitwirkungswillen und ihre Produktivität steigert; auf keinen Fall aber darf dies ein Ersatz für bestehende Vergütung sein oder die Tarifverhandlungen hemmen noch die unter Ziffer 2.9 genannten anderen Formen der Teilnahme ersetzen. Diese Entscheidung sollte jedoch im Ermessen jedes einzelnen Unternehmens liegen, da eine derartige Beteiligung nicht immer angebracht sein mag (25).

3.4   Der Grundsatz „Mittragen oder Begründen“ („comply or explain“) - Überwachung und Umsetzung der Corporate-Governance-Kodizes

Frage 24: Stimmen Sie zu, dass Unternehmen, die von den Empfehlungen der Corporate-Governance-Kodizes abweichen, gehalten sein sollten, detaillierte Erläuterungen dafür beizubringen und die alternativen Lösungen zu beschreiben?

Ja. Es kann zuweilen gute Gründe für ein solches Abweichen geben. Wenn diese Gründe erläutert werden und gerechtfertigt sind, werden die Interessen des Unternehmens im gleichen Maße gewahrt wie die Interessen der Investoren, die über die Notwendigkeit für ein solches Abweichen informiert würden. Andernfalls würde die Bedeutung der Kodizes als Instrument zur Förderung von bewährten Verfahren einer verantwortungsvollen Unternehmensführung untergraben.

Frage 25: Sollten Ihrer Auffassung nach die Aufsichtsbehörden befugt sein, die Informationsqualität der Erläuterungen in den Corporate-Governance-Erklärungen zu überprüfen und die Unternehmen zu einer eventuellen Vervollständigung dieser Erläuterungen aufzufordern? Wenn ja, wie sollte ihre Rolle im Einzelnen aussehen?

Ja. Solche Informationen sind sicherlich wichtig für Anspruchsgruppen und Investoren und sollten bei Investitionsentscheidungen berücksichtigt werden. Regulierungsbehörden muss dieses Recht analog zu den übrigen Informationen zustehen, die die emittierenden Unternehmen vorlegen. Neben ihrer Aufsichts- und in seltenen Fällen Aufklärungsfunktion (z.B. über gesellschaftliche Risiken größeren Ausmaßes) sollten sie Maßnahmen ergreifen können. Andernfalls würde das Vertrauen in Corporate-Governance-Erklärungen schwinden und würden Investoren sowie andere Anspruchsgruppen höhere Risiken vermuten.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 84 vom 17.03.2011, S. 13.

(2)  Neben den beiden Grünbüchern – KOM(2010) 284 endg. und KOM(2011) 164 endg. – hat die Europäische Kommission eine Reihe von Papieren zur Corporate Governance veröffentlicht (z.B. KОМ(2010) 561 endg., KОМ(2010) 579 endg.). Das Thema ist auch präsent in der grundlegenden Gesetzesinitiative der Kommission „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte“ (KОМ(2010) 608 endg.).

(3)  ABl. C 84 vom 17.3.2011, S. 13 sowie ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 92 und S. 101.

(4)  „Mit dem Begriff ‚Verwaltungsrat‘ wird in diesem Grünbuch im Wesentlichen die Aufsichtsfunktion der Geschäftsleitung bezeichnet“ (S. 5). Während Aufsichtsräten tatsächlich eine beaufsichtigende Rolle zukommt, können Verwaltungsräte eine Managementrolle übernehmen und an der strategischen Beschlussfassung (Fusionen/Übernahmen, Kauf/Verkauf von Unternehmen) mitwirken.

(5)  Siehe: J. Weimer und J. Pape, A Taxonomy of Systems of Corporate Governance, Theory Papers in Corporate Governance, Bd. 7 (2), April 1999, Blackwell Publishers.

(6)  Siehe: A. Vliegenthart, Transnational actors and the converging corporate governance regulation in ECE, Central and East European International Studies Association (CEEISA), 2006.

(7)  ABl. C 84 vom 17.3.2011, S. 13

(8)  Ebd., Ziffer 2.4.

(9)  J. Fichtner, Activist hedge funds and the erosion of Rhenish capitalism: The impact of impatient capital, Working Paper Series, Nr. 17 CCGES/CCEAE 2009.

(10)  M. Goyer, Varieties of Institutional Investors and National Models of Capitalism: The Transformation of Corporate Governance in France and Germany. In: POLITICS & SOCIETY, Bd. 34, Nr. 3, September 2006, S. 399-430.

(11)  Kommuniqué der G20-Finanzminister und Zentralbankgouverneure vom 5. September 2009.

(12)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 101.

(13)  ABl. C 84 vom 17.3.2011, S. 13.

(14)  Die OECD hat einen internationalen Standard ausgearbeitet, der Regierungen helfen soll, ihren Eigentümerverpflichtungen nachzukommen. Siehe OECD-Leitsätze zu Corporate Governance in staatseigenen Unternehmen, OECD 2005.

(15)  ABl. C 84 vom 17.3.2011, S. 13.

(16)  Siehe Artikel 2 und Artikel 3 Absatz 3, Vertrag von Lissabon und ABl. C 83 vom 30.3.2010, S. 17.

(17)  http://www.equalities.gov.uk/pdf/EN_document_travail%5Bmain%5D.pdf.

(18)  http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/reding/womenpledge/index_en.htm.

(19)  Siehe die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 6. Juli 2011 zu Frauen in wirtschaftlichen Führungspositionen, http://www.europarl.europa.eu/oeil/file.jsp?id=5862452&noticeType=null&language=en, http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+REPORT+A7-2011-0210+0+DOC+XML+V0//DE.

(20)  ABl. C 84 vom 17.3.2011, S. 13.

(21)  ABl. L 120 vom 15.5.2009, S. 22.

(22)  „The corporate governance framework requires or encourages boards to take into account the interests of stakeholders and publicly disclose how it is doing so in relation to significant matters“, in „Methodology for assessing the implementation of the OECD principles of corporate governance“, OECD, 2006, S. 112.

(23)  EuropeanIssuers ist ein Dachverband der Emittenten, siehe http://www.europeanissuers.eu/_mdb/position/200_Towards_Common_Principles_for_ICRM_European_Companies__final_100127.pdf

(24)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 123.

(25)  ABl. C 51 vom 17.2.2011, S. 1.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/99


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Binnenmarktakte — Zwölf Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen — Gemeinsam für neues Wachstum“

KOM(2011) 206 endg.

2012/C 24/22

Berichterstatterin: Benedicte FEDERSPIEL

Mitberichterstatter: Martin SIECKER und Ivan VOLEŠ

Die Europäische Kommission beschloss am 13. April 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Binnenmarktakte — Zwölf Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen — Gemeinsam für neues Wachstum

KOM(2011) 206 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 3. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 150 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) verfolgt den Binnenmarkt eingehend von der zivilgesellschaftlichen Warte aus. Zu diesem Zweck hat er 1994 die Binnenmarktbeobachtungsstelle (BBS) geschaffen. Der EWSA unterstützt die Initiative der Kommission, den Binnenmarkt neu zu beleben und zu modernisieren, bedauert jedoch, dass die Monti-, Lamassoure-, González-, Grech- und Herzog-Berichte nicht umfassend berücksichtigt wurden und der Binnenmarkt nicht wirklich in den Dienst der Verbraucher und Bürger gestellt wurde, wie dies das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 20. Mai 2010 gefordert hat.

1.2   In seiner Stellungnahme zur Binnenmarktakte (1) hatte der EWSA eine Reihe von Maßnahmen aufgezeigt, die in der Binnenmarktakte fehlen. Hebel stehen u.a. noch in folgenden Bereichen aus: Urheberrechtsabgaben, Überarbeitung der Richtlinie zum Urheberrecht, Netzneutralität, Datenschutzvorschriften, Anlegerschutz, Protokoll über den sozialen Fortschritt, Satzung der Europäischen Privatgesellschaft, elektronische Beschaffung, europäische Ratingagenturen, Gleichstellung der Geschlechter, Kleinst- und Familienunternehmen, Maßnahmen zur Förderung der Gründung neuer bzw. der Expansion bestehender Unternehmen, Kredit- und Debitkarten, elektronischer Zahlungsverkehr, Verbraucherkredit und Überschuldung, Überweisungen zwischen Banken, Jugend sowie Maßnahmen zur Vollendung der gemeinsamen Währung und zur Konsolidierung des einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraums (SEPA) usw.

1.3   Der Ausschuss hatte eine Reihe von Prioritäten für einen integrierten Binnenmarkt ausgewählt, von denen viele nun in der Liste der als „zwölf Hebel“ bezeichneten prioritären Maßnahmen aufgeführt werden: die Charta der Grundrechte als integraler Bestandteil des Binnenmarktes, Dienstleistungen, Finanzdienstleistungen für Privatkunden, Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (DAI), nachhaltige Entwicklung, kleine und mittlere Unternehmen und andere Formen des Unternehmertums, Wettbewerbsfähigkeit, Normung, digitaler Binnenmarkt, Corporate Governance und Beteiligung der Arbeitnehmer, Freizügigkeit von Arbeitnehmern und wirtschaftliche Freiheiten, Rechtsvorschriften im Bereich des öffentlichen Auftragswesens, externe Dimension und Zugang zum Recht/Sammelklagen.

2.   Wesentlicher Inhalt der Mitteilung der Kommission

2.1   Der Binnenmarkt weist eine Reihe von Unzulänglichkeiten auf, die nicht nur von Mario MONTI in seinem Bericht „Eine neue Strategie für den Binnenmarkt“, sondern auch vom Europäischen Parlament in dem von Louis GRECH erstellten „Bericht über die Schaffung eines Binnenmarktes für Verbraucher und Bürger“ aufgezeigt wurden. Zur Behebung dieser Unzulänglichkeiten gilt es, eine dynamische, bereichsübergreifende Strategie zu entwickeln. Ziel muss es sein, die Zersplitterung des Marktes zu überwinden und Barrieren und Hindernisse für den freien Dienstleistungsverkehr sowie für Innovation und Kreativität zu beseitigen. Ferner geht es darum, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihren Binnenmarkt zu stärken und die Verbraucher in den Genuss aller Vorteile des Binnenmarktes kommen zu lassen.

2.2   In ihrer Mitteilung „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte“ hat die Kommission 50 Vorschläge zur Bewältigung der vor uns liegenden Herausforderungen zur Diskussion gestellt (2). Ausgehend von den im Zuge der öffentlichen Debatte eingegangenen Beiträgen hat die Kommission zwölf Hebel politischen Handelns herausgearbeitet. Zu jedem dieser Hebel schlägt die Kommission eine Leitaktion vor, die die EU bis Ende 2012 mit dem Ziel beschließen soll, das Wachstum anzukurbeln und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zu stärken.

2.3   Damit die vorgeschlagenen Maßnahmen in Sachen Wachstum und Beschäftigung die gewünschten Wirkungen erzielen, müssen die für ihre Gestaltung und wirksame Umsetzung erforderlichen vier Mindestvoraussetzungen erfüllt sein: 1) ein besserer Dialog mit der gesamten Zivilgesellschaft, 2) eine enge Partnerschaft mit den verschiedenen Akteuren, 3) eine wirksame Unterrichtung von Bürgern und Unternehmen und 4) eine entschlossenere Kontrolle der Anwendung der Binnenmarktvorschriften. Ende 2012 wird eine neue Etappe in der Weiterentwicklung des Binnenmarktes eingeleitet. Den Überlegungen wird eine große Wirtschaftsstudie zugrunde liegen, die Aufschluss über Bereiche mit ungenutztem Wachstumspotenzial geben und gegebenenfalls neue Wachstumshebel aufzeigen sollte. Die Kommission wird ferner die Zivilgesellschaft und alle Binnenmarktakteure mit Hilfe ihrer neuen Steuerungsinstrumente konsultieren.

3.   Allgemeine Bemerkungen und Empfehlungen

3.1   Der EWSA begrüßt das ehrgeizige Ziel der Kommission, das Wachstum anzukurbeln und das Vertrauen in den Binnenmarkt zu stärken. Er weist darauf hin, dass der Binnenmarkt ein Kernstück des europäischen Integrationsprozesses ist und den europäischen Interessenträgern unmittelbar spürbaren Nutzen und den europäischen Volkswirtschaften nachhaltiges Wachstum bringen kann. Ein funktionierender, zukunftsorientierter Binnenmarkt ist daher im gegenwärtigen Kontext für die politische und wirtschaftliche Zukunft der Europäischen Union nicht nur wünschenswert, sondern entscheidend wichtig. Um diesen Nutzen zu bewirken, muss sich die Kommission bei ihren Vorschlägen ehrgeizige Ziele setzen, die über die Beseitigung kleiner Einzelprobleme hinausweisen.

3.2   Der Ausschuss hält fest, dass die Mitteilung der Kommission nur der zweite Schritt in einem Prozess ist, bei dem noch viele weitere Schritte folgen müssen. Die Kommission erläutert in dieser Mitteilung ihre Entscheidung, von den ursprünglichen 50 Vorschlägen ihrer Mitteilung „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte“ nunmehr 12 Hebel auszuwählen. Der Ausschuss hat festgestellt, dass viele der vorgeschlagenen Hebel nicht so neu sind wie angekündigt, da sie bereits in den Arbeitsprogrammen der Kommission für 2010 und 2011 (3) enthalten waren.

3.3   Zudem ist dem Ausschuss daran gelegen, den Grundgedanken nachzuvollziehen, der dem politischen Ansatz mit Blick auf die Vollendung des Binnenmarkts insgesamt zugrunde liegt und der die Kommission letztlich veranlasst hat, aus der großen Zahl möglicher Hebel ebenjene zwölf auszuwählen. Dazu finden sich weder in der Mitteilung noch in der Analyse der betreffenden Maßnahmen Hinweise.

3.4   Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Arbeit auch an denjenigen Vorschlägen fortzusetzen, die in der ursprünglichen Mitteilung (KOM(2010) 608 endg.) aufgeführt waren, jedoch nicht unter die 12 Hebel aufgenommen wurden. Er empfiehlt außerdem, dass die Kommission die fehlenden Hebel (siehe Ziffer 1.2) berücksichtigt, die der Ausschuss in seiner vorhergehenden Stellungnahme zur Binnenmarktakte umrissen hat. Der Ausschuss möchte über die Entwicklungen in beiden Bereichen informiert werden und erinnert die Kommission daran, dass rasche Anschlussmaßnahmen notwendig sind, damit die Weiterentwicklung des Binnenmarktes das Wachstum in Europa in naher Zukunft positiv beeinflussen kann.

3.5   Mehrere Vorschläge sind bereits in Vorbereitung und sollen noch in diesem Jahr vorgelegt werden. Der EWSA erwartet, dass die Kommission ihn zu diesen und weiteren konkreten Vorschlägen konsultiert, damit er den Standpunkt aller maßgeblichen Interessenträger einbringen kann. Er ist auch bereit, sich an der Bewertung der voraussichtlichen Auswirkungen der neuen Rechtsvorschriften auf den Binnenmarkt zu beteiligen und einen Beitrag zu der großen Wirtschaftsstudie zu leisten, die Aufschluss über Bereiche mit ungenutztem Wachstumspotenzial geben und gegebenenfalls neue Wachstumshebel aufzeigen soll. Der EWSA stellt fest, dass mehr getan werden muss, um die Auswirkungen früherer und gegenwärtiger Binnenmarktvorschriften mit Schwerpunkt darauf zu bewerten, ob die Kombination von Maßnahmen erfolgreich zum besseren Funktionieren des Binnenmarktes im Hinblick auf einen unmittelbar spürbaren Nutzen für Unternehmen, Arbeitnehmer und Verbraucher beigetragen hat.

3.6   Der EWSA betont überdies, dass die Entwicklung des Binnenmarktes nicht nur Sache der GD Markt mit ihren Aktionen und Maßnahmen ist, sondern auch viele andere Politikbereiche betrifft. Er weist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von Initiativen wie die Digitale Agenda (4) und den Bericht über die Unionsbürgerschaft hin (5) und appelliert an die Kommission, Fortschritte in Richtung eines funktionierenden Binnenmarktes in den in diesen Mitteilungen behandelten Politikbereichen zu gewährleisten.

3.7   In der Einleitung unterstreicht die Kommission die Bedeutung der nachhaltigen Entwicklung. Der Ausschuss bedauert, dass die von der Kommission im Jahr 2008 angenommene ehrgeizige Strategie für nachhaltige Entwicklung in dieser Mitteilung nicht aufgegriffen wird. Die notwendige Umstellung auf nachhaltigere Produktions- und Verbrauchsmuster sollte gebührend unterstützt werden.

3.8   Vor dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags hatte das politische und wirtschaftliche Interesse eines wiedervereinten Europas Vorrang vor sozialen Belangen und vor der Nachhaltigkeit. Im Lissabon-Vertrag wurde dieses Ungleichgewicht theoretisch behoben, so dass die anderen Interessen nun die gleiche Bedeutung haben (auch wenn die praktischen Auswirkungen dieser Änderung abzuwarten bleiben). In der Mitteilung wird jedoch mehrfach erwähnt, dass weder zusätzliche Belastungen für die Unternehmen noch zusätzliche Kosten für die Verbraucher entstehen dürfen, auf die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer und die Behörden wird jedoch nicht eingegangen.

3.9   Der EWSA bekräftigt seine Forderung nach einem ganzheitlichen Ansatz. Seiner Meinung nach ist die Förderung des Wachstums und des Wirtschaftspotenzials zwar wichtig, aber der Schwerpunkt der Vorschläge sollte stärker auf den Verbrauchern und Bürgern als unabhängigen Akteuren bei der Schaffung des Binnenmarktes liegen.

3.10   Der EWSA plädiert für Nulltoleranz bei Nichtumsetzung der EU-Vorschriften durch die Mitgliedstaaten und erinnert den Rat und die Kommission daran, dass eine verspätete, uneinheitliche und unvollständige Umsetzung ein großes Hemmnis für einen funktionierenden Binnenmarkt ist. Sehr begrüßenswert fände er die Veröffentlichung von Entsprechungstabellen durch die Mitgliedstaaten, da sie zu mehr Ansehen und einem besseren Verständnis des Binnenmarktes beitragen würden (6).

4.   Besondere Bemerkungen und Empfehlungen zu den zwölf Hebeln

4.1   Maßnahmen für KMU

4.1.1   Der EWSA begrüßt die Vorschläge, die zur Lösung verschiedener Probleme der KMU beitragen sollen, insbesondere was den verstärkten Zugang zu grenzüberschreitender Risikokapitalfinanzierung angeht. Dies wird nach Auffassung des Ausschusses allerdings nicht ausreichen, um das Problem der infolge der Krise generell eingeschränkten Finanzierungsmöglichkeiten vieler KMU in ganz Europa zu lösen. Darüber hinaus sollte den Bedürfnissen von Kleinst- und Familienunternehmen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, die oft nicht in der Lage sind, auf die bestehenden Instrumente zur Unterstützung zurückzugreifen, und deren wirtschaftliches Überleben häufig durch verspätete bzw. ausbleibende Zahlungen beeinträchtigt wird. Es sollte geprüft werden, welche Auswirkungen Basel III auf die Bereitschaft der Banken zur Finanzierung von KMU hat.

4.1.2   Der EWSA macht außerdem darauf aufmerksam, dass sich die meisten anderen Leitaktionen mehr oder weniger stark auf die KMU auswirken werden. Die Bedeutung des Small Business Act sollte nicht unterschätzt werden. Der Grundsatz des „Think Small First“ - zuerst an die kleinen Betriebe denken - sollte deshalb in allen Gesetzgebungsvorschlägen angewandt werden, deren Auswirkungen auf KMU sowie Kleinst- und Familienunternehmen vorab geprüft werden sollten. Die Umsetzung und Überwachung sollte als eine Priorität der KMU-Politik der EU betrachtet werden.

4.1.3   Bei der künftigen Sprachenregelung für das Gemeinschaftspatent muss zur Vermeidung von Diskriminierung eine finanzielle Unterstützung für die Unternehmen aus denjenigen Ländern sichergestellt werden, deren Amtssprache nicht als zugelassene Verfahrenssprache beim Europäischen Patentamt verwendet wird.

4.2   Mobilität der Bürger

4.2.1   Die vorgeschlagene Leitaktion zur Steigerung der Mobilität der Bürger dient der Modernisierung des Systems für die Anerkennung von Berufsqualifikationen. Die Förderung der beruflichen und geografischen Mobilität der Arbeitnehmer könnte dazu beitragen, das Funktionieren der europäischen Arbeitsmärkte und die Bereitstellung grenzüberschreitender Dienstleistungen zu verbessern. Unternehmen in ganz Europa haben mit einem bedenklichen Fachkräftemangel zu kämpfen, der zum Teil auf Unzulänglichkeiten bei der allgemeinen und beruflichen Bildung zurückzuführen ist. Fortschritte in diesem Bereich sind zwar zu begrüßen, aber der Ausschuss fordert die Kommission nachdrücklich auf, die vielfältigen weiteren Hemmnisse in Angriff zu nehmen, die die Freizügigkeit der Bürger in der EU nach wie vor einschränken.

4.2.2   Bemühungen um die Anerkennung von Berufsqualifikationen wurden bereits Ende der 80er Jahre mit einer damals noch geringeren Anzahl von Mitgliedstaaten unternommen. Mit der 2005 verabschiedeten Richtlinie über Berufsqualifikationen wurden die 15 früheren gesonderten Richtlinien für die verschiedenen Kategorien von reglementierten Berufen konsolidiert. Da das damit angestrebte Ziel bislang nicht erreicht wurde, begann die Kommission 2010 mit der Überprüfung der Richtlinie.

4.2.3   Der EWSA unterstreicht, dass vor dem Erlass eventueller weiterer Rechtsvorschriften über die gegenwärtige Richtlinie hinaus gründlich untersucht werden sollte, wie die bestehenden Vorschriften verbessert werden können, um die gegenseitige Anerkennung beruflicher Qualifikationen stärker zu fördern. Folgende Möglichkeiten kommen in Betracht:

Verringerung der Zahl der reglementierten Berufe: Es sollte systematisch überprüft werden, inwieweit reglementierte Berufe unter Beachtung neuer Arbeitsmarkterfordernisse auch künftig reglementiert werden sollten.

Der Vorschlag der Schaffung eines Europäischen Berufsausweises muss eingehender geprüft werden (automatische Anerkennung durch die zuständigen Behörden, die auch dafür zuständig sein sollten, diese Ausweise auszustellen).

Eine Aktualisierung der Mindestausbildungsstandards, bei denen statt der Zahl der Ausbildungsstunden die erworbenen Fertigkeiten und Kompetenzen ausschlaggebend sind.

Gewährleistung, dass das allgemeine System der Richtlinie über Berufsqualifikationen parallel zum EQR (7) und zu den anderen Transparenzinstrumenten des Bologna- und Kopenhagen-Prozesses besteht.

4.2.4   Der EWSA schlägt vor, dass bis zur vollständigen Harmonisierung zwischen den 27 Mitgliedstaaten die Möglichkeit eines anderen Ansatzes auf der Grundlage gemeinsamer Maßnahmen zwischen einer kleineren Zahl von Mitgliedstaaten untersucht werden sollte, in dessen Rahmen möglicherweise durch eine verstärkte Zusammenarbeit und die Berücksichtigung von Migrationsmustern und Arbeitsmarktentwicklungen der gewünschte Erfolg zur Verbesserung der Mobilität der Arbeitnehmer herbeigeführt werden kann. Nach diesem ersten Schritt könnte es leichter sein, eine vollständige Harmonisierung in Angriff zu nehmen.

4.2.5   Der EWSA sieht keine Notwendigkeit für eine Überprüfung der Richtlinie über Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung, da mit der Richtlinie ein ausreichender Rechtsrahmen geschaffen wurde. Es muss jedoch dafür gesorgt werden, dass die entsprechenden grenzüberschreitenden Verfahren besser funktionieren.

4.3   Rechte des geistigen Eigentums

4.3.1   Die Regelungen über die Rechte des geistigen Eigentums müssen für Urheber, Nutzer von Urheberrechten und Verbraucher (8) funktionieren. Verbraucher sollten unabhängig von ihrem Wohnort in der EU Zugang zu urheberrechtlich geschützten Inhalten und Produkten sowie zu auf urheberrechtlich geschütztem Material basierenden Dienstleistungen haben. Bei Lizenzen und Urheberrechten ist ein stärker gesamteuropäisch ausgerichteter Ansatz vonnöten.

4.3.2   Für die Verbraucher ist der derzeitige Rechtsrahmen für die Rechte des geistigen Eigentums verwirrend; noch unübersichtlicher stellt sich die Situation für ganz Europa dar. Der Rechtsrahmen muss klarer gestaltet werden, rechtliche Sanktionen und rechtliche Durchsetzung müssen verhältnismäßig sein: Einzelne Verbraucher, die möglicherweise unabsichtlich und/oder geringfügig für ihren persönlichen Gebrauch gegen Rechte des geistigen Eigentums verstoßen, müssen möglicherweise anders behandelt werden als Kriminelle, die derartige Aktivitäten im großen/gewerblichen Maßstab betreiben.

4.4   Verbraucher als Akteure des Binnenmarktes

4.4.1   Alternative Streitbeilegungsverfahren sind unter Umständen ein nützliches Instrument, um die Verbraucher zu schützen und ihnen schnell und kostengünstig zu ihrem Recht zu verhelfen – und zwar nicht nur im elektronischen Handel, sondern generell. Die Verbraucherinteressen sollten im Mittelpunkt dieser außergerichtlichen Verfahren stehen, und die Verbraucher sollten gegebenenfalls auch den Rechtsweg beschreiten können. Der Ausschuss begrüßt den im Arbeitsprogramm der Kommission für 2011 vorgesehenen Gesetzgebungsvorschlag für alternative Streitbeilegungsverfahren und weist darauf hin, dass der Vorschlag ein hohes Schutzniveau gewährleisten muss.

4.4.2   Zusätzlich zu den alternativen Streitbeilegungsverfahren hat die GD Justiz eine Konsultation zur Sammelklage durchgeführt. Leider ist für November kein Gesetzgebungsvorschlag vorgesehen, sondern nur eine weitere Mitteilung über die Ergebnisse der Konsultation in diesem Frühjahr, was enttäuschend ist. Es ist höchste Zeit, nunmehr Taten folgen zu lassen. Der Ausschuss hofft auf baldige Vorlage eines Gesetzgebungsvorschlags. Ein solcher Vorschlag muss zu einem Sammelklageinstrument führen, das sowohl national als auch grenzüberschreitend genutzt werden kann und allen Verbrauchern im Binnenmarkt offensteht.

4.4.3   Ein solches Instrument sollte allen zur Verfügung stehen, deren Rechte im Binnenmarkt verletzt werden. Nicht nur die Rechte der Verbraucher werden von Anbietern von Gütern und Dienstleistungen durch unlautere Vertragsbedingungen und unlautere Geschäftspraktiken verletzt. Auch Arbeitnehmer, deren Rechte verletzt werden, und die Bürger im Allgemeinen, die von Diskriminierung betroffen sind, sollten die Möglichkeit der Sammelklage haben. Möglicherweise bedürfen auch KMU eines vergleichbaren Schutzes gegen unlautere Geschäftspraktiken usw.

4.4.4   Im Großen und Ganzen bekommen die Verbraucher die Vorteile des Binnenmarktes im Bereich Finanzprodukte für Privatkunden noch nicht zu spüren. Zwar begrüßt der Ausschuss die Fortführung der Arbeit, bei der es um die Transparenz der Bankgebühren und um einen besseren Schutz von Kreditnehmern geht, aber es muss mehr getan werden, um den grenzüberschreitenden Zugang zu Finanzdienstleistungen für Privatkunden zu fördern. Außerdem sollte allen Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von ihrem Wohnort in der EU ein Zahlungskonto mit Basisfunktionen zur Verfügung stehen.

4.4.5   Der EWSA begrüßt die Überarbeitung der Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit, bei der die Belange der Verbraucher stärker berücksichtigt werden, und wird sich zu den konkreten Vorschlägen äußern. Desgleichen ist ein höheres Maß an Marktüberwachung auf nationaler wie auch gesamteuropäischer Ebene wünschenswert.

4.4.6   Unmittelbare Rechte der Bürger und Verbraucher, die sich aus dem Binnenmarkt ergeben, sind ein Eckstein der Marktintegration und ein unmittelbar spürbarer Vorteil der wirtschaftlichen Integration Europas sowohl im Bereich der Passagierrechte als auch in Bezug auf Roaminggebühren und im elektronischen Handel. Die Verbraucher/Passagiere müssen leicht und schnell auf Mechanismen zugreifen können, die ihnen zu ihrem Recht verhelfen, insbesondere wenn sie sich in einer Notlage befinden, z.B. im Ausland ohne Mittel für die Heimkehr in ihr Land festsitzen. Von entscheidender Bedeutung ist außerdem eine einheitliche Anwendung, weil Passagiere in der EU nicht gleich behandelt werden, da die Rechtsdurchsetzung ebenso wie auch die Auslegung der geltenden Vorschriften und Regelungen sehr uneinheitlich sind.

4.5   Dienstleistungen

4.5.1   Der Ausschuss unterstützt den Vorschlag, das Normungssystem auf die Dienstleistungen auszudehnen, weist jedoch darauf hin, dass die Besonderheiten der Dienstleistungen berücksichtigt werden müssen und das Normungsmodell für Güter nicht unbesehen kopiert werden darf. Bei der Weiterentwicklung von Normen im Dienstleistungsbereich muss den Bedürfnissen des Marktes und der Gesellschaft sowie der Sicherheit der Verbraucher Rechnung getragen werden.

4.5.2   Der Ausschuss befürwortet die vorgeschlagene Einsetzung einer hochrangigen Gruppe für Unternehmensdienstleistungen, die die wichtigsten Hemmnisse und Engpässe des Marktes ermitteln soll.

4.5.3   Der Ausschuss begrüßt die Initiative, die öffentlichen Verwaltungen durch die Benennung von „einheitlichen Ansprechpartnern“ zu modernisieren. Die administrative Zusammenarbeit in grenzübergreifenden Angelegenheiten kann nur begrüßt werden. Diese Zusammenarbeit sollte auch auf Politikbereiche ausgedehnt werden, in denen die Einhaltung von Verpflichtungen zur Diskussion steht. Der EWSA hält die Schlussfolgerungen der Kommission bezüglich der Auswirkungen der Dienstleistungsrichtlinie und des Funktionierens des Dienstleistungssektors für verfrüht, da die Richtlinie erst vor wenigen Jahren in Kraft getreten ist (9).

4.6   Netze

4.6.1   Der Ausschuss ist der Ansicht, dass den Mitgliedstaaten bezüglich der Energienetze (10) weiterhin freigestellt werden sollte, für welche Energieform sie sich entscheiden. Das Gemeinwohl hängt von gut funktionierenden Netzen, der Qualität der Dienste und all denjenigen Mitteln ab, mit denen Universalität, Sicherheit und Kontinuität dieser Netze und Dienste zu vertretbaren Preisen gewährleistet werden. Die Europäische Union sollte auf internationaler Ebene in Energie- und Energietransportnetzfragen mit einer Stimme sprechen, diese Fragen, vor allem die Sicherheit der Energieversorgung, als integralen Aspekt ihrer Außenbeziehungen (Europäische Nachbarschaftspolitik - ENP) betrachten und Führungsstandards für die Transitländer vorschlagen. Die Mitgliedstaaten sollten diese Energiesolidarität gemeinsam mit der Europäischen Union auf internationaler Ebene vertreten und in der EU nach dem Grundsatz des allgemeinen Interesses verfahren. Der Ausschuss plädiert zudem für die Einrichtung eines europäischen beratenden Ausschusses für Energie und Klimawandel.

4.6.2   Fragen des Verkehrs (11) betreffend fordert der EWSA eine bessere Anbindung sowohl der westlichen und östlichen als auch der nördlichen und südlichen Gebiete der EU. Er spricht sich auch dafür aus, der sogenannten Nachbarschaftspolitik in Form einer besseren Anbindung der östlichen und südlichen Nachbarländer der EU besonderes Augenmerk zu schenken. Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten sich vor allem auf das Netz und nicht so sehr auf einzelne Infrastrukturprojekte konzentrieren. Dadurch wird auch die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten gefördert. Wenn die EU wirklich beabsichtigt, einen integrierten Verkehrsbinnenmarkt in Europa zu schaffen und die Kohäsionspolitik weiterzuführen, dann ist nach Auffassung des Ausschusses ein radikaler Kurswechsel bei der Wahl der Netze erforderlich. Insofern billigt der EWSA das kürzliche Umdenken im Bereich der TEN-V. Der EWSA empfiehlt zudem, das Instrument der öffentlich-privaten Partnerschaften (ÖPP) zur Finanzierung von TEN-V-Projekten behutsam und gezielt einzusetzen. Es sollte berücksichtigt werden, dass die Mitgliedstaaten über ein unterschiedliches Ausmaß an Erfahrungen verfügen. Zudem ist eine kohärente Finanzierungsstrategie erforderlich, mit deren Hilfe alle einschlägigen europäischen und nationalen Finanzinstrumente im Sinne des Ziels einer besseren Finanzierung in Anspruch genommen werden können.

4.7   Digitaler Binnenmarkt

4.7.1   Der elektronische Geschäftsverkehr leidet offenbar mit am stärksten unter der Fragmentierung des Binnenmarktes. Das Fehlen harmonisierter Vorschriften, die mangelnde Interoperabilität der Informationssysteme (12), ungelöste Probleme in Bezug auf die Rechte des geistigen Eigentums, fehlende Sicherheit von Zahlungen und nicht gewährleistete Verbraucherrechte vor allem im Bereich der Produktsicherheit behindern die umfassende Ausschöpfung des erheblichen Potenzials, das der grenzüberschreitende elektronische Handel sowohl für Anbieter als auch für Verbraucher bietet. Durch die in der Mitteilung der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen sollen einige der Hemmnisse des digitalen Binnenmarktes beseitigt werden, doch verweist der Ausschuss darauf, dass weitaus mehr erforderlich ist, um den Binnenmarkt auf das Informationszeitalter vorzubereiten, darunter auch einheitliche und hohe Datenschutznormen, z.B. mit Blick auf die elektronische Unterschrift. In diesem Zusammenhang bekräftigt der EWSA seine Forderung, dass die Netzneutralität als eines der Grundprinzipien im digitalen Binnenmarkt anerkannt werden muss.

4.7.2   Die Lösung der in der Mitteilung genannten Probleme in Bezug auf den elektronischen Handel kann dazu beitragen, das Vertrauen der Verbraucher in den Binnenmarkt zu stärken. Allerdings werden bisher nur wenige konkrete Maßnahmen vorgeschlagen. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, einen ehrgeizigen Aktionsplan für die Entwicklung des elektronischen Geschäftsverkehrs zu entwickeln, in dessen Mittelpunkt der Verbraucher steht. Ziel muss die Schaffung eines Online-Marktes in der EU sein, auf dem sich die Verbraucher sicher und geschützt fühlen und wissen, wie sie im Fall von Verstößen Unterstützung zur Wahrnehmung ihrer Rechte erhalten können.

4.7.3   Als Ergebnis eines funktionierenden digitalen Binnenmarktes müssen für Verbraucher und Unternehmen die Hindernisse, die auf der Staatsangehörigkeit oder dem Wohnsitz beruhen, beseitigt werden. Verbraucher müssen also digitale Produkte wie Musik problemlos aus anderen Mitgliedstaaten bestellen können. Besonders wichtig ist dies, um den nachfolgenden Generationen von Unionsbürgern die Bedeutung des Binnenmarktes deutlich zu machen.

4.8   Soziales Unternehmertum

4.8.1   Der EWSA begrüßt die Förderung der sozialen Verantwortung von Unternehmen sowie die Initiative der Kommission zur Schaffung der erforderlichen politischen Rahmenbedingungen, die die Ausschöpfung des entsprechenden Potenzials ermöglichen sollen. Initiativen im Bereich der sozialen Verantwortung von Unternehmen sollten den grundlegenden Prinzipien der Binnenmarktvorschriften etwa im Bereich des Wettbewerbs und der staatlichen Beihilfen entsprechen und die einschlägigen Arbeiten des EWSA (13) berücksichtigen.

4.8.2   Der EWSA hat die Schaffung des Statuts der europäischen Stiftung unterstützt, fordert die Kommission jedoch auf, zu prüfen, ob darüber hinaus legislative Maßnahmen zur Erleichterung der grenzübergreifenden Tätigkeit bestehender Stiftungen ergriffen werden könnten, da analoge Modelle wie das Statut der Europäischen Genossenschaft und das Statut der europäischen Gesellschaft bisher nur wenig Anklang gefunden haben.

4.8.3   Die Kommission muss dafür Sorge tragen, dass sich die EU vermehrt für die Stärkung der sozialen Verantwortung der Unternehmen einsetzt, damit die Einbindung der Arbeitnehmer weiter vorangetrieben und die Transparenz der von den Unternehmen bereitgestellten Informationen erhöht wird. Das Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung ist im Vertrag als Bestandteil verschiedener Formen der Einbindung der Arbeitnehmer als Grundrecht festgeschrieben worden: Artikel 151 Absatz 1 „Dialog zwischen den Sozialpartnern“ und Artikel 153 Absatz 1 AEUV, wo es unter Buchstabe f) heißt, dass die Union die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf folgenden Gebieten unterstützen und ergänzen soll: „Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung“. Mit Hilfe der öffentlichen Konsultation sollte daher untersucht werden, wie die Transparenz der von Unternehmen bereitgestellten Informationen über soziale und ökologische Aspekte sowie über die Achtung der Menschenrechte erhöht werden kann. Wenn dem EWSA ein konkretes Stellungnahmeersuchen zugeht, wird er die Initiative für soziales Unternehmertum eingehend prüfen, einschließlich der Möglichkeit, auch weiterhin am freiwilligen Charakter der sozialen Verantwortung der Unternehmen festzuhalten.

4.9   Steuern

4.9.1   Im Zusammenhang mit der Überarbeitung der Energiebesteuerungsrichtlinie betont der EWSA, dass das Konzept der Einführung einer CO2-Steuer das Emissionshandelssystem (EHS) und den Energieeffizienzplan ergänzen sollte (14). Mit Hilfe der CO2-Steuer sollte die finanzielle Unterstützung bereitgestellt werden, die zur Beschleunigung der FuE-Anstrengungen zur Entwicklung emissionsarmer Verfahren und innovativer Technologien notwendig ist, und die Einnahmen sollen ausschließlich diesen Zielen zugute kommen. Der entsprechende Steuersatz muss so gestaltet sein, dass er das Wachstum nicht gefährdet, keinen Widerstand der Politik oder der Öffentlichkeit auslöst, und die Einführung der Steuer darf nicht zu einem Anstieg der Energiearmut führen.

4.9.2   Die CO2-Steuer sollte auf dem Verbrauch statt auf der Erzeugung beruhen. Die Europäische Kommission sollte allgemeine Leitlinien für eine CO2-Besteuerung ausarbeiten, deren sonstige Details jedoch im Ermessen der Mitgliedstaaten belassen. Es sollte ihnen freigestellt sein, diese Steuer gemäß der Struktur ihrer verarbeitenden Industrie und ihrer Energieindustrie zu erheben.

4.9.3   Der Ausschuss begrüßt Maßnahmen zur Behebung von Unstimmigkeiten bei der Besteuerung in Gebieten wie der Mehrwertsteuer, den Energiesteuern und der Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage. Zwar ist darauf zu achten, dass die einzelnen Mitgliedstaaten weiterhin in der Lage sind, ihre öffentlichen Dienstleistungen gemäß dem Subsidiaritätsgrundsatz zu finanzieren, doch muss der Schwerpunkt auch auf die Schwierigkeiten gelegt werden, die die Bürger und die KMU in ihren täglichen Erfahrungen mit dem Binnenmarkt haben und die durch unterschiedliche Steuerregelungen und deren Umsetzung verursacht werden. Dies ist wichtig, um zu gewährleisten, dass der Binnenmarkt effizienter funktioniert. Auch die vorgeschlagene Finanztransaktionssteuer sollte dazu beitragen, dass beim Eingehen von Risiken mehr auf Nachhaltigkeit geachtet wird.

4.10   Sozialer Zusammenhalt

4.10.1   Der EWSA unterstützt die Vorstellungen, die die Kommission im Rahmen des Hebels „Sozialer Zusammenhalt“ formuliert. Dabei geht es um mehr als nur die bessere Umsetzung der Entsenderichtlinie, wie ursprünglich in der Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte“ vorgeschlagen. Die Kommission plant die Annahme eines Legislativvorschlags, der auf eine bessere Umsetzung der Entsenderichtlinie abzielt. Eine Klarstellung zur Ausübung der sozialen Grundrechte im Kontext der wirtschaftlichen Freiheiten des Binnenmarktes könnte aufgenommen werden bzw. den Vorschlag ergänzen. Damit wird keine Änderung vorgeschlagen, sondern ein weiterer Rechtsakt zur verbesserten Umsetzung der Richtlinie. Die bei der Anwendung dieser Richtlinie auftretenden Widersprüche sollten geklärt werden, und die Befugnisse der Mitgliedstaaten zum Ausbau ihrer Arbeitsnormen und ihrer Systeme der Arbeitsbeziehungen einschließlich der wichtigen Funktion von Tarifverhandlungen in unterschiedlicher Form sollten ganz klar definiert werden. Das Ergebnis dieser Klärung sollte Aufschluss darüber geben, ob eine Überarbeitung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern erforderlich ist. Dies sollte nicht zu Lasten der Wettbewerbsregeln und des Grundsatzes des Verbots jeglicher Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit erfolgen. Änderungen des bestehenden Rechts und neue Rechtsakte sollten erst nach Konsultation mit den Sozialpartnern und unter Wahrung eines Gleichgewichts zwischen hohen Standards bei den Arbeitsnormen und wirtschaftlichen Freiheiten durchgeführt werden und den Problemen Rechnung tragen, die durch Schwarzarbeit verursacht werden.

4.11   Regulierungsumfeld der Unternehmen

4.11.1   Regulierung kann nicht als Hindernis oder Belastung bezeichnet werden, wenn sie dazu dient, gesellschaftliche Interessen, einschließlich der Rechte von Verbrauchern und Arbeitnehmern, zu gewährleisten. Die vorgeschlagene Vereinfachung der Rechnungslegungsrichtlinie, die den Verwaltungsaufwand für Unternehmen, insbesondere KMU, verringern soll, ist ein sinnvoller Beitrag zu einem unternehmensfreundlichen Umfeld, darf jedoch nur ein Teil einer umfassenden Überprüfung unnötiger rechtlicher Auflagen sein, mit denen die europäischen Unternehmen konfrontiert sind und die ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt schmälern.

4.11.2   Der EWSA begrüßt und unterstützt die vorgeschlagenen Maßnahmen wie die Verknüpfung von Unternehmensregistern, ein Statut der Europäischen Privatgesellschaft, das gesellschaftlichen Erfordernissen Rechnung trägt, sowie die kohärentere Umsetzung des Small Business Act durch die EU und die Mitgliedstaaten, betont jedoch, dass unnötiger Verwaltungsaufwand weiter abgebaut werden muss, und erwartet, dass die Kommission die Ziele nach 2012 vorschlagen wird, wenn der Verwaltungsaufwand um 25 % gesunken sein soll. Der Ausschuss stellt fest, dass ein Abbau unnötigen Aufwands stets wünschenswert ist, unabhängig davon, ob es sich um Unternehmen, Verbraucher oder öffentliche Stellen handelt, dass jedoch eine gründliche Prüfung erfolgen muss, um sicherzustellen, dass der ursprüngliche Zweck der Rechtsvorschrift auch tatsächlich in vollem Umfang erreicht wird. Der Ausschuss verweist darauf, dass ein gemeinsames Vorgehen der EU auch zum Abbau von Verwaltungsaufwand führen kann, wenn es an die Stelle von 27 unterschiedlichen nationalen Regelungen tritt.

4.12   Öffentliches Auftragswesen

4.12.1   Der EWSA begrüßt die Initiative, eine ausgewogene Politik im Bereich des öffentlichen Auftragswesens zu entwickeln, die die Nachfrage nach einer ökologisch nachhaltigen, innovativen und sozial verantwortungsvollen Entwicklung stützt. Dabei ist auch zu gewährleisten, dass Korruption und Missbrauch öffentlicher Gelder bei Ausschreibungsverfahren in der gesamten EU bekämpft werden. Das öffentliche Auftragswesen läuft jedoch Gefahr, derart komplex zu werden, dass es nicht mehr kohärent anwendbar ist (15). Zumindest sollte mehr getan werden, um Kapazitäten in der öffentlichen Verwaltung zu schaffen, damit die Regeln des öffentlichen Auftragswesens durchgehend angewandt werden können, und gleichzeitig sollten die öffentlichen Stellen in die Lage versetzt werden, die zu erfüllenden neuen Anforderungen an öffentliche Aufträge in die Leistungsbeschreibungen aufzunehmen. Die Kommission sollte sich auch dafür einsetzen, dass die öffentlichen Stellen den Verhaltenskodex umfassender anwenden, damit die Ausschreibungsverfahren KMU-freundlicher werden (16).

4.12.2   Seit das Projekt Binnenmarkt Mitte der 80er Jahre eingeleitet wurde, wird über die Integration einer grundsätzlichen Sozialklausel in das Regelwerk diskutiert. Diese Forderungen wurden durch die Änderung der Vorschriften über das öffentliche Auftragswesen im Jahr 2005 teilweise erfüllt. Die Änderung der EU-Richtlinien über das öffentliche Auftragswesen sollte zu einer Ausschöpfung des geltenden Rechtsrahmens durch die Aufnahme sozialer und ökologischer Kriterien in öffentliche Aufträge führen, die auch durch Erbringer von Dienstleistungen aus Drittstaaten zu erfüllen sind, wobei derartige Kriterien im Einklang mit den grundlegenden Prinzipien des EU-Rechts, die im Vertrag von Lissabon niedergelegt sind, stehen müssen.

4.12.3   Die Kommission sollte im Rahmen ihrer Initiative zum öffentlichen Auftragswesen den nach wie vor zwischen der EU und ihren wichtigsten Handelspartnern bestehenden Ungleichgewichten bei der Öffnung der Märkte für das öffentliche Auftragswesen größere Aufmerksamkeit schenken. Es stellt sich die Frage, inwieweit die europäischen Märkte für das öffentliche Beschaffungswesen grundsätzlich offen sein sollten, während in Drittländern weiterhin ungleiche Bedingungen vorzufinden sind. Hier geht es darum, dass die ILO-Übereinkommen und die Menschenrechte von allen Beteiligten sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in Drittländern respektiert werden. Die EU sollte sich für die weltweite Anwendung dieses Konzepts einsetzen.

5.   Voraussetzungen für den Erfolg

5.1   Der Ausschuss begrüßt, dass in der Mitteilung der Kommission die Bedeutung der Zivilgesellschaft sowie deren Bereitschaft anerkannt werden, sich an der Weiterentwicklung des Binnenmarktes zu beteiligen. Er verweist darauf, dass es Aufgabe des Ausschusses ist, eine Brücke zwischen Europa und der organisierten Zivilgesellschaft zu schlagen, und dass er deshalb dazu prädestiniert ist, die Kommission bei der Weiterentwicklung des Binnenmarktes zu unterstützen. In diesem Zusammenhang erinnert der Ausschuss die Kommission daran, dass es nicht mit einer Konsultation getan ist, sondern dass sie auch deutlich machen muss, welche Auswirkungen die Konsultationen und die aus diesem Prozess hervorgehenden Stellungnahmen auf die jeweiligen Vorschläge hatten.

5.2   Das Binnenmarktforum sollte eine wirksame Plattform für die Interaktion zwischen der EU und den nationalen/regionalen Verwaltungen werden, die für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes mit den wichtigsten Akteuren verantwortlich sind. Der Ausschuss unterstützt nachdrücklich das Konzept der Binnenmarktwoche, das Kommissionsmitglied BARNIER vorgeschlagen hat und bei dem die öffentlichen Stellen und die Organisationen der Zivilgesellschaft der einzelnen Mitgliedstaaten zusammengebracht werden.

5.3   Das Binnenmarkt-Informationssystem (IMI) (17) ist das wichtigste technische Instrument für die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Verwaltungen und verfügt über zusätzliches Potenzial als Schnittstelle für die Nutzer des Binnenmarktes.

5.4   Die zurückgehende Unterstützung der Unionsbürger für die europäische Integration erfordert eine intensive und gezielte Strategie für die Öffentlichkeitsarbeit, einschließlich der Inanspruchnahme aller Instrumente, die den Unternehmen, Arbeitnehmern und Bürgern die erforderliche Unterstützung bieten, z.B. Solvit, EURES, das European Enterprise Network, die Europäischen Verbraucherzentren, RAPEX usw. Der Aufbau einer einheitlichen Anlaufstelle („Your Europe“) für Unternehmen und Bürger kann sinnvoll sein, jedoch nur wenn vollständige, zutreffende, zuverlässige und zugängliche Informationen bereitgestellt werden. Es muss anerkannt werden, dass Bürger und Unternehmen auch die Möglichkeit haben müssen, ihre Fragen direkt an eine Person zu richten, und nicht nur auf elektronisches Material angewiesen sein dürfen.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 47.

(2)  KOM(2010) 608 endg.; Stellungnahme des EWSA: ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 47.

(3)  KOM(2010) 135 endg. vom 31.3.2010 und KOM(2010) 623 endg. vom 27.10.2010.

(4)  http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2010:0245:FIN:DE:PDF

(5)  http://ec.europa.eu/justice/citizen/files/com_2010_603_de.pdf

(6)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 87.

(7)  Europäischer Qualifikationsrahmen.

(8)  ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 105.

(9)  ABl. C 318, 29.10.2011, S. 109.

(10)  ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 51.

(11)  ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 101.

(12)  ABl. C 318, 29.10.2011, S. 105.

(13)  Siehe Seite 1 dieses Amtsblatts.

(14)  Siehe Seite 7 dieses Amtsblatts.

(15)  Siehe Stellungnahmen des EWSA ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 32, ABl. C 318, 29.10.2011, S. 99 und ABl. C 318, 29.10.2011, S. 113.

(16)  „European code of best practices facilitating access by SMEs to public procurement contracts“ (Europäischer Verhaltenskodex für einen leichteren Zugang von KMU zu öffentlichen Aufträgen) (SEK(2008)2193).

(17)  Weitere Informationen: http://ec.europa.eu/internal_market/imi-net/index.html


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/106


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Entwicklung der europäischen Dimension des Sports“

KOM(2011) 12 endg.

2012/C 24/23

Berichterstatter: Alfredo CORREIA

Die Europäische Kommission beschloss am 18. Januar 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 165 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Entwicklung der europäischen Dimension des Sports

KOM(2011) 12 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 28. September 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 79 gegen 2 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss bekräftigt sein großes Interesse und Engagement hinsichtlich der Entwicklung der europäischen Dimension des Sports. Die Kontinuität der Maßnahmen zur Stärkung des Sports in der EU in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und unter Achtung des Subsidiaritätsprinzips muss unbedingt sichergestellt werden, wobei sich Begrenzungen durch die im Vertrag verankerten Befugnisse ergeben.

1.2   Sport leistet einen eindeutigen Beitrag zur Förderung der körperlichen und geistigen Gesundheit und zur Entwicklung von Werten wie Disziplin und Teamgeist, die die soziale Integration begünstigen. Sportliche Betätigung ist für die Verhinderung zahlreicher Krankheiten von fundamentaler Bedeutung. Es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Gesundheitsproblemen und geringer Leistungsfähigkeit der Bürger. Sportausübung verbessert die Lebensqualität und -erwartung der europäischen Bevölkerung und erhöht die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Der EWSA fordert dazu auf, die sportliche Betätigung zu fördern und diesbezügliche EU-Maßnahmen durchzuführen.

1.3   Der EWSA erkennt die Problematik des Dopings im Sport an. Sowohl auf Ebene der EU als auch auf Ebene der Mitgliedstaaten bedarf es einer Debatte über die Frage, wie diese gesellschaftliche Plage bekämpft werden kann. Doping kann die Gesundheit von Sportlern – insbesondere jungen Amateuren – gefährden und untergräbt die Integrität im Sport.

1.4   Die Position der Kommission bezüglich der Ausübung und Entwicklung des Sports im Unterricht, die im Einklang mit früheren Empfehlungen des EWSA steht, ist zu begrüßen (1). Der EWSA bekräftigt, dass Sportanlagen, Umkleidekabinen und andere Infrastruktureinrichtungen verbessert werden müssen, um eine preisgünstige Sportausübung unter guten Bedingungen zu ermöglichen.

1.5   Ein besonderes Anliegen des EWSA ist es, dass Sportler eine gute schulische Ausbildung erhalten. Allzu häufig kommt es vor, dass Jugendliche ihre Ausbildung zugunsten des Sports abbrechen. Es müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, unter denen eine Karriere als Berufssportler begonnen und verfolgt werden kann, ohne die Schule abzubrechen – entsprechend dem Grundsatz der „doppelten Laufbahnen“. Die Anwendung dieses Grundsatzes ist auch wichtig, um es Sportlern am Ende ihrer sportlichen Laufbahn zu ermöglichen, sich mit den erforderlichen Qualifikationen wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Zur Erreichung dieses Ziels muss die Ausbildung der Übungsleiter selbst ebenfalls gefördert werden, damit sie den jungen Sportlern die richtigen Werte vermitteln.

1.6   Gewalt im Sport ist ein bedauerliches Phänomen, das nur durch entschlossenes Handeln in Form polizeilicher oder angemessener strafrechtlicher Maßnahmen ausgemerzt werden kann. Die EU kann und muss eine koordinierende Funktion bei den Initiativen der Mitgliedstaaten ausüben, um den Informationsaustausch über die wirksamsten Handlungsinstrumente zu verbessern.

1.7   Der EWSA ist der Auffassung, dass den im Sport am stärksten benachteiligten Gruppen, z.B. behinderte oder ältere Menschen, besondere Aufmerksamkeit zukommen sollte. Diese haben das Recht, an sportlichen Aktivitäten unter gleichen Bedingungen teilzunehmen. Der EWSA erinnert daran, dass die EU die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen unterzeichnet hat: Die Mitgliedstaaten müssen die Einhaltung dieser Konvention gewährleisten.

1.8   Wie bereits 2008 (2) fordert der EWSA dazu auf, der Vertretung von Frauen im Sport und der Förderung der Gleichstellung in diesem Bereich besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

1.9   Der EWSA hebt die Rolle hervor, die gemeinnützige Verbände bei der Sportförderung spielen. Diese Organisationen müssen unbedingt unterstützt werden, sei es durch eine angemessene finanzielle Förderung, sei es durch eine Förderung der ehrenamtlichen Tätigkeit in diesen Organisationen.

1.10   Notwendig ist auch eine aktive Zusammenarbeit zwischen Profi-Organisationen und gemeinnützigen Organisationen, da die Entwicklung des Sports auch davon abhängt. Nach Ansicht des EWSA ist es vorrangig, nachhaltige Finanzierungsformen zu finden, die diese Zusammenarbeit ermöglichen.

1.11   Der EWSA ist besonders besorgt über den wachsenden Sektor illegaler und irregulärer Wetten und Glücksspiele, für die es offenkundig an Regelungen und geeigneten Strafen mangelt. Die staatlich betriebene oder lizenzierte Wett- und Glücksspielbranche kann für die Finanzierung des Sports durch die Investition von Einnahmen in die Modernisierung von Sportanlagen von großer Bedeutung sein. Es muss ein Dialog zwischen den Mitgliedstaaten geschaffen werden, um die Modelle zu ermitteln, die den Grundsätzen der EU am besten entsprechen. Für die Integrität und Transparenz im Sport sind Regelungen für den Wett- und Glücksspielmarkt äußerst wichtig.

1.12   Der EWSA erkennt die Schwierigkeiten der EU bei der Regulierung des Wettmarkts an. Die Binnenmarkt- und Wettbewerbsvorschriften müssen ebenso wie das Subsidiaritätsprinzip voll und ganz eingehalten werden. Der EWSA fordert die Kommission dazu auf, dieses Thema aufmerksam zu verfolgen, Leitlinien für die Regulierung dieses Markts zu erarbeiten und dabei diese Grundsätze und die aus der laufenden Konsultation (3) ggf. gewonnenen relevanten Informationen zu berücksichtigen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1   Einleitung

2.1.1   Am 18. Januar 2011 verabschiedete die Kommission eine Mitteilung über die Entwicklung der europäischen Dimension im Sport, in der eine allgemeine Bilanz der Ergebnisse des Weißbuchs „Sport“ gezogen wird. Der Rat der Europäischen Union legte im Einklang mit Artikel 165 AEUV einen auf Arbeitsgruppen beruhenden Aktionsplan fest, um die gesteckten Ziele zu konkretisieren.

2.1.2   Die Bedeutung des Sports ist allseits anerkannt – nicht nur von den Mitgliedstaaten, sondern auch von allen Interessenträgern. Der Mehrwert des Sports für die Gesellschaft steht außer Frage. Die vorteilhafte Wirkung des Sports für die Gesundheit, die soziale Integration und die Wirtschaft in der EU führt die Notwendigkeit der Zusammenarbeit und der Erarbeitung abgestimmter Strategien vor Augen. Die EU ist die Ebene, die am besten geeignet ist, um die Mitgliedstaaten so anzuleiten, dass sie positive Ergebnisse in diesem Bereich erzielen können.

2.1.3   Die Bedeutung der europäischen Dimension des Sports ist offenkundig, sowohl für die Finanzierung einschlägiger Programme und Maßnahmen als auch für die Entwicklung spezifischer Plattformen für Dialog und Informationsaustausch.

2.1.4   Die Olympischen Spiele 2012 in London bieten eine Gelegenheit, um die europäische Dimension des Sports auf mehreren Ebenen hinsichtlich der Organisations-, Überwachungs- und Koordinierungsmodelle wie auch hinsichtlich der Ergebnisse des Dialogs zwischen den unterschiedlichen Akteuren zu entwickeln.

2.2   Ziele und Inhalt der Mitteilung

2.2.1   Mit Inkrafttreten des neuen Vertrags hat die EU eine neue Zuständigkeit für den Bereich des Sports erhalten. Bisher stand die Entwicklung der europäischen Dimension des Sports in indirektem Zusammenhang mit den Zuständigkeiten für Soziales, Bildung und Gesundheit oder in einem noch indirekteren Zusammenhang mit der Achtung der Grundsätze des Binnenmarkts und des Wettbewerbsrechts.

2.2.2   Trotz dieser Einschränkungen wurde seit jeher die Ansicht vertreten, dass es im Interesse der Mitgliedstaaten wäre, wenn sie zwecks Entwicklung des Sports zusammenarbeiten würden. Die EU ist inzwischen eine für Gestaltung dieser Politik geeignete Ebene.

2.2.3   Es wurde versucht, die Erfordernisse und die Bedeutung der europäischen Dimension des Sports zu ermitteln. Es wurden die wichtigsten, für Maßnahmen auf EU-Ebene am besten geeigneten Aspekte bestimmt. So fanden öffentliche Anhörungen der verschiedenen Interessenträger statt, um vorrangige Aktionsbereiche zu identifizieren. Es handelt sich dabei um folgende drei Bereiche:

die gesellschaftliche Rolle des Sports

die wirtschaftliche Dimension des Sports

organisatorische Fragen des Sports.

Innerhalb dieser Bereiche wurden wiederum besonders relevante Aspekte ermittelt.

2.2.4   In der hier untersuchten Mitteilung geht es um die Fortführung bzw. Vertiefung des Weißbuchs unter Berücksichtigung des bisher Erreichten und natürlich die Nutzung der zugewiesenen Befugnisse entsprechend dem neuen Vertrag (und dem einschlägigen Artikel 165 AEUV).

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Gesundheit

3.1.1   Der EWSA stellt fest, dass eine sportliche Betätigung die körperliche und geistige Gesundheit der Bürger grundsätzlich verbessert und einen direkten positiven Einfluss auf ihre Leistungsfähigkeit im Beruf und ihre Lebensqualität hat und ein sehr wichtiges Mittel gegen Beschwerden aufgrund sitzender Tätigkeiten darstellt.

3.1.2   Sport trägt zur Prävention und Bekämpfung von Übergewicht und einer Reihe von gravierenden Krankheiten – insbesondere Blutgefäßerkrankungen – bei. In diesem Sinne bringt er zusätzliche wirtschaftliche Vorteile, und zwar durch die Senkung der Kosten im Gesundheits- und Sozialsystem.

3.1.3   Ebenso spielt der Sport eine grundlegende Rolle bei der sozialen Integration und für das Wohlbefinden älterer Menschen. Er trägt nicht nur zur Bekämpfung von Krankheiten bei, sondern fördert auch eine bessere Kommunikation zwischen den Generationen.

3.2   Dopingbekämpfung

3.2.1   Die Dopingbekämpfung hat sehr große Bedeutung. Der Schutz der körperlichen Integrität von Sportlern und der Ehrlichkeit im Sport erfordert Maßnahmen, die auf allen Ebenen koordiniert werden sollten – nicht nur zwischen den 27 Mitgliedstaaten und ihren zuständigen Behörden, sondern auch auf internationaler Ebene. Je enger die Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen allen Beteiligten bezüglich der besten Vorgehensweisen, desto höher die Erfolgsraten.

3.2.2   Der Kampf gegen Doping ist nicht nur im Profisport, sondern auch im Amateursport von besonderer Relevanz.

3.2.3   Entscheidend ist ein entschlossenes und koordiniertes Handeln der Mitgliedstaaten zur Regulierung und Überwachung des Inverkehrbringens von Dopingmitteln, weshalb der EWSA die Absicht der Kommission unterstützt, einen Mandatsentwurf für den Beitritt zum Anti-Doping-Übereinkommen des Europarates vorzulegen.

3.3   Allgemeine und berufliche Bildung sowie Qualifikationen im Sport

3.3.1   Körperliche Betätigung in der Schule ist der erste Schritt, um Kindern die Werte zu vermitteln, die sie ihr ganzes Leben lang bewahren werden. Der EWSA unterstützt voll und ganz die Maßnahmen, die auf die Anwendung bewährter Sportmethoden im Schulwesen und die Verbesserung der erforderlichen Anlagen abzielen.

3.3.2   Der EWSA teilt die Auffassung der Europäischen Kommission, dass der Bedeutung der „doppelten Laufbahnen“ auch bei der allgemeinen und beruflichen Bildung von Sportlern Rechnung getragen werden sollte.

3.3.3   Der EWSA unterstützt auch die Initiativen im Rahmen des Programms für lebenslanges Lernen, einer zentralen Strategie zur Verwirklichung der anerkannten Werte des Sports.

3.3.4   Die angemessene Qualifizierung der Ausbilder und Auszubildenden im Hinblick auf die Sportausübung ist entscheidend für die Wahrung der Werte des Sports. Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass Sportqualifikationen in die nationalen Qualifikationssysteme aufgenommen werden sollten, um eine Übereinstimmung mit dem Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) zu erreichen.

3.3.5   Die Freiwilligentätigkeit im Sport, vor allem in örtlichen Vereinen, ist für die Gesellschaft als Ganzes von erheblichem Wert. Auf Freiwilligentätigkeit beruhende gemeinnützige Sportvereine erhalten von der Politik häufig nicht die Anerkennung, die ihnen gebührt, und stehen derzeit vor großen Herausforderungen. Der EWSA betont, dass die Bedeutung der Freiwilligentätigkeit im Sport in der Kommissionsmitteilung nicht hinreichend berücksichtigt wurde. Er fordert die Kommission deshalb auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Freiwilligentätigkeit im Sport zu fördern. Insbesondere sollten die Qualifizierung und Ausbildung Freiwilliger sowie der Erwerb der entsprechenden Kenntnisse und Kompetenzen auf EU-Ebene nachdrücklicher unterstützt werden. Darüber hinaus sollte die Kommission diesen Prozess mitverfolgen und bei der Erarbeitung europäischer Rechtsvorschriften unerwünschte, negative Folgen für gemeinnützige Sportvereine vermeiden.

3.4   Bekämpfung von Gewalt im Sport

3.4.1   Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission zur Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen, die auf die Schulung von Zuschauern und Polizeibeamten für den Umgang mit Gewalt im Sport gerichtet sind.

3.4.2   Die Schulung der Zuschauer beginnt bereits im Kindesalter, in den Schulen. Die Werte der sportlichen Aktivität und Praxis müssen einen höheren Stellenwert erhalten als die eines ungesunden Wetteiferns.

3.4.3   Gewalt im Sport ist ein ernstzunehmendes Phänomen, das überall in Europa auftritt. Diese Gewalt steht gemeinhin im Zusammenhang mit Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und ähnlichen Verhaltensweisen. Die zu ergreifenden Maßnahmen müssen auf die Bekämpfung dieser Phänomene, die im völligen Widerspruch zu den Werten des Sports stehen, ausgerichtet sein.

3.4.4   Es bedarf ständig kontrollierter Informationen und einer permanenten Zusammenarbeit zwischen den für das Wohl der Zuschauer zuständigen Organisationen, um vor allem Übergriffen durch zuvor ermittelte Risikogruppen – in erster Linie bei internationalen Sportveranstaltungen – vorzubeugen.

3.5   Soziale Integration in und durch den Sport

3.5.1   Allen Menschen – einschließlich behinderter oder älterer Personen – muss der Zugang zu Sportanlagen wie auch zur Sportausübung ermöglicht werden. Zur Verwirklichung dieses Ziels sind öffentliche Fördermittel entscheidend.

3.5.2   Die Ausübung eines Sports durch Behinderte ist im Hinblick auf die Frage, wie diese an sämtlichen Sportarten teilnehmen können, noch nicht hinreichend erforscht. Der EWSA unterstützt die diesbezügliche Initiative der Kommission.

3.5.3   Es sind Maßnahmen erforderlich, die die Einhaltung der von den Mitgliedstaaten und der EU unterzeichneten UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen gewährleisten. Der EWSA fordert die Kommission dazu auf, die von den Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht ergriffenen Maßnahmen zu überprüfen.

3.5.4   Es ist für die Gleichstellung von Frauen und Männern zu sorgen, zumal Frauen in vielen Sportbereichen unterrepräsentiert sind. Der EWSA unterstützt die Initiativen, die die Achtung der Grundsätze der Geschlechter- und Chancengleichheit zum Ziel haben. Deshalb stimmt er der Aufnahme der Kategorie „Sport“ in die Datenbank über Frauen in Führungspositionen zu.

3.5.5   Sport kann ein Mittel zur Integration und zum Dialog zwischen verschiedenen Kulturen sowie zur Förderung des Gedankens der Unionsbürgerschaft sein. Auch ist zu betonen, dass der Sport das Potenzial zur Integration benachteiligter und besonders gefährdeter Gruppen besitzt. Der EWSA teilt gänzlich die Auffassung, dass Programme für die soziale Integration durch Sport unterstützt werden müssen. Nichtstaatliche Organisationen spielen in diesem Bereich eine grundlegende Rolle, die gefördert werden muss.

3.5.6   Die Migration von Sportlern spielt eine immer wichtigere Rolle. Die Eingliederung dieser Personen wie auch ihrer Familien in die Aufnahmeländer ist eine Form der Kultur- und Sozialförderung dieser Länder. Der EWSA unterstützt die Anstrengungen der Mitgliedstaaten und der Kommission zur Schaffung rechtlicher Anreize für die Aufnahme, Ansiedlung und Nichtdiskriminierung dieser Bürger.

3.6   Wirtschaftliche Dimension des Sports

3.6.1   Der EWSA erkennt die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung des Sports an. Dieser Bereich macht ca. 2 % des gesamten BIP der EU aus. Der Sportmarkt trägt zur Beschäftigungsfähigkeit und zu Wachstumsraten bei. Viele Organisationen haben die Form eines Unternehmens angenommen, wenngleich ein Großteil von ihnen gemeinnützig bleibt. Es müssen Beziehungen zwischen diesen beiden Organisationstypen geschaffen oder weiterentwickelt werden, um sie wirtschaftlich nachhaltig zu gestalten.

3.6.2   Der Privatsektor spielt sowohl direkt durch spezifische Beiträge als auch durch Marketing bzw. Sponsoring eine besondere soziale Rolle bei der Entwicklung des Sports.

3.6.3   Der EWSA anerkennt und unterstützt die Schaffung eines Satellitenkontos Sport. Um die am besten geeigneten Maßnahmen ergreifen zu können, sind verlässliche Daten über die durch den Sport generierten Geldbeträge unabdingbar. Je größer die Zusammenarbeit und die Datenmenge sind, desto besser kann eine zweckdienliche Politik gestaltet werden.

3.6.4   In der vorliegenden Mitteilung spielt die Nutzung der Eigentumsrechte der Organisatoren an ihren Sportveranstaltungen sowie ihrer Rechte des geistigen Eigentums eine wichtige Rolle. Der EWSA befürwortet diese Schwerpunktlegung. Der Verkauf von Fernsehrechten und Werbeartikeln macht einen Großteil der Einnahmen dieser Sportstrukturen aus. In diesem Sinne sollten die Rechte der Sportorganisationen im Rahmen der EU-Gesetzgebung gestärkt werden. Sportveranstalter sollten das Recht haben, für die Nutzung ihrer Veranstaltungen einen angemessenen Ausgleich zu verlangen, ungeachtet ihrer Form und ihres wirtschaftlichen Nutzens.

3.6.5   Der EWSA teilt die in der Mitteilung vorgenommene rechtliche Analyse in Bezug auf die potenzielle Missachtung der Wettbewerbsvorschriften durch die zentrale Vermarktung von Rechten. Allerdings ist zu begrüßen, dass die Erfüllung der Kriterien für die Freistellung gemäß Artikel 101 Absatz 3 AEUV anerkannt wird. Der EWSA stellt fest, dass die zentrale Vermarktung eindeutige Vorteile für Sportstrukturen bringt und diese vom Geltungsbereich von Artikel 101 Absatz 1 AEUV ausgeklammert werden sollten.

3.6.6   Auch in Europa ist der Handel mit Sportgeräten, Sportbekleidung und sonstigen Sportartikeln (und ihre Produktion) ein milliardenschwerer Markt. Über Werbung und Sponsoring ist der Bereich eine der größten Finanzquellen des Sports. Mehrere Studien im Auftrag von europäischen Organisationen belegen, dass in der globalen Produktionskette für Sportartikel vielerlei Missstände in Bezug auf die Arbeitsbedingungen herrschen, die der Glaubwürdigkeit der gesamten Sportbewegung schaden können. Von den Sportlern, der Sportbewegung, den Unternehmen, die als Sponsoren von Sportveranstaltungen auftreten, sowie von Kooperationspartnern muss gefordert werden, dass sie für eine verlässliche und transparente Überwachung der Produktionskette und ihrer Arbeitsbedingungen sorgen (sowie für ethische Leitlinien, die auf den internationalen Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) beruhen).

3.6.7   Der EWSA ist der Ansicht, dass der staatlich betriebene oder lizenzierte Wett- und Glücksspielmarkt für die finanzielle Nachhaltigkeit des Sports besonders wichtig ist. Die Steuereinnahmen sind beträchtlich und dienen indirekt dazu, die finanzielle Nachhaltigkeit der verschiedenen Ebenen des Sports zu ermöglichen. Ebenso sollten die Betreiber von Online-Sportwetten es den Organisatoren von Sportveranstaltungen auf Vertragsbasis ermöglichen, die angebotenen Wettarten zu kontrollieren und eine Gegenleistung für die Nutzung der Veranstaltungen, auf denen die Online-Sportwetten basieren, zu erhalten.

3.6.8   Die Einrichtung einer europäischen Sportlotterie könnte dieses Marktsegment attraktiver machen und Mittel mobilisieren, um die Entwicklung regionaler Sportstrukturen sowie die sportliche Schul- und Berufsbildung zu finanzieren.

3.6.9   Der EWSA sieht die Schwierigkeiten, die die Regulierung dieses Markts bereitet, erinnert die Kommission jedoch daran, dass es nach den Grundsätzen des Binnenmarkts und des Wettbewerbsrechts rechtlich möglich ist, Maßnahmen zu fördern, um diesen Bereich transparenter zu gestalten.

3.6.10   Der illegale Wettmarkt zeichnet sich durch Korruption und mafiöse Gruppierungen aus. Diese versuchen – mitunter erfolgreich - Ergebnisse zu manipulieren, wobei sie der Integrität im Sport schaden, verschiedene Akteure und Sportler korrumpieren und die Werte des Sports aushöhlen. Der EWSA ersucht die Kommission und die Mitgliedstaaten nachdrücklich um eine rechtliche Harmonisierung zur Bekämpfung dieser illegalen Praktiken.

3.6.11   Der EWSA begrüßt die Initiative, die Anwendung der Rechtsvorschriften für staatliche Beihilfen auf den Sport zu überwachen, um die uneingeschränkte Einhaltung des europäischen Rechts zu gewährleisten.

3.6.12   Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die Nutzung der Fördermöglichkeiten im Rahmen des Europäischen Regionalfonds zur Verbesserung der Sportinfrastruktur, da die ehrenamtlichen Organisationen diese Förderung benötigen, die auch der regionalen und ländlichen Entwicklung der Mitgliedstaaten zugutekommt.

3.7   Organisation des Sports

3.7.1   Es ist sehr wichtig zu klären, welche EU-Rechtsvorschriften für den Sportsektor gelten. Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, im Einzelfall Unterstützung und Orientierungshilfe zur sachgerechten Anwendung des Begriffs der „Sonderstellung des Sports“ anzubieten.

3.7.2   Der EWSA teilt voll und ganz die zunehmende Sorge hinsichtlich der Tätigkeit von Spielervermittlern. Es ist eine vorrangige Aufgabe, die Folgen derartiger Aktivitäten auf Sport- und Ausbildungsstrukturen zu begreifen und zu untersuchen sowie für einen besseren Schutz der Athleten zu sorgen.

3.7.3   Eine etwaige Konferenz zur regelmäßigen Untersuchung der Entwicklung der europäischen Dimension des Sports und ihrer Auswirkungen findet bereits jetzt die Unterstützung durch den EWSA, der seine aktive Mitwirkung daran anbietet.

3.7.4   Im Einklang mit dem Vorschlag der Kommission hält es der EWSA für entscheidend, einen kontinuierlichen Dialog zwischen den Sozialpartnern und den Sportorganisationen zu führen und zu fördern, um die Aspekte der mit dem Sport verbundenen Bereiche, wie allgemeine und berufliche Bildung, Schutz von Minderjährigen, Gesundheit und Sicherheit, Beschäftigung, Arbeitsbedingungen und Beständigkeit von Verträgen, zu erforschen und zu erörtern.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA zum „Weißbuch Sport“, ABl. C 151 vom 17.6.2008.

(2)  Ebenda.

(3)  KOM(2011) 12 endg., S. 10.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/111


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission: Lebensversicherung und Naturkapital: Eine Biodiversitätsstrategie der EU für das Jahr 2020“

KOM(2011) 244 endg.

2012/C 24/24

Berichterstatter: Lutz RIBBE

Die Europäische Kommission beschloss am 3. Mai 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission: Lebensversicherung und Naturkapital: Eine Biodiversitätsstrategie der EU für das Jahr 2020

KOM(2011) 244 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 6. Oktober 2011 an. Berichterstatter war Lutz RIBBE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 120 gegen 5 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Ausschusses

1.1

Erneut begrüßt der EWSA in dieser, seiner mittlerweile vierten Stellungnahme zur Biodiversitätspolitik innerhalb von nur vier Jahren, dass die Kommission deutlich macht, dass viel mehr getan werden muss, damit die von Europäischen Rat gesteckten Ziele erreicht werden.

1.2

Kritisch betrachtet der EWSA die Tatsache, dass von der Kommission keine wirkliche Analyse vorgenommen wird, weshalb die seit Jahren bekannten und vom Ausschuss stets begrüßten Forderungen – z.B. die 160 Maßnahmen des Biodiversitätsaktionsplans aus dem Jahr 2006 – nicht oder nur unzureichend umgesetzt wurden. Eine Ursachenforschung für die Nicht-Umsetzung oder das Scheitern des umfangreichen Maßnahmenkataloges des Biodiversitätsaktionsplans aus dem Jahr 2006 ist umso wichtiger, als sich letztendlich nur daraus zielgerichtet neue, erfolgversprechendere Maßnahmen und Strategien entwickeln lassen.

1.3

Die jetzt vorgelegte Strategie beinhaltet nichts substantiell Neues! Mit der Vorlage eines neuen Strategiepapiers, das alt bekannte Forderungen enthält, ist der Problematik nicht zu begegnen. Beim Erhalt der Biodiversität sind wir nicht arm an Gesetzen, Richtlinien, Programmen, Modellprojekten, politischen Erklärungen oder Handreichungen, sondern arm an Umsetzungen und konzertierten Aktionen auf allen politischen Handlungsebenen.

1.4

Die Politik hatte bisher nicht die Kraft bzw. den Willen, die seit Jahren als notwendig anerkannten Maßnahmen zu realisieren, obwohl die Mitteilung abermals deutlich macht, dass von einer stringenten Biodiversitätspolitik Gesellschaft und Wirtschaft gleichermaßen profitieren. Nicht einmal die zentralen Naturschutzrichtlinien der EU sind – 32 bzw. 19 Jahre nach deren Inkrafttreten! – durch die Mitgliedstaaten vollständig umgesetzt worden.

1.5

Der EWSA erkennt durchaus an, dass es Teilerfolge beim Erhalt der Biodiversität gibt. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Summe die Biodiversität dramatisch zurückgeht. Deshalb steht die EU vor der Herausforderung, eine umsetzungsorientierte Strategie zu entwickeln.

1.6

Leider bleibt unklar, wie der bisher fehlende politische Wille überwunden werden kann. Insofern stellt die vorgelegte Biodiversitätsstrategie keinen wirklichen Fortschritt dar. Die bisherigen Debatten im Ministerrat zu dieser Mitteilung zeigen, dass man immer noch weit davon entfernt ist, eine Integration der Biodiversitätspolitik in andere Fachpolitiken zu vollziehen.

1.7

Es ist deshalb von größter Wichtigkeit, dass bei den anstehenden politischen Reformprozessen (beispielsweise der Fischerei-, Agrar-, Verkehrs-, Energie- und Kohäsionspolitik) ein enger Bezug zur Biodiversitätsstrategie hergestellt wird. Der EWSA sieht hier aber noch große Defizite. Dies gilt auch für die vorgelegten Planungen zur Finanziellen Vorausschau 2014-2020, die dem EWSA nicht geeignet zu sein scheinen, die notwendigen Finanzmittel im notwendigen Umfang bereitzustellen. Die Kommission muss ihre eigene Biodiversitätsstrategie ernster nehmen!

1.8

Während der Erarbeitung dieser Stellungnahme wurden bei diesem Diskussionspunkt durchaus Parallelen zur Schulden- und Eurokrise gezogen. Wenn die Mitgliedstaaten der EU ihre eigenen Grundsätze und Kriterien selbst nicht ernst nehmen, seien es nun die Naturschutzvorschriften oder die im Vertrag von Maastricht niedergelegten Stabilitätskriterien für die Währungsunion, braucht man sich nicht zu wundern, wenn a) in dem Politikbereich Probleme entstehen und b) die Bürger das Vertrauen in die Politik verlieren.

1.9

Es besteht ein eindeutiger Bedarf an Information und Wissen über die biologische Vielfalt, ihre komplexen Wechselwirkungen mit Entwicklung und Beschäftigung, sowie zur Identifizierung und Unterstützung von Erfolgsbeispielen.

1.10

Die Kommission wird aufgefordert, die bereits 2006 angekündigte Liste umweltschädlicher Subventionen endlich vorzulegen.

2.   Hauptelemente und Hintergrund des Kommissionsdokuments

2.1

Im Jahr 2001 beschloss der Europäische Rat in Göteborg die EU-Nachhaltigkeitsstrategie, die auch für den Bereich der Biodiversitätspolitik ein klares Ziel formulierte. Dieses lautete: „Schutz und Wiederherstellung von Habitaten und natürlichen Systemen und Eindämmung des Verlustes der biologischen Vielfalt bis zum Jahr 2010 (1).

2.2

Im März 2010 mussten die Staats- und Regierungschefs der EU anerkennen, dass sie ihr Ziel nicht erreicht haben. Sie haben deshalb ein neues, von der Kommission in ihrer Mitteilung „Optionen für ein Biodiversitätskonzept und Biodiversitätsziel der EU für die Zeit nach 2010 (2) vorgeschlagenes Ziel befürwortet. Es bezieht sich auf das Jahr 2020 und lautet: „Aufhalten des Verlustes an biologischer Vielfalt und der Verschlechterung der Ökosystemdienstleistungen in der EU und deren weitestmögliche Wiederherstellung bei gleichzeitiger Erhöhung des Beitrags der Europäischen Union zur Verhinderung des Verlustes an biologischer Vielfalt weltweit“.

2.3

Der Rat beauftragte die Kommission, einen Entwurf für eine neue Strategie zur Erreichung dieses Ziels zu erarbeiten; dieser wird mit dieser Mitteilung vorgelegt.

2.4

Die Kommission unterstreicht darin – mit seit Jahren bekannten Fakten – die Notwendigkeit, endlich zu handeln:

der Biodiversitätsverlust wird neben dem Klimawandel als die „kritischste globale Umweltbedrohung“ angesehen, wobei angemerkt wird, dass beide Bedrohungen untrennbar miteinander verbunden sind;

das Artensterben findet gegenwärtig in einem beispiellosen Tempo statt: heute gehen Arten 100 bis 1 000 mal schneller verloren, als dies unter natürlichen Bedingungen der Fall wäre;

in der EU befinden sich nur 17 % der EU-rechtlich geschützten Lebensräume und Arten und 11 % der wichtigsten EU-rechtlich geschützten Ökosysteme in einem günstigen Zustand (3)  (4);

die wenigen positiven Ergebnisse der seit 2001 eingeleiteten Maßnahmen „wurden durch die fortwährenden und zunehmenden Belastungen, denen die biologische Vielfalt in Europa ausgesetzt ist, wieder aufgehoben: Landnutzungsänderungen, der Raubbau an der biologischen Vielfalt und ihrer Komponenten, die Einschleppung invasiver gebietsfremder Arten, Umweltverschmutzung und Klimawandel sind entweder konstant geblieben oder nehmen zu“;

die Tatsache, dass dem wirtschaftlichen Wert der biologischen Vielfalt bei der Entscheidungsfindung nicht Rechnung getragen wird, trägt ebenfalls in hohem Maße zum Biodiversitätsverlust bei.

2.5

Den wirtschaftlichen Aspekten des Biodiversitätsrückgangs wird in der Mitteilung größere Aufmerksamkeit gewidmet, als dies in früheren Papieren der EU der Fall war, was unter anderem an der immer häufigeren Verwendung des Begriffes der „Ökosystemdienstleistungen“ deutlich wird. Es wird erneut auf die TEEB (5)-Studie verwiesen und als ein Beispiel angemerkt, dass allein der Wert der Insektenbestäubung für die EU auf 15 Mrd. EUR jährlich geschätzt wird. Daraus wird abgeleitet, dass der „kontinuierliche Rückgang an Bienen und anderen Bestäubern (…) für die europäischen Landwirte (…) ernste Folgen haben“ könnte.

2.6

In Teil 3 der Mitteilung wird ein Handlungsrahmen für das kommende Jahrzehnt beschrieben, der aus 6 Einzelzielen besteht:

Einzelziel 1: Vollständige Umsetzung der Vogelschutz- und der Habitatrichtlinie;

Einzelziel 2: Erhaltung und Wiederherstellung von Ökosystemen und Ökosystemdienstleistungen;

Einzelziel 3: Erhöhung des Beitrags von Land- und Forstwirtschaft zur Erhaltung und Verbesserung der Biodiversität;

Einzelziel 4: Sicherstellung der nachhaltigen Nutzung von Fischereiressourcen;

Einzelziel 5: Bekämpfung invasiver gebietsfremder Arten und

Einzelziel 6: Beitrag zur Vermeidung des globalen Biodiversitätsverlustes.

2.7

Jedes Einzelziel umfasst ein Maßnahmenpaket, mit dem die spezifischen Herausforderungen, denen das jeweilige Ziel gewidmet ist, gemeistert werden sollen. Insgesamt werden 37 Maßnahmen beschrieben.

2.8

Mehrfach wird in der Mitteilung darauf hingewiesen, dass es einer verbesserten Integration der Biodiversitätspolitik in andere Politikbereiche der EU (wie der Agrar- bzw. der Fischereipolitik) bedarf.

2.9

Besonders in zwei Bereichen besteht Finanzierungsbedarf: bei der Vollendung des Natura-2000-Netzes sowie bei der Umsetzung der vereinbarten globalen Verpflichtungen (6).

2.10

Es wird ferner darauf hingewiesen, dass „die Reform der umweltschädlichen Subventionierung (…) auch der Biodiversität zugute kommen“ wird.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA hat bereits im Februar 2007, im Juli 2009 sowie im September 2010 zu Fragen der Biodiversitätspolitik Stellung genommen.

3.2

Der EWSA stellt fest, dass die in dem jetzigen Strategieentwurf genannten Bereiche, Ziele und Maßnahmen schon 2006 zentraler Bestandteil des damaligen Aktionsplans waren.

3.3

Die jetzt vorgelegte Strategie beinhaltet nichts substantiell Neues, sie zeigt aber noch einmal auf, welche Ansätze absolut unverzichtbar sind und wo sowohl die dringlichsten wie auch erfolgversprechendsten Ansätze liegen! Die Strategie ist weitgehend ein „Copy and Paste“ alter, längst bekannter Fakten, Forderungen und Maßnahmen. Das zeigt: es ist alles hinlänglich bekannt. Man muss sich nicht mehr mit der Frage befassen, was zu tun ist, sondern vielmehr mit der, warum es nicht getan wird und wie wir zu zielgerichtetem Handeln kommen. Allerdings gibt die Strategie bisher auf diese zentrale Frage keine Antwort!

3.4

Deshalb ist das Kommissionspapier unbefriedigend. Der EWSA fordert deshalb eine stärkere Umsetzungsorientierung in der Biodiversitätsstrategie 2020.

3.5

Der EWSA möchte in Erinnerung rufen, was er bereits 2007 zusammengefasst hat:

Der Erhalt der Biodiversität ist eine notwendige und zentrale Aufgabe, für die es nicht nur eine ethisch-moralische Verpflichtung gibt. Es existieren auch ökonomische Begründungen, die ein schnelleres und erfolgreicheres Handeln erforderlich machen.

Der Artenschwund in Europa ist das Ergebnis von Millionen einzelner Werteentscheidungen der letzten Jahrzehnte, die zum absolut überwiegenden Teil im Rahmen bestehender Gesetze vonstatten gingen.

Die Biodiversitätsentwicklung ist weiterhin negativ. Es fehlte bislang der politische Wille, die seit langem als notwendig anerkannten Maßnahmen auch wirklich durchzusetzen.

Die Gründe hierfür werden von der Kommission richtig benannt, „Versagen der öffentlichen Institutionen und Versäumnis der traditionellen Wirtschaftswissenschaften, den wirtschaftlichen Wert des Naturerbes und der Ökosystemleistungen anzuerkennen“.

Dies und die Tatsache, dass die ethisch-moralische Begründung der Biodiversitätserhaltung bei planerischen und politischen Abwägungsprozessen eher zweitrangig behandelt wird, haben zur jetzigen Zuspitzung der Situation geführt.

Er hat den Aktionsplan von 2006 begrüßt und, die dort genannten 160 (!) Maßnahmen als sinnvoll anerkannt; die meisten davon waren schon damals keinesfalls neu, sondern standen seit Jahren auf der Tagesordnung. Der EWSA bedauert, dass die fehlende strategische Auseinandersetzung mit der in seiner Sondierungsstellungnahme vom 18. Mai 2006 (7) aufgeworfenen Frage, wieso zwischen Anspruch, Ankündigung und Wirklichkeit bei der Biodiversitätserhaltung so eklatante Lücken klaffen, in der Kommissionsmitteilung und dem Aktionsplan fast völlig ausgeklammert wurde.

Der EWSA unterstützt das Konzept der globalen Verantwortung der EU.

3.6

Diese Kernaussagen der 2007 im Plenum verabschiedeten Stellungnahme sind heute so aktuell wie damals. Der EWSA bedauert zutiefst, dass sich in den vergangenen Jahren nichts wirklich Entscheidendes verändert hat.

3.7

Eine Ursachenforschung für die Nicht-Umsetzung oder das Scheitern des umfangreichen Maßnahmenkataloges des Biodiversitätsaktionsplans aus dem Jahr 2006 fehlt auch in dieser Mitteilung der Kommission. Eine solche qualifizierte Analyse des Scheiterns ist umso wichtiger, als sich letztendlich nur daraus zielgerichtet neue, erfolgversprechendere Maßnahmen und Strategien entwickeln lassen. Mit der Vorlage eines neuen Strategiepapiers, das alt bekannte Forderungen enthält, ist der Problematik nicht zu begegnen.

3.8

Obwohl die Kommission seit Jahren versucht, verstärkt auch ökonomische Argumente für die Biodiversitätserhaltung ins Feld zu führen, sind die Erfolge gering. Der EWSA, der die Biodiversitätspolitik einmal als „Langzeitökonomie“ bezeichnet hat, „weshalb sich endlich auch die Wirtschafts- und Finanzminister dieses Themas annehmen sollten (8), begrüßt auf der einen Seite, dass der Versuch unternommen wird, die Folgen unterlassener Biodiversitätspolitik auf die Wirtschaft aufzuzeigen. Es mangelt aber bisher an der Integration der Biodiversitätspolitik in die Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU. Die neue Strategie müsste eine Antwort darauf geben, wie dies verändert werden kann.

3.9

Auf der anderen Seite möchte der EWSA durchaus auf eine Gefahr hinweisen, die mit der zunehmenden Ökonomisierung verbunden sein könnte. Nämlich dass Schutz der Biodiversität sich zukünftig besonders auf jene Bereiche konzentrieren könnte, die sich kurzfristig ökonomisch rechnen bzw. zu rechnen scheinen. Die Kommission sollte deshalb überlegen, wie man mit Arten und Lebensräumen umgeht, deren ökonomischer Wert sich nicht direkt kalkulieren lässt? Den Wert z.B. von Großsäugern wie Wolf, Bär oder Luchs in Euro und Cent zu beschreiben, dürfte schwer fallen, gleiches gilt für Grasfrosch, Heuschrecke, Weißstorch und tausende weitere Arten. Daneben stehen Arten, deren „Leistung“ auch ökonomisch gar nicht hoch genug einzuschätzen ist, völlig außerhalb der politischen Debatte: wo gibt es Schutzprogramme für Bakterien, Pilze oder Regenwürmer, also die Destruenten, ohne die der Abbau organischer Substanzen nicht funktionieren würde?

3.10

Die Strategie konzentriert sich stark auf die Land- und Forstwirtschaft sowie die Fischereipolitik. Dies ist auf der einen Seite gerechtfertigt, weil a) die Auswirkungen auf die Biodiversität vorhanden sind und b) es sich um Politikbereiche handelt, die hohe Flächenanteile einnehmen und von der EU beeinflusst werden können. Anderseits kommen andere Belastungspfade der Biodiversität wie Verkehr und Siedlungsentwicklung zu kurz.

3.11

Wenn die Kommission im Entwurf der Strategie darauf hinweist, dass „die Reform der umweltschädlichen Subventionierung (…) auch der Biodiversität zugute kommen“ wird, so hat sie damit sicher recht. Nur: sie sollte die Liste umweltschädlicher Subventionen endlich einmal vorlegen. Ein entsprechendes Versprechen gibt es seit 2006, eingelöst ist es bis heute nicht.

3.12

Der EWSA begrüßt die Ankündigung der Kommission, alle Ausgabenpositionen nun auf ihre Biodiversitätsverträglichkeit zu überprüfen und dafür zu sorgen, dass mit einer „No-net-loss“-Initiative keine weiteren Schädigungen an der Biodiversität verursacht werden sollen.

4.   Anmerkungen zu den Einzelzielen

4.1

Anhand der Betrachtung der sechs Einzelziele und einiger Maßnahmen möchte der EWSA deutlich machen, warum er die vorgelegte neue Biodiversitätsstrategie aus fachlicher Sicht für wenig ambitiös hält. Der Grund dafür, dass die Kommission bei der Formulierung von Maßnahmen sehr zurückhaltend agiert, dürfte eher politischer Natur sein. Die extrem zähen Verhandlungen im Umweltrat über die Festlegung von Einzelmaßnahmen zeugen davon, dass es nach wie vor an der Integration der Biodiversität in andere Politikbereiche mangelt.

4.2

Einzelziel 1:

4.2.1

Die Vogelschutzrichtlinie aus dem Jahr 1979 sowie die Habitatrichtlinie aus dem Jahr 1992 sind die für den europäischen Naturschutz zentralen Richtlinien, ohne deren vollständige Umsetzung der Naturschutz in Europa chancenlos ist. Es kann allerdings als ein fatales Signal verstanden werden, dass das Einzelziel 1 der neuen Biodiversitätsstrategie lautet: „ Vollständige Umsetzung der Vogelschutz- und der Habitatrichtlinie “. Der EWSA betrachtet es als größtes Problem der Biodiversitätspolitik in Europa, dass diese Richtlinien auch nach 32 bzw. 19 Jahren noch nicht vollständig umgesetzt sind. Dies belegt eindrücklich, dass es beim Erhalt der Biodiversität am politischen Willen mangelt und nicht an rechtlichen Grundlagen oder Strategien. Hier ist sicher auch der Europäische Gerichtshof gefordert, denn selbst gute Strategien können den scheinbar fehlenden politischen Willen nicht ersetzen!

4.2.2

Die Enttäuschung des EWSA über die schleppende Umsetzung dieser Richtlinien gilt umso mehr, als die meisten praktischen Maßnahmen mit positivem Erfolg mittel- bzw. unmittelbar mit diesen Naturschutzrichtlinien verbunden waren. Ab und an wird politisch die Frage gestellt, ob denn diese Richtlinien und ihre Zielsetzungen noch „zeitgemäß“ seien. Der EWSA beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen und unmissverständlichen „Ja“, er sieht keine Chance, die neuen Zielsetzungen ohne schnelle und vollständige Umsetzung der vorhandenen Richtlinien zu erreichen.

4.2.3

Während der Erarbeitung dieser Stellungnahme wurden bei diesem Diskussionspunkt durchaus Parallelen zur Schulden- und Eurokrise gezogen. Wenn die Mitgliedstaaten der EU ihre eigenen Grundsätze und Kriterien selbst nicht ernst nehmen, seien es nun die Naturschutzvorschriften oder die im Vertrag von Maastricht niedergelegten Stabilitätskriterien für die Währungsunion, braucht man sich nicht zu wundern, wenn a) in dem Politikbereich Probleme entstehen und b) die Bürger das Vertrauen in die Politik verlieren.

4.2.4

Bei den Maßnahmen zur Erreichung dieses Einzelziels wird die „Sicherstellung einer angemessenen Finanzierung für Natura-2000-Gebiete“ als vordringlich beschrieben. Der EWSA sieht dies auch so, kann aber dem vorgelegten Entwurf der Finanziellen Vorausschau für 2014 bis 2020 nicht entnehmen, dass es in der neuen Finanzperiode zu den substantiell notwendigen Verbesserungen kommen wird. Eine Prämie für die Bewirtschaftung von Natura 2000-Gebieten, z.B. durch die Landwirtschaft, wäre ein gutes Signal, doch leider ist eine solche in der GAP Reform nicht vorgesehen.

4.2.5

Nur 17 % der EU-rechtlich geschützten Lebensräume und Arten und 11 % der wichtigsten EU-rechtlich geschützten Ökosysteme befinden sich in einem günstigen Zustand. Der EWSA bittet die Kommission um Auskunft darüber, ob das formulierte Ziel, bis 2020 „100 % mehr Lebensraumbewertungen und 50 % mehr Artenbewertungen in einem verbesserten Erhaltungszustand“ zu haben, ausreichend sein wird, den Biodiversitätsrückgang tatsächlich zu stoppen. Er versteht diese Formulierung so, dass die Kommission damit zufrieden wäre, wenn im Jahr 2020 34 % der rechtlich geschützten Lebensräume und Arten in einem günstigen Zustand wären (folglich: 2/3 in einem nicht zufriedenstellenden Zustand).

4.3

Einzelziel 2:

4.3.1

Beim Einzelziel 2 geht es um den „ Erhalt und Wiederherstellung von Ökosystemen und Ökosystemdienstleistungen “, ein Versprechen, dass die Staats- und Regierungschefs bereits 2001 abgegeben hatten. Bis 2020 sollen u.a. durch grüne Infrastrukturen sowie durch die Wiederherstellung von mindestens 15 % der verschlechterten Ökosysteme entsprechende Verbesserungen erreicht werden (9).

4.3.2

Der EWSA betont, dass sich die Flächennutzungskonflikte in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch zugespitzt haben und zwar in allen Bereichen (z.B. Land- und Forstwirtschaft, Energiegewinnung, Transport und Verkehr, Siedlungsentwicklung). Die Wiederherstellung verschlechterter Ökosysteme unter den jetzigen Rahmenbedingungen wird die Flächennutzungskonflikte verstärken, da der Naturschutz – aus Sicht der Flächennutzer – als zusätzlicher Flächenkonkurrent wahrgenommen wird. Der EWSA fordert Aussagen zur Lösung dieser Konflikte in der für 2012 zugesagten Umsetzungsstrategie.

4.4

Einzelziel 3:

4.4.1

Auch Einzelziel 3, die „ Erhöhung des Beitrags von Land- und Forstwirtschaft zur Erhaltung und Verbesserung der Biodiversität “, ist seit Jahren nicht gelöster Bestandteil der Diskussion. Der EWSA hat vielfach darauf hingewiesen, dass innerhalb des Berufsstands der Land- und Forstwirte eine hohe, positive Affinität zum Natur- und Biotopschutz existiert. Viele Modellprojekte zeigen, dass in einem partnerschaftlichen Miteinander Positives erreicht werden kann.

4.4.2

Die Landwirte sind bereit, sich der Herausforderung zu stellen, dass ihnen von der Gesellschaft eine „multifunktionale Rolle“ und keine reine Produktionsfunktion zugewiesen wird. Doch sie sehen sich dabei mit Aufgaben konfrontiert, die zuerst einmal Geld kosten und keines einbringen, da die Erzeugerpreise die zusätzlich erwarteten Leistungen der Landwirtschaft nicht einschließen.

4.4.3

Die Gemeinsame Agrarpolitik muss deshalb entsprechend angepasst werden, um dieses Dilemma aufzulösen. Der EWSA verweist auf seine bisherigen, einschlägigen Stellungnahmen und wird die anstehende GAP Reform auch diesbezüglich intensiv begleiten.

4.4.4

Ergänzend sollten auch Finanzierungsansätze außerhalb des EU-Agrarbudgets geprüft werden, um die notwendige Anreizwirkung sicher zu stellen.

4.5

Einzelziel 4:

4.5.1

Einzelziel 4, die „ Sicherstellung der nachhaltigen Nutzung von Fischereiressourcen “, spricht direkt die Fischereipolitik der EU an. Die Interessen der gewerblichen Fischerei und die des Schutzes der biologischen Vielfalt prallen immer noch konfrontativ aufeinander. Es verwundert kaum, dass die für die Fischerei formulierten Ziele (beispielsweise Maßnahme 13 „Verbesserung der Bewirtschaftung befischter Bestände“) extrem allgemein gehalten sind und kaum quantifizierbare Naturschutzziele aufweisen. Der EWSA begrüßt das Ziel, die Fischbestände ab 2015 (und nicht erst ab 2020) auf einem Niveau zu erhalten (bzw. wieder auf ein Niveau zu bringen), das „höchstmögliche Dauererträge sichert“, doch muss anerkannt werden, dass dies mehr ein fischereiwirtschaftliches und weniger ein naturschutzpolitisches Ziel ist. Doch die Beratungen im Rat haben gezeigt, dass es selbst gegen solche eher unverbindlichen Formulierungen erhebliche Widerstände gibt. Für den EWSA ist dies ein Signal, dass die Biodiversitätspolitik nach wie vor hinter längst als nicht nachhaltig anerkannten Produktionsmethoden zurückstehen muss. Er wird die weiteren Verhandlungen zur Reform der Fischereipolitik intensiv verfolgen.

4.6

Einzelziele 5 und 6:

4.6.1

Zu Einzelziel 5, die „ Bekämpfung invasiver Arten “, hat der EWSA bereits in einer Stellungnahme Position bezogen (10), dieses Problem ist nicht neu, harrt aber ebenso einer Lösung wie Einzelziel 6, der „ Beitrag zur Vermeidung des globalen Biodiversitätsverlustes “. Zu letzterem stellt der Ausschuss fest, dass viele der Ankündigungen und Versprechungen zur globalen Biodiversitätserhaltung offensichtlich nicht eingehalten werden. Das Projekt „Yasuni Nationalpark“ in Ecuador scheint so ein Beispiel zu sein, wo die Staatengemeinschaft mit Finanzbeiträgen helfen wollte, damit dort auf eine Erdölgewinnung verzichtet wird. Diese Gelder sind aber nicht im versprochenen Maße geflossen, so dass dort nun Erdölgewinnung zulasten der Natur im Regenwald stattfinden soll.

4.6.2

Der EWSA bittet Kommission, Rat und Europäisches Parlament, deutlich zu machen, wie viel Geld in der neuen Finanzperiode 2014-2020 für die „globale Biodiversitätspolitik“ bereitgestellt werden wird; aus den bisherigen Dokumenten geht dies nicht hervor. Bisher haben die EU und die Mitgliedstaaten weniger als 0,004 % ihrer Wirtschaftskraft für globale Biodiversitätsentwicklungs- und -erhaltungsmaßnahmen ausgegeben. Damit können die Probleme, die derzeit aufgrund der globalen Flächennutzungskonkurrenz eher noch zunehmen, nicht gelöst werden.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  KOM(2001) 264 endg. vom 15.4.2001, S. 14.

(2)  KOM(2010) 4 endg.

(3)  http://www.eea.europa.eu/publications/eu-2010-biodiversity-baseline/.

(4)  Zu den rechtlich nicht geschützten Lebensräumen und Arten werden keine Angaben gemacht, obwohl diese für die Biodiversität natürlich ebenfalls bedeutsam sind.

(5)  „The Economics of Ecosystems and Biodiversity“ (TEEB), siehe: http://teebweb.org.

(6)  Siehe COP-10-Konferenz in Nagoya 2010.

(7)  ABl. C 195 vom 18.8.2006, S. 96.

(8)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 150, Ziffer 1.6.

(9)  Dieses Ziel korrespondiert mit der entsprechenden CBD-Zielsetzung.

(10)  ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 42.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/116


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 302/2009 über einen mehrjährigen Wiederauffüllungsplan für Roten Thun im Ostatlantik und im Mittelmeer“

KOM(2011) 330 endg. — 2011/0144 (COD)

2012/C 24/25

Berichterstatter: Gabriel SARRÓ IPARRAGUIRRE

Der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament beschlossen am 24. Juni 2011 bzw. 18. Juli 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 302/2009 über einen mehrjährigen Wiederauffüllungsplan für Roten Thun im Ostatlantik und im Mittelmeer

KOM(2011) 330 endg. — 2011/0144 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 6. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 129 gegen 1 Stimme bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1

Der EWSA befürwortet die Vorschläge der Europäischen Kommission und erkennt die Anstrengungen an, die sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Fischer unternehmen, um den anspruchsvollen Wiederauffüllungsplan für Roten Thun der Internationalen Kommission für die Erhaltung der Thunfischbestände im Atlantik (ICCAT) zu erfüllen, der mittlerweile Früchte trägt, dessen Umsetzung jedoch bedeutende soziale und wirtschaftliche Auswirkungen hat, denen Rechnung getragen werden sollte.

1.2

Der Ausschuss fordert die Mitgliedstaaten und die Kommission auf, auch weiterhin die angewandte wissenschaftliche Forschung zu fördern, um festzustellen, ob die Wiederauffüllung gelungen ist, und künftig die besten Bewirtschaftungsmaßnahmen ergreifen zu können.

2.   Einleitung

2.1

Bei dem von der Kommission vorgelegten Verordnungsvorschlag handelt es sich um eine Änderung der Verordnung (EG) Nr. 302/2009 über einen mehrjährigen Wiederauffüllungsplan für Roten Thun im Ostatlantik und im Mittelmeer.

2.2

Mit der Verordnung (EG) Nr. 302/2009, die wiederum infolge der auf der 16. Sondertagung der ICCAT im November 2008 angenommenen Empfehlung 08-05 am 6. April 2009 angenommen wurde, wurde die Verordnung (EG) Nr. 1559/2007 des Rates vom 17. Dezember 2007 aufgehoben, mit der ursprünglich ein mehrjähriger Wiederauffüllungsplan für Roten Thun im Ostatlantik und im Mittelmeer aufgestellt wurde.

2.3

Die ICCAT nahm auf ihrer Jahrestagung 2010 eine Empfehlung zur Änderung des zum damaligen Zeitpunkt geltenden Wiederauffüllungsplans an, um die Bestände an Rotem Thun im Ostatlantik und im Mittelmeer wieder aufzubauen.

2.4

Mit der Empfehlung von 2010 werden die zulässigen Gesamtfangmengen (TAC) weiter verringert und die Maßnahmen zur Reduzierung der Fangkapazitäten und zur Verschärfung der Kontrollmaßnahmen – vor allem im Hinblick auf die Um- und Einsetzvorgänge in Netzkäfige – verstärkt.

2.5

Diese Maßnahmen zielen darauf ab, die Wirksamkeit des Plans zu gewährleisten und bis 2022 eine Biomasse zu erreichen, die mit über 60 %iger Wahrscheinlichkeit dem höchstmöglichen Dauerertrag (MSY) entspricht.

2.6

Die Empfehlungen der ICCAT sind für die Vertragsparteien verbindlich, wenn diese keine Einwände erheben. Da die Europäische Union seit 1997 Vertragspartei der ICCAT ist, muss sie diese Empfehlung, gegen die sie keine Einwände erhoben hat, anwenden.

2.7

Aus diesem Grund ist es Ziel dieses Vorschlags, besagte Empfehlung der ICCAT in EU-Recht umzusetzen.

3.   Änderungen

3.1

Zunächst wird das Ziel des Wiederauffüllungsplans geändert, wobei eine Biomasse zu erreichen ist, die mit über 60 %iger anstatt 50 %iger Wahrscheinlichkeit dem höchstmöglichen Dauerertrag (MSY) entspricht.

3.2

Es werden einige Änderungen an den Begriffsbestimmungen vorgenommen, insbesondere wird die Definition von „Hilfsschiff“ und „Umsetzvorgänge“ erweitert, die von „Aufzucht“ nuanciert und die des Begriffs „zuständiger Mitgliedstaat“ hinzugefügt.

3.3

In Kapitel II über die „Fangmöglichkeiten“ wird für die Mitgliedstaaten die Verpflichtung hinzugefügt, der Kommission jährlich spätestens zum 15. September die vorläufigen jährlichen Fangpläne für das darauffolgende Jahr zu übermitteln.

3.4

In Bezug auf die Kapazitätsbeschränkungen, die Gegenstand von Kapitel III sind, wird für den Zeitraum von 2010 bis 2013 ein Zeitplan für die Anpassung der Fangkapazität der einzelnen Mitgliedstaaten vorgeschlagen, mit dem Ziel sowohl bei Fischereifahrzeugen als auch bei Tonnare-Fängen in allen Mitgliedstaaten im letzten Jahr den Kapazitätsüberhang im Vergleich zu der seiner Quote entsprechenden Fangkapazität zu 100 % abzubauen.

3.5

In Kapitel IV über „Technische Maßnahmen“ wird die Schonzeit in Bezug auf Ringwadenfänger um einen Monat verlängert und erstreckt sich nun auf den Zeitraum vom 15. Juni bis zum 15. Mai des Folgejahres.

3.6

In Kapitel V über die „Kontrollmaßnahmen“ betreffen die Änderungen insbesondere Folgendes:

3.6.1

Die Kommission akzeptiert keine nachträgliche Hinzufügung von Fischereifahrzeugen oder Fangschiffen zu den Listen, die die einzelnen Mitgliedstaaten der Kommission 45 Tage vor Beginn der Fangsaison übermitteln müssen.

3.6.2

Um für eine strenge Kontrolle des Fangs von Rotem Thun zu sorgen, ist der Kapitän eines Fangschiffes der EU verpflichtet, nicht nur die Angaben, die in der Regelung der EU in Bezug auf die Kontrolle der für die gemeinsame Fischereipolitik geltenden Vorschriften vorgeschrieben sind, ins Logbuch einzutragen, sondern auch die in Anhang II des Verordnungsvorschlags aufgeführten Angaben.

3.6.3

Gemeinsame Fangeinsätze mit anderen Parteien sind streng verboten.

3.6.4

Der Artikel der Verordnung Nr. 302/2009 in Bezug auf die „Umsetzvorgänge“ wird vollständig durch einen neuen Text ersetzt, in dem ein effizienteres und klareres System für deren Kontrolle vorgeschlagen wird.

3.6.5

Ebenso erhält der Artikel über das „Einsetzen in Netzkäfige“ eine ganz neue Fassung.

3.6.6

Der Artikel in Bezug auf das „Schiffsüberwachungssystem“ (VMS) wird durch die Auflage ergänzt, die Übertragung von VMS-Daten durch im ICCAT-Fangschiffregister für Roten Thun aufgeführte Fangschiffe an die ICCAT mindestens 15 Tage vor Eröffnung der Fangsaison zu beginnen und noch mindestens 15 Tage nach Abschluss der Fangsaison fortzusetzen. Ferner darf die Übertragung nicht während eines Aufenthalts im Hafen unterbrochen werden.

3.6.7

Die „Registrierung und Meldung von Tonnare-Fängen“ wird insofern abgeändert, als nach jeder Fangtätigkeit nicht nur die registrierten Fänge der Tonnare, sondern auch die geschätzten in der Tonnare verbleibenden Mengen zu übermitteln sind.

3.6.8

Außerdem wird die „gemeinsame internationale Inspektionsregelung der ICCAT“ insofern erweitert, als wenn mehr als 15 Fischereifahrzeuge eines Mitgliedstaats zum selben Zeitpunkt auf Roten Thun im ICCAT-Konventionsgebiet fischen, dieser Mitgliedstaat während dieser Zeit ein Inspektionsschiff in das Konventionsgebiet entsenden oder in Zusammenarbeit mit einem anderen Mitgliedstaat oder einer anderen Partei ein gemeinsames Inspektionsschiff einsetzen muss.

3.6.9

Bei Artikel 30 über „Nationale Beobachterprogramme“ wird die Anwesenheit nationaler Beobachter so geändert, dass diese wie folgt anwesend sind:

auf 100 % der eingesetzten Ringwadenfänger mit einer Länge bis 24 m im Jahr 2011;

auf 100 % der eingesetzten Ringwadenfänger mit einer Länge bis 20 m im Jahr 2012;

auf 100 % der Schlepper.

3.6.10

Im Artikel „Regionales Beobachterprogramm“ erhält Absatz 1 eine neue Fassung, die besagt, dass jeder Mitgliedstaat folgendermaßen die Anwesenheit eines regionalen ICCAT-Beobachters gewährleistet:

an Bord der Ringwadenfänger mit einer Länge über 24 m während der Fangsaison 2011;

an Bord der Ringwadenfänger mit einer Länge über 20 m während der Fangsaison 2012;

an Bord aller Ringwadenfänger unabhängig von deren Länge während der gesamten Fangsaison ab dem Jahr 2013.

3.6.10.1

Befindet sich an Bord der genannten Ringwadenfänger kein regionaler Beobachter, ist ihnen die Fischerei auf Roten Thun untersagt.

3.6.11

Artikel 32, in dem der „Zugang zu Videoaufnahmen“ geregelt wird, wird als Ganzes neu formuliert mit einem neuen Absatz, in dem die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um einen Austausch, eine Bearbeitung oder eine Manipulation der Originalaufzeichnungen zu verhindern.

3.6.12

Ein Artikel 33a mit dem Titel „Übermittlung des EU-Inspektionsplans an die ICCAT“ wird eingefügt, in dem für die Übermittlung der Inspektionspläne für das darauffolgende Jahr durch die Mitgliedstaaten an die Kommission die Frist des 15. September festgelegt wird. Die Kommission leitet den EU-Inspektionsplan zur Genehmigung an das Sekretariat der ICCAT weiter.

3.6.13

Absatz 1 von Artikel 34 in Bezug auf „Marktmaßnahmen“ wird durch einen neuen Wortlaut ersetzt, in dem das Verbot des Binnenhandels mit sowie Anlandungen, Einfuhren und Ausfuhren, des Einsetzens in Netzkäfige zu Mast- oder Aufzuchtzwecken sowie von Wiederausfuhren und Umladungen von Rotem Thun insofern ausgeweitet wird, als es nicht nur dann gilt, wenn keine korrekten, vollständigen und validierten Begleitdokumente gemäß der vorliegenden Verordnung vorliegen, sondern auch wenn die Begleitdokumente gemäß der Verordnung (EU) Nr. 640/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juli 2010 zur Einführung einer Fangdokumentationsregelung für Roten Thun (Thunnus thynnus) fehlen.

3.6.14

Schließlich werden durch den Verordnungsvorschlag im Rahmen des Kapitels V über „Kontrollmaßnahmen“ im Einklang mit den geänderten Maßnahmen mehrere Anhänge ersetzt bzw. abgeändert.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA befürwortet und begrüßt alle geänderten und neu eingeführten technischen Maßnahmen und Kontrollmaßnahmen, da sie seines Erachtens auf gesammelten Erfahrungen beruhen und dazu beitragen werden, die Bestände an Rotem Thun im Ostatlantik und im Mittelmeer wieder aufzubauen mit dem Ziel, bis 2022 eine Biomasse zu erreichen, die mit über 60 %iger Wahrscheinlichkeit dem höchstmöglichen Dauerertrag (MSY) entspricht.

4.2

Darüber hinaus fordert der Ausschuss die Kommission auf, diese Verordnung möglichst strikt auf alle Mitgliedstaaten und Vertragsparteien anzuwenden, die im ICCAT-Konventionsgebiet auf Roten Thun fischen oder diesen dort züchten oder mästen.

4.3

Der EWSA erkennt die Anstrengungen an, die die Europäische Kommission, die Mitgliedstaaten und die Fischer in den letzten Jahren unternommen haben, um ihre Flotten an die vorhandenen Fangmöglichkeiten anzupassen und den anspruchsvollen Wiederauffüllungsplan zu erfüllen, mit allen entsprechenden sich daraus ergebenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen, denen Rechnung getragen werden sollte.

4.4

Der Ausschuss stellt mit Zufriedenheit fest, dass die gebrachten Opfer Früchte tragen und sowohl die betroffenen Wissenschaftler als auch die Fischer beobachten können, dass die Bestände an Rotem Thun wieder zunehmen.

4.5

Der Ausschuss fordert die Mitgliedstaaten und die Kommission auf, auch weiterhin die nationalen wissenschaftlichen Institute zu fördern, damit diese möglichst genaue Schätzungen hinsichtlich der Bestände an Rotem Thun und der Auswirkungen des Wiederauffüllungsplans vornehmen können. In diesem Zusammenhang begrüßt er die Schaffung der wissenschaftlichen Beobachtungsstelle, an der die Verwaltungen, Wissenschaftler und Betreiber von Tonnaren mitwirken, sowie die Privatinitiativen, die von Unternehmen und Wissenschaftlern ergriffen wurden, um eine bessere Kenntnis dieser Art zu fördern.

4.6

Hinsichtlich der für die Ringwadenflotten vorgegebenen Schonzeiten ist der EWSA der Ansicht, dass die von den Wissenschaftlern unterbreiteten Änderungsvorschläge in Bezug auf die gegenwärtigen Schonzeiten sorgfältig untersucht werden sollten, um diese Fangtätigkeit sowohl in wirtschaftlicher und sozialer als auch ökologischer Hinsicht nachhaltiger zu gestalten.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/119


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder sowie über Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“

KOM(2011) 353 endg. — 2011/0156 (COD)

2012/C 24/26

Berichterstatterin: Madi SHARMA

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 5. Juli 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder sowie über Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke

KOM(2011) 353 endg. — 2011/0156 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 6. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 141 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) spricht der Kommission seine Anerkennung für ihre umfassende Überarbeitung des bestehenden Lebensmittelrechts aus, wobei er sich bewusst ist, dass eine klare Abgrenzung zwischen Lebensmitteln, die für die allgemeine Bevölkerung bestimmt sind, und Lebensmitteln für besondere Personengruppen schwierig ist. Diese mangelnde Klarheit erschwert insbesondere den Mitgliedstaaten und der Zivilgesellschaft die Auslegung, Anwendung und Durchsetzung der bestehenden Rechtsvorschriften.

1.2

Die Kommission hat eine ausführliche Folgenabschätzung sowie diesbezügliche Konsultationen durchgeführt, um ihren Zielen der Kohärenz, Vereinfachung und Harmonisierung des Binnenmarkts Rechnung zu tragen. Gegenstand der Folgenabschätzung waren u.a. die Themen Verwaltungsaufwand, Änderung der Zusammensetzung und Kennzeichnung von Lebensmitteln, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit, Preise, Verbraucherschutz und -information, potenzielle Auswirkungen auf die Beschäftigung und kleine Unternehmen sowie soziales Wohlergehen.

1.3

Die derzeitige Definition von „Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke“ sollte unbedingt beibehalten werden, um eine Abgrenzung von Lebensmitteln für den allgemeinen Verzehr zu ermöglichen und um sicherzustellen, dass wesentliche Inhaltsstoffe wie Aminosäuren und Oligopeptide in ihrer Formulierung erfasst werden.

1.4

Darüber hinaus ist der EWSA der Ansicht, dass die Nahrung für Frühgeborene, eine äußerst schützbedürftige Gruppe mit häufig schlechtem Gesundheitszustand, in die Kategorie der diätetisch vollständigen Lebensmittel mit einer Nährstoff-Standardformulierung aufgenommen werden sollte.

1.5

Wie die Kommission feststellt, führt die derzeitige Anwendung der Rahmengesetzgebung aufgrund einer uneinheitlichen Auslegung und Durchsetzung in den Mitgliedstaaten zu Handelsverzerrungen im Binnenmarkt. Mit der vorgeschlagenen neuen Verordnung werden diese Verzerrungen hoffentlich behoben, ohne dass hierdurch negative Folgen für die Beschäftigung oder die KMU in diesem Sektor entstehen, so dass auch die Innovationen weitergeführt werden können.

1.6

Alle für den menschlichen Verzehr bestimmten Produkte werden derzeit mit Unterstützung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) durch die EU-Rechtsvorschriften für die Lebensmittelsicherheit und -kennzeichnung geschützt. Mit dem neuen Vorschlag werden die Harmonisierung der EU-Rechtsvorschriften aus den Bereichen Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz gefördert und Überschneidungen bzw. Uneindeutigkeit beseitigt. Dem Subsidiaritätsprinzip wird Rechnung getragen, indem den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gegeben wird, einzelstaatliche Vorschriften anzuwenden, wenn dies im Sinne des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt ist.

1.7

Der EWSA fordert die Kommission zu einer gründlichen wissenschaftlichen Bewertung von Folgenahrung für Säuglinge im Alter von 12 bis 36 Monaten auf. Die derzeit vorliegenden wissenschaftlichen Schlussfolgerungen weisen Widersprüche auf, die Öffentlichkeit benötigt hingegen klare Leitlinien und Informationen.

1.8

Nach Auffassung des EWSA sollte im neuen Rechtsakt die geltende rechtliche Bestimmung (Artikel 8 Absatz 2 der Richtlinie 2009/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind) beibehalten werden, wonach die Übermittlung von Informationen über Lebensmittel für eine besondere Ernährung und deren richtigen Einsatz an das medizinische Fachpersonal möglich ist, damit Verbraucher und Patienten angemessen unterrichtet und beraten werden können.

1.9

Der EWSA fordert die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass im Bereich der Lebensmittel für Sportler, einem europäischen Einzelhandelszweig mit einem geschätzten Jahresumsatz von 2,357 Mrd. EUR und einer Wachstumsrate von 7 %, keine Wettbewerbsverzerrungen entstehen. Im Rahmen des umfassenderen Kontexts der Lebensmittelsicherheit und -kennzeichnung fordert der EWSA die Kommission ferner auf, in künftigen Rechtsvorschriften die Einführung von Warnhinweisen auf Lebensmitteln zu erwägen, deren Nährwertprofile (insbesondere im Falle von Lebensmitteln für Sportler und von Produkten zur Gewichtsverringerung/Diätprodukten) negative Folgen haben könnten, wenn sie über einen längeren Zeitraum oder in zu großen Mengen eingenommen werden.

1.10

Der EWSA ist sich bewusst, dass aufgrund der derzeitigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Vielfalt in Europa möglicherweise nicht alle Bevölkerungsgruppen mit allen für ein gesundes Leben erforderlichen Nährstoffen versorgt werden. Dies hat zur Entwicklung angereicherter Lebensmittel geführt, für die die Kommission Werbe- und Etikettierungsvorschriften konzipiert hat. Diesbezüglich unterstützt der EWSA voll und ganz die aktuellen Legislativ- und Durchführungsmaßnahmen der EU, mit denen dafür gesorgt werden soll, dass alle Angaben der Hersteller auf Lebensmitteln, die über die geforderten Angaben hinausgehen, klar, präzise und fundiert sind. Diese Angaben dürfen nicht irreführend sein, damit die Endverbraucher fundierte Entscheidungen treffen können und damit das medizinische, ernährungswissenschaftliche und pharmazeutische Fachpersonal über geeignete Informationen über den Nährwert und die richtige Anwendung verfügt.

1.11

Schließlich begrüßt der EWSA die in den Erwägungsgründen des Kommissionsvorschlags enthaltene andauernde Pflicht zur Einführung eines Schnellwarnsystems für Lebens- und Futtermittel (RASFF) im Falle von Lebensmittelkrisen, von denen Verbraucher in ganz Europa betroffen sein könnten.

2.   Hintergrund

2.1

Der freie Verkehr mit sicheren und gesunden Lebensmitteln ist ein wichtiger Aspekt des Binnenmarkts und trägt wesentlich zum Schutz der Gesundheit und des Wohlergehens der Bürger bei. Vor diesem Hintergrund wurden die lebensmittelrechtlichen Vorschriften der EU entwickelt, um zu gewährleisten, dass „Lebensmittel, die nicht sicher sind, nicht in Verkehr gebracht werden“. Diese Anforderung bezieht sich sowohl auf die tatsächlichen Inhaltsstoffe als auch auf die Etikettierungsbestimmungen.

2.2

Die Rahmenrichtlinie über diätetische Lebensmittel (Richtlinie 2009/39/EG) wurde 1977 angenommen, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass „Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind, […] den freien Warenverkehr mit diesen Erzeugnissen [behindern und] ungleiche Wettbewerbsbedingungen hervorrufen [können].“ Die Definition von „Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke“ wurde in dem Vorschlag beibehalten, was eine Abgrenzung von „normalen“ Lebensmitteln und die Erfassung wesentlicher Inhaltsstoffe in ihrer Formulierung ermöglicht. Gemäß der einheitlichen Begriffsbestimmung für diätetische Lebensmittel, die im Rahmen der allgemeinen Bestimmungen und einheitlichen Kennzeichnungsregeln aufgestellt wurde, haben diätetische Lebensmittel folgende drei Hauptmerkmale:

Sie unterscheiden sich aufgrund ihrer besonderen Zusammensetzung oder des besonderen Verfahrens ihrer Herstellung deutlich von den Lebensmitteln des allgemeinen Verzehrs.

Sie sind für bestimmte Bevölkerungsgruppen und nicht für die Allgemeinheit bestimmt.

Sie sollten den besonderen Ernährungserfordernissen der Menschen entsprechen, für die sie bestimmt sind.

2.3

Beispiele für diätetische Lebensmittel sind - im Sinne der Definition der Rahmenrichtlinie über diätetische Lebensmittel - Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder, Lebensmittel für Personen, die unter einer Glutenunverträglichkeit leiden, oder Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, bei denen die Verpackung den Hinweis enthalten muss, „für welche spezifischen Ernährungszwecke sie geeignet sind“. Für einige dieser Produktgruppen (Säuglingsanfangsnahrung, Getreidebeikost und andere Beikost für Säuglinge, Lebensmittel für kalorienarme Ernährung, Lebensmittel für medizinische Zwecke und Lebensmittel für Menschen mit einer Glutenunverträglichkeit) wurden bereits Zusammensetzungsvorschriften und Etikettierungspflichten festgelegt. Für Lebensmittel für Sportler, für Diabetiker und für Menschen, die unter einer Laktoseunverträglichkeit leiden, wurden jedoch keine spezifischen Rechtsvorschriften aufgestellt.

2.4

Die Kommission hat 2007 mit Konsultationen der Mitgliedstaaten zu der Rahmenrichtlinie über diätetische Lebensmittel begonnen. Seitdem wurden weitere Konsultationen unter Beteiligung der Mitgliedstaaten, dienststellenübergreifender Lenkungsgruppen (aus den Generaldirektionen SANCO, AGRI, ENTR, RTD, TRADE sowie dem Generalsekretariat) und Vertretern von Industrie und Verbrauchergruppen durchgeführt sowie ein externer Beratungsbericht erstellt.

2.5

Im Anschluss an diese Konsultationen hat die Kommission den vorliegenden Vorschlag für eine Verordnung über Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder sowie über Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke veröffentlicht, durch den folgende Richtlinien aufgehoben werden sollen:

Richtlinie 2009/39/EG über Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind (Neufassung der Rahmenrichtlinie von 1989);

Richtlinie 92/52/EWG über Säuglingsanfangsnahrung und Folgenahrung zur Ausfuhr in Drittländer;

Richtlinie 96/8/EG über Lebensmittel für kalorienarme Ernährung zur Gewichtsverringerung;

Verordnung (EG) Nr. 41/2009 der Kommission zur Zusammensetzung und Kennzeichnung von Lebensmitteln, die für Menschen mit einer Glutenunverträglichkeit geeignet sind.

2.6

Mit ihrem nun vorgeschlagenen Vorgehen beabsichtigt die Kommission, die nur für eine begrenzte Zahl von Lebensmittelkategorien geltenden rechtlichen Anforderungen zu vereinfachen und klarzustellen sowie eine einheitliche Liste der Stoffe („EU-Liste“) festzulegen, die den von dem Legislativvorschlag betroffenen Lebensmitteln zugesetzt werden dürfen. Insbesondere wird vorgeschlagen,

das Konzept „diätetische Lebensmittel“ abzuschaffen;

einen neuen allgemeinen Rechtsrahmen mit einem klaren und genau festgelegten Geltungsbereich für einige wenige, genau definierte Lebensmittelkategorien abzustecken, die für bestimmte Verbrauchergruppen mit einem besonderen Nährstoffbedarf als unverzichtbar befunden wurden;

bestimmte Maßnahmen für diese unverzichtbaren Lebensmittelkategorien beizubehalten;

allgemeine Vorschriften bezüglich der Zusammensetzung und Etikettierung dieser Lebensmittelkategorien festzulegen;

durch eine Vereinfachung des Regulierungsrahmens die Auslegungsunterschiede und Probleme der Mitgliedstaaten und Marktteilnehmer bei der Anwendung der unterschiedlichen Rechtsakte in diesem Bereich auszuräumen;

die mit dem Notifizierungsverfahren verbundene Belastung abzuschaffen;

sicherzustellen, dass ähnliche Produkte EU-weit gleich behandelt werden;

Vorschriften, die mittlerweile überflüssig, uneinheitlich oder potenziell widersprüchlich sind, aufzuheben;

die Stoffe, die den von dem Legislativvorschlag betroffenen Lebensmitteln zugesetzt werden dürfen, in einem einzigen Rechtsinstrument zusammenzufassen.

2.7

Für Situationen, in denen Lebensmittel, die von diesem Vorschlag betroffen sind, eine ernsthafte Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellen, sind die in Artikel 6 des Kommissionsvorschlags beschriebenen Notfallverfahren vorgesehen.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/122


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für Richtlinie des Rates zur Festlegung von Anforderungen an den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch“

KOM(2011) 385 endg. — 2011/0170 (NLE)

2012/C 24/27

Berichterstatter: Josef ZBOŘIL

Die Europäische Kommission beschloss am 27. Juni 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 31 und 32 des Euratom-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für Richtlinie des Rates zur Festlegung von Anforderungen an den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch

KOM(2011) 385 endg. — 2011/0170 (NLE).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 6. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 105 gegen 2 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Schlussfolgerungen

1.1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt diesen Vorschlag, in dem grundlegende Sicherheitsnormen für den Schutz der Bevölkerung vor den Gefahren durch ionisierende Strahlungen aufgrund von radioaktiven Stoffen in Trinkwasser festgelegt werden.

1.1.2   Der Ausschuss befürwortet die Wahl von Kapitel 3 des Euratom-Vertrags als Rechtsgrundlage für diesen Vorschlag, um die Kohärenz mit den im Euratom-Vertrag festgelegten Anforderungen zur Umweltüberwachung und den grundlegenden Sicherheitsnormen für den Strahlenschutz zu gewährleisten.

1.1.3   In diesem Vorschlag werden Qualitätsnormen und Überwachungsanforderungen unter Normalbedingungen festgelegt. Radiologische Notstandssituationen und die dadurch verursachte Verunreinigung von Trinkwasser aufgrund anthropogener Strahlenquellen sind Gegenstand gesonderter Notfallbestimmungen und -verfahren (1).

1.1.4   Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass sich die Empfehlung 2001/928/Euratom der Kommission vom 20. Dezember 2001 über den Schutz der Öffentlichkeit vor der Exposition gegenüber Radon im Trinkwasser (2) mit der Strahlenbelastung von Trinkwasser durch Radon und langlebige Radon-Zerfallsprodukte befasst.

1.2   Empfehlungen

1.2.1   Der Ausschuss stimmt mit der Kommission überein, dass Radon und langlebige Radon-Zerfallsprodukte unbeschadet der bestehenden Empfehlung 2001/928/Euratom in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie aufgenommen werden sollten.

1.2.2   Der Ausschuss empfiehlt jedoch, die langlebigen Radionuklide Polonium (Po-210) und Blei (Pb-210) bei der Festlegung der „Gesamtrichtdosis“ (GRD) zu berücksichtigen.

1.2.3   Der Ausschuss stellt fest, dass die chemische Toxizität von Uran in Anhang III „Leistungsmerkmale und Analysemethoden“ (S. 3) des Richtlinienvorschlags berücksichtigt wird. Der Ausschuss empfiehlt außerdem, eine Bestimmung über toxikologische Untersuchungen von Grundwasser, das zur Verwendung als Trinkwasser bestimmt ist, in belasteten Gebieten mit größeren Uranvorkommen in den geologischen Schichten in die Richtlinie 98/83/EG des Rates über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch aufzunehmen.

1.2.4   Der Ausschuss stellt fest, dass die in Anhang I der vorgeschlagenen Richtlinie beschriebenen Parameterwerte für Tritium hundert Mal niedriger liegen als jene in den WHO-Leitlinien zur Trinkwasserqualität (Genf, 3. Auflage, 2008). Ein viel zu niedriger Parameterwert für Tritium zieht heute zwar keine ungerechtfertigten Beschränkungen nach sich und kann als Indikator für andere Probleme durchaus nützlich sein, muss jedoch mit Blick auf künftige Technologien überdacht werden.

1.2.5   Der Ausschuss begrüßt die fundierte Arbeit aller Beteiligten, die diesem Vorschlag zugrunde liegt, und empfiehlt seine schnellstmögliche Annahme.

2.   Hintergrund

2.1   Wasser gehört zu den Bereichen, die im EU-Umweltrecht am umfassendsten reglementiert sind. Nur ein äußerst geringer Anteil der Trinkwassersysteme befindet sich in Gegenden, in denen potenzielle Quellen anthropogener radioaktiver Kontamination durch Anlagen, die radioaktive Stoffe verwenden, herstellen oder entsorgen, vorhanden sind.

2.2   Für Wassersysteme, die für diese Art der Verseuchung anfällig sind, ist eine umfassende Überwachung vorgeschrieben, damit sichergestellt ist, dass ihr Trinkwasser unbedenklich ist. Allerdings gibt es viele Regionen in Europa, in denen das natürliche Vorkommen radioaktiver Stoffe bedenklich ist.

2.3   Auf EU-Ebene wurden die technischen Anforderungen an den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Trinkwasser bereits vor mehr als 5 Jahren festgelegt. Dazu hat ein Konsultationsprozess mit der in Artikel 31 des Euratom-Vertrags vorgesehenen Sachverständigengruppe, dem gemäß der Trinkwasserrichtlinie eingesetzten Ausschuss und dem auf der Grundlage der Artikel 35 und 36 des Euratom-Vertrags eingesetzten Ausschuss von Vertretern der Mitgliedstaaten stattgefunden. Bislang sind die Anforderungen an die Überwachung von Tritium und die Gesamtrichtdosis gemäß der Richtlinie 98/83/EG des Rates über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch jedoch nicht umgesetzt worden, da die Annahme der Änderungen der Anhänge II (Überwachung) und III (Spezifikationen für die Analyse der Parameter) noch aussteht.

2.4   Es ist gerechtfertigt, die Anforderungen an die Überwachung von Radioaktivitätswerten in einen gesonderten, nach dem Euratom-Vertrag erlassenen Rechtsakt aufzunehmen, um die Einheitlichkeit, Kohärenz und Vollständigkeit der Rechtsvorschriften zum Strahlenschutz auf Gemeinschaftsebene zu wahren.

2.5   Daher hat die Europäische Kommission auf der Grundlage von Artikel 31 des Euratom-Vertrags einen Vorschlag vorgelegt, mit dem Anforderungen an den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch festgelegt werden.

2.6   Nach Annahme ersetzen die Bestimmungen dieser Richtlinie nach dem Euratom-Vertrag diejenigen der Richtlinie 98/83/EG in Bezug auf radioaktive Stoffe im Trinkwasser.

2.7   Der Richtlinienvorschlag beruht auf folgenden Grundsätzen:

2.7.1

Rechtsgrundlage: Die Bestimmungen dieser Richtlinie stehen in Zusammenhang mit den Grundnormen für den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung. Daher wird als Rechtsgrundlage der Euratom-Vertrag, insbesondere die Artikel 31 und 32, gewählt.

2.7.2

Subsidiaritätsprinzip: Da die Legislativbefugnisse der Gemeinschaft nach Titel II Kapitel III des Euratom-Vertrags ausschließlich sind, unterliegt der Vorschlag nicht dem Subsidiaritätsprinzip.

2.7.3

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Der Vorschlag entspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da damit harmonisierte Mindeststandards für die Überwachung von Tritium und der Gesamtrichtdosis festgelegt und die Anforderungen der Richtlinie 98/83/EG hinsichtlich Radioaktivität dem jüngsten wissenschaftlichen und technischen Fortschritt angepasst werden.

2.7.4

Wahl der Instrumente

Die Gemeinschaft ist für die Festlegung einheitlicher Strahlenschutzvorschriften zuständig; die Mitgliedstaaten müssen diese dann in innerstaatliches Recht umsetzen und sie anwenden.

Eine Richtlinie ist daher am besten geeignet, ein gemeinsames Konzept für die Festlegung harmonisierter Anforderungen an Radioaktivitätsparameter und für die Überwachung der Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch auf den Weg zu bringen.

3.   Bemerkungen

3.1   Der Ausschuss begrüßt diesen zielorientierten und kohärenten Vorschlag, in dem grundlegende Sicherheitsnormen für den Schutz der Bevölkerung vor den Gefahren durch ionisierende Strahlungen aufgrund von radioaktiven Stoffen in Trinkwasser klar und deutlich festgelegt werden. So bietet er Sicherheit in Bezug auf die Strahlenbelastung von Wasser, das über die Verteilungsnetze geliefert wird.

3.2   Der Ausschuss befürwortet die Wahl von Kapitel 3 des Euratom-Vertrags als Rechtsgrundlage für den Vorschlag, um die Kohärenz mit den im Euratom-Vertrag festgelegten Anforderungen zur Umweltüberwachung und den grundlegenden Sicherheitsnormen für den Strahlenschutz zu gewährleisten.

3.3   Der Vorschlag ist das Ergebnis ausführlicher Beratungen mit Strahlenschutz-Sachverständigen. Es werden Qualitätsnormen und Überwachungsanforderungen unter Normalbedingungen festgelegt. Radiologische Notstandssituationen aufgrund anthropogener Strahlenquellen, die die Verunreinigung von Trinkwasser zur Folge haben („flüssige Nahrungsmittel“), sind Gegenstand gesonderter Notfallbestimmungen und -verfahren (3).

3.4   Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass sich die Empfehlung 2001/928/Euratom der Kommission vom 20. Dezember 2001 über den Schutz der Öffentlichkeit vor der Exposition gegenüber Radon im Trinkwasser mit der Strahlenbelastung von Trinkwasser durch Radon und langlebige Radon-Zerfallsprodukte befasst.

3.5   Der Ausschuss hält fest, dass die Strahlenexposition durch Radon im Trinkwasser weniger auf den Verzehr von Trinkwasser als vielmehr darauf zurückzuführen ist, dass Radon aus dem Leitungswasser in die Innenraumluft ausgast und dann über die Atemwege aufgenommen wird.

3.6   Gleichzeitig betont der Ausschuss, dass die langlebigen Radionuklide Polonium (Po-210) und Blei (Pb-210) bei der Festlegung der „Gesamtrichtdosis“ (GRD) berücksichtigt werden sollten.

3.7   Der Ausschuss stellt fest, dass die chemische Toxizität von Uran in Anhang III „Leistungsmerkmale und Analysemethoden“ (S. 3) des Richtlinienvorschlags berücksichtigt wird. In belasteten Gebieten mit größeren Uranvorkommen in den geologischen Schichten sollte eine toxikologische Untersuchung des Grundwassers, das zur Verwendung als Trinkwasser bestimmt ist, vorgenommen werden. Eine diesbezügliche Bestimmung sollte in die Richtlinie 98/83/EG des Rates über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch aufgenommen werden, wobei der vorläufige Richtwert für den Urangehalt von 30 μg/l zu berücksichtigen wäre, der in den WHO-Leitlinien zur Trinkwasserqualität (4) festgelegt ist.

3.8   Der Ausschuss stellt fest, dass die in Anhang I der vorgeschlagenen Richtlinie beschriebenen Parameterwerte für Tritium hundert Mal niedriger liegen als jene in den WHO-Leitlinien zur Trinkwasserqualität (Genf, 3. Auflage, 2008). Ein viel zu niedriger Parameterwert für Tritium zieht heute zwar keine ungerechtfertigten Beschränkungen nach sich und kann als Indikator für andere Probleme durchaus nützlich sein, muss jedoch mit Blick auf künftige Technologien überdacht werden.

3.9   In Bezug auf Anhang II „Überwachung radioaktiver Stoffe“ des Richtlinienvorschlags, Anmerkung 2, hält der Ausschuss fest, dass die Kommission bei der Festlegung der Häufigkeit der Kontrollen zur Überwachung von Wasser für den menschlichen Gebrauch, das aus einem Verteilungsnetz bereitgestellt wird, die Möglichkeit vorsieht, dass die Mitgliedstaaten anstelle der Menge des abgegebenen oder produzierten Wassers […] „die Einwohnerzahl eines Versorgungsgebiets heranziehen“, dabei aber nicht den Fall berücksichtigt, dass Wasser aus dem Verteilungsnetz für den Vertrieb in Flaschen abgefüllt wird.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Verordnung (Euratom) Nr. 3954/87 des Rates.

(2)  Empfehlung der Kommission vom 20. Dezember 2001 über den Schutz der Öffentlichkeit vor der Exposition gegenüber Radon im Trinkwasser (2001/928/Euratom).

(3)  Verordnung (Euratom) Nr. 3954/87 des Rates.

(4)  Siehe „WHO Guidelines for drinking-water quality“, 4. Ausgabe, 2011, Kapitel 12: „Chemical fact sheets“.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/125


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Funktionsweise und Anwendung der geltenden Fluggastrechte“

2012/C 24/28

Berichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Das Europäische Parlament beschloss am 1. Juni 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Funktionsweise und Anwendung der geltenden Fluggastrechte“ (Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 7. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 27. Oktober) mit 157 Stimmen gegen 1 Stimme bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält es für notwendig, eine Rechtsreform der Verordnung Nr. 261/2004 in Angriff zu nehmen, um alle Fluggastrechte in einem einzigen Text zu bündeln. Bei dieser Reform sollte erstens die gesamte einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU integriert und zweitens versucht werden, den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ zu definieren, einzugrenzen und zu erfassen, die Tragweite des Rechts auf Unterstützung festzulegen und alle anderen in dieser Stellungnahme erwähnten Aspekte zu regeln, um ein hohes Schutzniveau für Fluggäste zu gewährleisten.

1.2   Fluggäste müssen besser informiert und deutlicher über ihre Rechte aufklärt werden, und zwar auch im Abflugbereich; in jedem Falle sollten die Anstrengungen verstärkt werden, um die Fluggastrechte bei anderen Akteuren der organisierten Zivilgesellschaft, wie z.B. Verbraucherverbänden, bekannt zu machen.

1.3   Die Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber Fluggästen gemäß Artikel 13 der Verordnung Nr. 261/2004 obliegt einzig und allein den Luftfahrtunternehmen. Dies bedeutet, dass sie gegebenenfalls Ausgleichsleistungen von am Reisevertrag nicht beteiligten Dritten verlangen können, die eine Verspätung oder Annullierung verursacht haben. Für solche Entschädigungsverfahren sollten schnelle und wirksame Mechanismen geschaffen werden.

1.4   Der EWSA hält es für notwendig, zur Verbesserung der Transparenz wirksame Instrumente zum Austausch von Informationen über u.a. administrative oder gerichtliche Entscheidungen einzusetzen und verhängte Strafen und den Grad der Einhaltung der Verordnung Nr. 261/2004 durch die Unternehmen zu veröffentlichen. Darüber hinaus müssen harmonisierte, zugängliche und wirksame Verfahren festgelegt werden, für die bestimmte Fristen gelten und die verbindliche Beschlüsse zur Folge haben.

1.5   Bezüglich der Rechte von Personen mit eingeschränkter Mobilität erweist sich die zufriedenstellende Durchführung der Verordnung Nr. 1107/2006 als problematisch. Der EWSA fordert die Kommission auf, gemeinsam mit den Durchsetzungsbehörden wie auch mit den repräsentativen Betroffenenorganisationen, einschließlich Vertretungsorganisationen von Personen mit eingeschränkter Mobilität, Leitlinien zur Klärung der Definitionen in dieser Verordnung aufzustellen und ihre Durchführung zu verbessern. Für den Fall, dass diese Leitlinien nicht zur Lösung der Probleme im Zusammenhang mit der unzureichenden Sicherstellung der Rechte der Personen mit eingeschränkter Mobilität führen, fordert der EWSA eine unverzügliche Überarbeitung der Verordnung Nr. 1107/2006.

1.6   Der EWSA ist der Auffassung, dass im Rahmen der Überarbeitung der Verordnung Nr. 261/2004 die Elemente, die in den Endpreis für Flugverkehrsdienste einfließen, im Einzelnen aufgeführt und definiert werden sollten.

2.   Einleitung

2.1   Die Rechtsvorschriften im Luftverkehr sind komplex und breit gestreut. Dieser Umstand wirkt sich besonders negativ aus, wenn es um die Verpflichtungen von Luftfahrtunternehmen gegenüber Fluggästen geht.

2.2   Die Zunahme des Flugverkehrs hat sich mittlerweile negativ auf seine Qualität ausgewirkt. Diese Verschlechterung hat zahlreiche Gründe, die in der Mitteilung KOM(2011) 174 endg. dargelegt werden.

2.3   Darüber hinaus ist der Passagierverkehr eines der wichtigsten Instrumente für die Umsetzung der Grundsätze der Europäischen Union: freier Warenverkehr und Freizügigkeit der Unionsbürger.

2.4   Seit der Vorlage ihrer Mitteilung prüft die Kommission die Auswirkungen der Verordnung Nr. 261/2004 zwecks Verbesserung des Schutzes der Rechte von Fluggästen und Anpassung an wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen.

Der EWSA ist sich der Tatsache bewusst, dass die Verwirklichung des sog. Einheitlichen Europäischen Luftraums II eine Vielzahl von Fragen aufwirft, mit denen er sich in einer anderen Stellungnahme (1) auseinandergesetzt hat.

3.   Befassung des EWSA durch das Europäische Parlament

3.1   In einem Schreiben des Vorsitzenden des EP-Ausschusses für Verkehr und Fremdenverkehr an den EWSA-Präsidenten ersuchte das EP den Ausschuss, in einer Stellungnahme zu untersuchen, ob die Anwendung der geltenden europäischen Rechtsvorschriften einen angemessenen Schutz der Fluggastrechte gewährleistet oder nicht, sowie die Bereiche zu ermitteln, in denen neue Maßnahmen erforderlich sind; in dem Schreiben werden dazu konkrete Fragen formuliert.

3.2   1. Frage: Wo liegen die wichtigsten Mängel bei der Anwendung der geltenden Vorschriften? Welche Maßnahmen können empfohlen werden, um diese Probleme anzugehen? Ist dazu insbesondere eine Legislativinitiative erforderlich?

3.2.1   Der Luftverkehrssektor ist stark liberalisiert und wettbewerbsorientiert. Deshalb ist ein Regelungsrahmen auf EU-Ebene erforderlich, der eine ausgewogene Entwicklung des Binnenmarkts gewährleisten und so die Wettbewerbsfähigkeit der Luftfahrtunternehmen garantieren, den sozialen Zusammenhalt und die Nachhaltigkeit fördern, die Transparenz der Geschäftspraktiken der Luftfahrtunternehmen überwachen und schließlich ein hohes Niveau der Benutzerrechte erreichen kann.

3.2.2   Die wichtigsten Bezugspunkte der Verbraucherschutzpolitik sind das Recht auf Schutz der Gesundheit, der Sicherheit und der Wirtschaftsinteressen sowie das Recht auf Schadenersatz, Information, Bildung und Vertretung. Für jede künftige Änderung oder Überarbeitung der Verordnung Nr. 261/2004 müssen diese berücksichtigt werden, um ein hohes Schutzniveau für die Fluggastrechte zu gewährleisten.

3.2.3   Im Bewusstsein der Besonderheiten dieser Branche hat der Gesetzgeber festgelegt, dass ein Luftfahrtunternehmen das Recht hat, Schadenersatz zu fordern, wenn der Schaden durch einen Dritten versucht wurde und das Luftfahrtunternehmen als für die Dienstleistungserbringung Verantwortlicher für Schäden, die den Fluggästen entstanden sind, aufkommen muss. Diese Möglichkeit haben die Luftfahrtunternehmen in den Fällen, in denen Dritte ermittelt werden können - z.B. Flughafenbehörden, Flugsicherungsbehörden, Bodenverkehrsdienstleister, Reiseagenturen und Reiseveranstalter - bisher noch nicht genutzt.

3.2.4   Davon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen natürlich bedingte „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen, so wie weiter unten dargelegt.

3.2.4.1   In einigen Fällen kann die Haftung nicht geklärt werden. In den letzten Jahren gab es eine Reihe von Ereignissen, die als außergewöhnliche Umstände eingestuft wurden: Vulkanausbrüche auf Island, schwere Schneefälle zu Beginn der Jahre 2010 und 2011 usw. Sie führten zu zahlreichen Komplikationen bei den Luftfahrtunternehmen der EU, verursachten hohe wirtschaftliche Kosten und entsprechende Beeinträchtigungen der Fluggäste.

3.2.4.2   Die Definition, Eingrenzung und Erfassung von „außergewöhnlichen Umständen“ ist einer der strittigen Punkte bei der Auslegung der Verordnung, denn daraus ergeben sich Verpflichtungen der Luftfahrtunternehmen, z.B. hinsichtlich des Rechts auf Unterstützung.

3.2.4.3   Der Gerichtshof der Europäischen Union hat festgestellt, dass die vom EU-Gesetzgeber aufgestellte Liste außergewöhnlicher Umstände lediglich „indikativ“ ist. Diese Unklarheit führt zu Verwirrung und insbesondere zu Rechtsunsicherheit sowohl bei den Luftfahrtunternehmen als auch bei den Fluggästen.

3.2.4.4   Zum einen muss geklärt werden, was „außergewöhnliche Umstände“ bedeutet; zum anderen muss bestimmt werden, wie weit die Verpflichtungen der Luftfahrtunternehmen gehen. Diese Situation sollte bei der nächsten Änderung der Verordnung geregelt werden.

3.2.4.5   Eine andere Möglichkeit wäre die Aufstellung einer offenen Liste, in der Fälle von außergewöhnlichen Umständen detailliert dargestellt werden, sofern die betreffenden Probleme durch Ereignisse verursacht werden, die wegen ihrer Art oder ihres Ursprungs nicht Teil des normalen Betriebs des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und nicht seiner Kontrolle unterliegen.

3.2.5   Die Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof in den letzten Monaten lassen erkennen, dass die Rechtsvorschriften nun aktualisiert werden müssen.

3.2.5.1   Darüber hinaus hat der Gerichtshof in seinen Urteilen einige relevante Aspekte geklärt (die damit außer Frage stehen dürften), um das Vertrauen der Nutzer in den Luftverkehrssektor zu stärken und die Rechtssicherheit der Luftfahrtunternehmen zu erhöhen. Außerdem gibt es Urteile nationaler Gerichte, die klärenden Charakter haben, z.B. die Entscheidung des Handelsgerichts von Namur, das jüngst bestimmte allgemeine Geschäftsbedingungen in Reiseverträgen als missbräuchliche Klauseln einstufte.

3.2.6   Gründe für die Überarbeitung der Verordnung Nr. 261/2004

3.2.6.1   In der Kommissionsmitteilung KOM(2011) 174 endg. wird die Anwendung dieser Verordnung, eines Meilensteins des Schutzes von Fluggästen, umfassend und eingehend analysiert.

3.2.6.2   Die branchenspezifischen Entwicklungen der letzten Jahre machen eine Überarbeitung der Verordnung erforderlich. U.a. sollten im Rahmen einer künftigen Überarbeitung des geltenden Texts folgende Verbesserungen vorgenommen werden:

Aufnahme der in den Urteilen des Gerichtshofs enthaltenen Lösungen in den künftigen Text;

Definition, Eingrenzung und Erfassung des Begriffs „außergewöhnliche Umstände“;

für bestimmte Ausnahmefälle: Bestimmung der Reichweite bzw. der Grenzen des Rechts auf Unterstützung, Festlegung alternativer Verfahren zur Gewährleistung der legitimen Rechte von Fluggästen, indem innerhalb einer angemessenen Frist für alle Beteiligten bindende Entscheidungen getroffen werden;

Regelung der Situationen, die gegenwärtig im Zusammenhang mit Flugplanänderungen entstehen;

Regelung der Probleme im Zusammenhang mit Anschlussflügen, die aufgrund einer Verspätung beim ersten Teilflug, für den ein Direktfluganbieter verantwortlich ist, verpasst wurden;

Regelung der Verpflichtung zur Unterstützung an den Anschlussflughäfen;

Behandlung des Rechts auf Entschädigung, einschließlich Bestimmungen über die regelmäßige Aktualisierung der geltenden standardisierten und unmittelbaren Entschädigungsmaßnahmen, die von 2004 datieren;

Einbeziehung der Bodenverkehrsdienstleister, die im Namen von Luftfahrtunternehmen die in der Verordnung vorgesehenen Dienstleistungen erbringen;

Angabe der Behörde, die für die Bearbeitung von Fluggastbeschwerden und die Überwachung der Einhaltung der Verordnung zuständig ist;

auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten: Beobachtung und Veröffentlichung von Beschwerden über die Nichteinhaltung der Verordnung, untergliedert nach Luftfahrtunternehmen und nach Art des Verstoßes, und Einführung der Möglichkeit, dass Luftfahrtunternehmen, denen ein Luftverkehrsbetreiberzeugnis (AOC) gewährt wird, diesbezüglich in jedem Staat überprüft werden können;

Verbesserung der Kohärenz im Wortlaut der Absätze 1 und 2 von Artikel 14 der Verordnung;

Festlegung der Verpflichtung zur Entschädigung betroffener Fluggäste, falls eine Fluggesellschaft Konkurs anmeldet, gemäß dem Grundsatz der „gesamtschuldnerischen Haftung“ für die Repatriierung durch andere Luftfahrtunternehmen, die noch über freie Plätze verfügen, und Einrichtung eines Fonds zur Entschädigung von Fluggästen gemäß dem Grundsatz „wer am Markt teilnimmt, zahlt“;

Möglichkeit, den Reisevertrag an einen Dritten abzutreten;

Verbot der derzeitigen Praxis von Luftfahrtunternehmen, den Rückflug zu annullieren, wenn der Fluggast den in dem gleichen Flugschein eingetragenen Hinflug nicht angetreten hat.

3.3   2. Frage: Sind die für die Fluggäste bereitgestellten Informationen und Dienste ausreichend und angemessen? Wenn nicht: wie sollten diese verbessert werden?

3.3.1   Der EWSA ist der Auffassung, dass Informationen sowohl für die Entscheidungsfindung als auch bei der Einforderung der in einschlägigen Regelungen festgeschriebenen Rechte von Fluggästen von wesentlicher Bedeutung sind. Der Verordnung zufolge sind die Luftfahrtunternehmen für die Informationen verantwortlich.

3.3.2   Zwar ist das Recht auf Information offenbar gewährleistet, doch erfüllen die Luftfahrtunternehmen nicht immer die vorgesehenen Verpflichtungen.

3.3.3   Der geltende Text umfasst nicht die Verpflichtung der Luftfahrtunternehmen zur Unterrichtung der Fluggäste im Falle einer Ankunft am Endziel mit drei oder mehr Stunden Verspätung entsprechend dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union im Fall Sturgeon.

3.3.4   Unabhängig von der Behebung der Inkohärenzen und der Einführung von Neuerungen sollten in der Verordnung auch die Verpflichtungen gemäß Artikel 14 nicht nur für den Abfertigungs-, sondern auch den Abflugbereich gelten.

3.3.5   Die Anstrengungen der Kommission zur Bekanntmachung der Fluggastrechte könnten ausgeweitet und gemeinsam mit anderen Akteuren der Kette unternommen werden, und zwar durch die Zusammenarbeit mit nationalen Flughafenbehörden, Verbraucherverbänden, Reiseagenturen und -veranstaltern, europäischen Verbraucherzentralen und für die Überwachung der Einhaltung der Verordnung zuständigen Stellen.

3.4   3. Frage: Es wäre sinnvoll, die Verhältnismäßigkeit einiger der derzeitigen Auflagen für die Branche zu bewerten, beispielsweise die unbeschränkte Verantwortlichkeit hinsichtlich des Betreuungsanspruchs im Fall außergewöhnlicher Umstände, die außerhalb der Kontrolle des Luftfahrtunternehmens liegen, wie etwa Naturkatastrophen oder extreme Wetterereignisse.

3.4.1   Die Verordnung sieht keine Rolle für andere Akteure vor, sondern einzig und allein für die Luftfahrtunternehmen, da diese letztlich für die Dienstleistungserbringung verantwortlich und vertraglich gebunden sind. Es gibt jedoch andere Akteure, die für die Luftfahrtunternehmen von Relevanz sind: Einige von ihnen könnten zur Verbesserung der Dienstleistungen und andere zur Bekanntmachung der Fluggastrechte beitragen.

3.4.2   Zur ersten Gruppe gehören die Flughafenbetreiber, die Flugbetriebsinformationen weitergeben: Sie können beraten oder in Abwesenheit von Vertretern der Luftfahrtunternehmen Beschwerden entgegennehmen und über ihre Einrichtungen in Situationen höherer Gewalt oder außergewöhnlicher Umstände Unterstützung anbieten; sie haben Verantwortung im Bereich der Gepäcklogistik; sie können in Krisensituationen selbst für Informationen sorgen, um größere Menschenansammlungen oder Störungen der öffentlichen Ordnung in ihren Anlagen zu verhindern usw.

3.4.3   Eine herausragende Rolle spielen auch die Flugsicherungsbehörden. Ihre Tätigkeit ist u.a. wichtig für die Einhaltung der den Luftfahrtunternehmen zugewiesenen Zeitnischen und das Verkehrsmanagement.

3.4.4   Zur zweiten Gruppe gehören die Reiseagenturen und Reiseveranstalter, die zur Bekanntmachung der Fluggastrechte beitragen könnten, denn sie betreuen die Reisenden und geben die Mitteilungen, die die Luftfahrtunternehmen im Falle von Annullierungen oder Flugplanänderungen in Umlauf bringen, weiter.

3.4.5   Besonders erwähnenswert ist die Rolle, die die Bodenverkehrsdienstleister im Bereich des Fluggastschutzes spielen könnten. In der Verordnung wird diesen Unternehmen keine Rolle zugewiesen; doch wäre es angezeigt, sie durch eine entsprechende Bestimmung in die Fluggastbetreuung einzubeziehen. Ihrer Rolle könnte durch die derzeit geltende Verordnung oder die Überarbeitung der Richtlinie Nr. 96/67/EG über den Zugang zum Markt der Bodenverkehrsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft Rechnung getragen werden.

3.4.5.1   Bodenverkehrsdienstleister, die de facto Unterstützungsleistungen für die Fluggäste erbringen, sollten zu eben dieser Dienstleistung verpflichtet werden. Darüber hinaus könnte die Anwendung der Verordnung verbessert werden, indem die Luftfahrtunternehmen verpflichtet würden, über ihren Vertreter vor Ort Pläne und Maßnahmen für den Fall von Flugstörungen bereitzuhalten, um die Unterstützung und die Weiterbeförderung mit alternativen Verkehrsmitteln zu gewährleisten. Dazu wäre es erforderlich, sie rechtlich und finanziell so auszustatten, dass sie diese Dienstleistung erbringen können, und sie zum „Sprachrohr“ des Luftfahrtunternehmens gegenüber dem Flughafenbetreiber und den nationalen Behörden zu machen.

3.4.5.2   Diese Maßnahme würde nur für die Flughäfen gelten, die jährlich mehr als zwei Mio. Passagiere abfertigen. Jedes Luftfahrtunternehmen sollte über einen Vertreter verfügen oder sich rechtlich durch seinen Bodenverkehrsdienstleister vertreten lassen. Dieser Vertreter sollte dazu befugt sein, im Namen der Fluggesellschaft finanzielle und rechtliche Verpflichtungen einzugehen, wenn dies für die ordnungsgemäße Anwendung von Artikel 8 und 9 der Verordnung notwendig ist.

3.4.5.3   Die Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber Fluggästen gemäß Artikel 13 der Verordnung 261/2004 obliegt einzig und allein den Luftfahrtunternehmen. Dies bedeutet, dass sie gegebenenfalls eine Entschädigung von am Reisevertrag nicht beteiligten Dritten verlangen können, die eine Verspätung oder Annullierung verursacht haben. Die Entschädigung kann folglich teilweise oder ganz die aus den Verpflichtungen resultierende finanzielle Belastung dieser Luftfahrtunternehmen ausgleichen.

3.4.5.4   Es sollte eine actio in rem verso erwogen werden, mit der ein europäisches Verfahren zur Vereinfachung und Beschleunigung grenzüberschreitender Verfahren im Zusammenhang mit Erstattungsansprüchen und zur Verringerung der Verfahrenskosten festgelegt wird. Eine andere Lösung wäre die Berücksichtigung dieser Art von Forderungen im Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1896/2006 (2) zur Einführung eines europäischen Mahnverfahrens.

3.5   4. Frage: Wie kann in Bezug auf die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Durchsetzungsbehörden eine einheitlichere Auslegung und Anwendung der Fluggastrechte in der gesamten EU sichergestellt werden? Sollten die Urteile des Gerichtshofs der EU zur Verordnung (EG) Nr. 261/2004 in die EU-Gesetzgebung aufgenommen werden?

3.5.1   In der Kommissionsmitteilung wird ausführlich auf die Notwendigkeit eingegangen, die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden zu verbessern, um eine einheitliche Auslegung und Anwendung der Verordnung sicherzustellen.

3.5.2   Die Kommission spielt eine wesentliche Rolle als richtungsweisende und treibende Kraft. Der Gesetzgeber hat als Rechtsinstrument eine Verordnung gewählt, die in allen EU-Mitgliedstaaten durch jedwede Behörde oder Privatperson unmittelbar anwendbar ist, ohne dass für ihre volle Wirksamkeit eine Umsetzung in nationales Recht erforderlich wäre. Ebenso können Privatpersonen rechtlichen Schutz bei den Gerichten der Mitgliedstaaten oder der EU einfordern.

3.5.3   Zur Verbesserung des Verbraucher- und Nutzerschutzes im Luftverkehr sind nicht alle bestehenden Instrumente zum Einsatz gekommen, z.B. die Verordnung Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden.

3.5.4   Die Verordnung Nr. 2006/2004 könnte für jene Aspekte äußerst nützlich sein, die außerhalb des strikten Geltungsbereichs der Verordnung Nr. 261/2004 liegen, insbesondere Fragen im Zusammenhang mit der Mitteilung unlauterer Geschäftspraktiken oder der Nichterfüllung der Vertragsbedingungen durch die Luftfahrtunternehmen.

3.5.5   Aufgrund der Fragmentierung der für die Fluggastrechte zuständigen Verbraucherschutzeinrichtungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten ist die Anwendung der genannten Instrumente jedoch problematisch.

3.5.6   Außer Zweifel dürfte die letztgenannte Frage stehen, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs in die Verordnung Nr. 261/2004 aufgenommen werden sollte, da ja der Gerichtshof die Achtung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge und des Sekundärrechts garantiert. Das Übermaß an Vorabentscheidungen, zu dem die Verordnung Nr. 261/2004 geführt hat, beweist, dass diese in bestimmtem Punkten nicht genau genug ist.

3.6   5. Frage: Gibt es Schwierigkeiten bei der Auslegung bestimmter Definitionen (z.B. des Begriffs „Personen mit eingeschränkter Mobilität“) oder im Zusammenhang mit dem Recht eines Luftfahrtunternehmens, die Beförderung von Personen mit eingeschränkter Mobilität aus Sicherheitsgründen abzulehnen? Müssen die Vorschriften darüber, wer für die Bereitstellung von Diensten für Flugreisende mit eingeschränkter Mobilität verantwortlich ist – Flughafen, Fluggesellschaft oder Bodenverkehrsdienstleister –, überarbeitet werden?

3.6.1   Die Verordnung Nr. 1107/2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität ist ein Referenzpunkt für die soziale Integration, da sie zum Ziel hat, das Recht von Personen mit Behinderung oder eingeschränkter Mobilität sicherzustellen, in gleicher Weise wie andere Bürger mit dem Flugzeug zu reisen. Die Verordnung wird jedoch von den Flughafenbetreibern und Luftfahrtunternehmen nicht ordnungsgemäß umgesetzt, was die Hilfe betrifft, die sie den Betroffenen von der Ankunft am Flughafen bis zum Verlassen des Flughafens gewähren sollten. Dies ist eventuell darauf zurückzuführen, dass in Anhang II keine vollständige Beschreibung derjenigen Leistungen enthalten ist, die für Personen mit Behinderung oder eingeschränkter Mobilität erbracht werden sollten. Zudem untergräbt die fehlende Durchsetzung strikter Qualitätsstandards in diesem Bereich den Grundsatz der Gleichbehandlung.

3.6.2   Gleichwohl fehlt darin eine ausreichend klare Definition der Begriffe „behinderte Flugreisende“ und „Flugreisende mit eingeschränkter Mobilität“, obwohl es um umfassende Hilfeleistungen für die betroffenen Personen geht, die besondere Unterstützung benötigen.

3.6.3   Da es sich als schwierig erweisen könnte, eine rechtskräftige Definition von Personen mit einer Behinderung oder mit eingeschränkter Mobilität festzulegen, sollte die Kommission in Zusammenarbeit mit den für die Einhaltung dieser Verordnung zuständigen Stellen sowie Betroffenenorganisationen, einschließlich Vertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen, Auslegungshilfen oder Leitlinien erarbeiten. Es sollten europäische Standards festgelegt werden, um die Klarheit und Vollständigkeit der Sicherheitskontrollen bei Fluggästen zu gewährleisten, die Mobilitätshilfen oder medizinische Geräte nutzen, und die Wahrung ihrer persönlichen Würde sicherzustellen.

3.6.3.1   In diesen Leitlinien sollten Aspekte wie Dienstqualität und Information der Bodenverkehrsdienstleister behandelt und eine Abstimmung zwischen der Verordnung Nr. 261/2004 und der Verordnung Nr. 1107/2005 angestrebt werden. Für den Fall, dass diese Leitlinien nicht zu einer wirksamen Anwendung der Rechte der Personen mit eingeschränkter Mobilität führen, befürwortet der EWSA eine unverzügliche Überarbeitung der Verordnung Nr. 1107/2006.

3.6.4   Der Verordnung zufolge darf die Beförderung eines Fluggastes nicht aufgrund seiner Behinderung oder eingeschränkten Mobilität abgelehnt werden; in Artikel 4 ist jedoch eine Ausnahme von diesem Grundsatz vorgesehen, um Sicherheitserfordernissen und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass wegen der Größe des Luftfahrzeugs oder seiner Türen die Anbordnahme oder die Beförderung einer Person mit Behinderung oder eingeschränkter Mobilität physisch unmöglich sind.

3.6.5   Diese Angelegenheit ist weder objektiver noch neutraler Natur, da es die Luftfahrtunternehmen sind, die auf der Grundlage eigener Risikoanalysen Sicherheitsvorschriften für den Flugbetrieb vorschlagen, die üblicherweise von der zuständigen Luftfahrtbehörde gebilligt werden. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung wird somit einseitig ausgelegt. Die Luftfahrtunternehmen müssen verpflichtet werden, die Ablehnung der Beförderung eines Fluggastes mit Behinderung oder eingeschränkter Mobilität konkret zu begründen. Diese Begründung sollte von der zuständigen Luftfahrtbehörde nach dem Grundsatz überprüft werden, dass das Luftfahrtunternehmen das konkrete Sicherheitsrisiko nachweisen muss und nicht etwa der Fluggast mit Behinderung das Nichtvorhandensein eines solchen Risikos.

3.6.6   In dieser Hinsicht wäre zumindest eine Politik der Transparenz in Bezug auf die Möglichkeiten des Zugangs zu Luftfahrzeugen mittels klarer und nachvollziehbarer Informationen bei der Buchung von Flugscheinen erforderlich.

3.6.7   Eine der umstrittensten Fragen ist die des Schadenersatzes im Falle der Beschädigung oder des Verlusts von Mobilitätshilfen. Der Schadenersatz gemäß dem derzeit geltenden Montrealer Übereinkommen reicht nicht aus, um die von Personen mit eingeschränkter Mobilität erlittenen Schäden auszugleichen – ganz abgesehen von den moralischen Schäden, die möglicherweise aus dem Verlust an Autonomie resultieren. Daher muss in den Geschäftsbedingungen der Luftfahrtunternehmen und letztlich durch eine Änderung der Rechtsvorschriften eine ausreichende Entschädigungshöhe sichergestellt werden.

3.7   6. Frage: Sollte im Zusammenhang mit den Fluggastrechten ein transparenteres System für die Festlegung der Flugpreise eingeführt werden, das auch die Zuschlagsproblematik berücksichtigt?

3.7.1   In der Verordnung Nr. 1008/2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft ist festgelegt, wie die Nutzer über die Endpreise der Luftverkehrsdienstleistungen informiert werden müssen.

3.7.2   Diese Intention des EU-Gesetzgebers hat nicht zu den erwünschten Ergebnissen geführt – und damit zur Frustration der Nutzer, die nicht in der Lage sind, die Preise dieser Dienstleistungen zu vergleichen.

3.7.3   Diverse Geschäftspraktiken machen es den Flugreisenden vielfach unmöglich zu verstehen, aus welchen Elementen sich der Endpreis einer Luftverkehrsdienstleistung zusammensetzt.

3.7.4   In der vorgenannten Verordnung ist das Prinzip verankert, dass die Luftfahrtunternehmen die Tarife und Gebühren frei festlegen können. Dieses Prinzip steht außer Frage, darf aber kein Hindernis für die Bereitstellung vergleichbarer Informationen sein.

3.7.5   In einer früheren Stellungnahme des EWSA zum Thema „Verbraucherinformationen“ (3) wurde eine Reihe von Kriterien für Verbraucher- und Nutzerinformationen aufgelistet: Zuverlässigkeit, Aktualität, Objektivität, Genauigkeit, Zweckmäßigkeit, Kürze, Verständlichkeit, Klarheit, Lesbarkeit und Zugänglichkeit. Unbeschadet der geschäftspolitischen Freiheit eines jeden Luftfahrtunternehmens muss ersichtlich sein, welche Aspekte oder Elemente in die Tarife einfließen und zusammen mit Steuern, Flughafengebühren, Zuschlägen und sonstigen Entgelten den Endpreis ergeben.

3.7.6   Es wäre festzuhalten, dass der Gesetzgeber genau festlegen sollte, aus welchen Komponenten der Endpreis der Luftverkehrsdienstleistungen zusammengesetzt ist, und diese dann definieren sollte (4). Schließlich gilt es Folgendes zu bedenken: Derzeit werden Beförderungsverträge bereits einige Zeit vor dem tatsächlichen Reiseantritt geschlossen; die Luftfahrtunternehmen sollten verpflichtet werden, diese Preise mindestens drei Monate lang zu gewährleisten.

3.7.7   Wie in der Mitteilung KOM(2011) 174 endg. festgestellt wird, mangelt es an Transparenz bei Informationen, die die Verbraucher benötigen, z.B. Veröffentlichung von Daten über die Pünktlichkeit, Zahl der von Störungen betroffenen Flüge, ergriffene Maßnahmen zum Fluggastschutz, Beschlüsse der Durchsetzungsbehörden in Anwendung der Verordnung sowie den Luftfahrtunternehmen wegen Nichteinhaltung auferlegte Strafen.

3.8   Für eine bessere Umsetzung außergerichtlicher Schlichtungsverfahren

3.8.1   Das System der außergerichtlichen Streitbeilegung vor Durchsetzungsbehörden sollte auf einheitlichen, wirksamen und schnellen Regelungen fußen, im Einklang mit den für die außergerichtliche Behandlung von Verbraucherklagen geltenden Grundsätzen und unter Einsatz eines (mehrsprachigen) gemeinsamen Formblatts entsprechend der (in der Kommissionsempfehlung vom 12.5.2010 gebilligten) „harmonisierten Methodik“. In jedem Falle sollten die Beschlüsse innerhalb einer angemessenen Frist gefasst werden und für alle Beteiligten bindend sein.

3.8.2   Die Verfahrensfristen sollten einheitlich festgelegt werden, zumindest folgende:

Frist für die Beantwortung von Beschwerden von Verbrauchern durch die Luftfahrtunternehmen: höchstens ein Monat;

Frist für die Klärung von Beschwerden von Verbrauchern gegen Luftfahrtunternehmen durch die für die Anwendung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständigen Durchsetzungsbehörden: zwei Monate;

Frist für die Veröffentlichung der den Luftfahrtunternehmen auferlegten Strafen durch die Durchsetzungsbehörden: zwei Monate ab dem entsprechenden Beschluss.

3.8.3   Alle Beschlüsse unter Anwendung der Verordnung Nr. 261/2004 sollten der Kommission durch die Durchsetzungsbehörden oder Gerichte der Mitgliedstaaten mitgeteilt werden, so wie bei der Anwendung der Verordnung Nr. 1/2003, wobei die Kommission für die Verbreitung dieser Informationen zuständig ist.

3.8.4   Für Kollektivstreitigkeiten, die häufig bei Problemen im Zusammenhang mit der Erbringung von Luftverkehrsdienstleistungen auftreten, bedarf es eines Gruppenrechtsschutzes durch Verbraucherschutzorganisationen. Der EWSA betont erneut die Notwendigkeit, derartige Rechtsklagen auf EU-Ebene zu regeln sowie einen Ausgleichsfonds einzurichten, um die Verfahrenskosten für die Verbraucherverbände abzudecken, denn Fluggäste gehören zu den Gruppen, die einen solchen Schutz am stärksten benötigen.

3.8.5   Zivilrechtliche Strafen können abschreckend, verhältnismäßig und wirkungsvoll sein, wenn sie mit Entschädigungen für Gruppen von Passagieren einhergehen, die Schäden oder Beeinträchtigungen infolge der Nichteinhaltung von Verbraucherschutzvorschriften erlitten haben, so wie in früheren Stellungnahmen des EWSA dargelegt.

3.8.6   Bei jeder Überarbeitung der Verordnung Nr. 261/2004 sollte der notwendige Zusammenhang mit anderen bereits bestehenden Rechtsakten im Bereich des Verbraucherschutzes gewährleistet bleiben, z.B. mit der Richtlinie über Pauschalreisen oder der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken.

Brüssel, den 27. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 38

(2)  ABl. L 399 vom 30.12.2006, S. 1.

(3)  ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 62.

(4)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 142.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/131


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union (Neufassung)“

KOM(2011) 402 endg. — 2011/0187 (COD)

2012/C 24/29

Berichterstatter: Raymond HENCKS

Der Rat beschloss am 22. Juli 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union (Neufassung)

KOM(2011) 402 endg. — 2011/0187 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 7. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 150 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Verordnung (EG) Nr. 717/2007, die die Preisobergrenzen für Roaming-Gebühren auf der Vorleistungs- und Endkundenebene festlegt, läuft am 30. Juni 2012 aus, ohne dass sich ein gesunder Wettbewerb entwickelt hätte und die Kunden folglich noch immer überhöhte Preise zahlen müssen.

1.2

Deswegen sind neue EU-Maßnahmen erforderlich, wenn das im Rahmen der digitalen Agenda für Europa festgelegte Ziel der Beseitigung der Differenz zwischen Roaming- und Inlandstarifen bis 2015 erreicht werden soll.

1.3

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen neuen Maßnahmen, die er als verhältnismäßig und angemessen erachtet, um zu gewährleisten, dass diese Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu erschwinglichen Preisen verfügbar und zugänglich ist. Der Vorschlag einer erneuten Senkung der Preisobergrenzen geht in die richtige Richtung, sprich dass es auf mittlere Sicht keine speziellen Roaming-Gebühren mehr gibt.

1.4

Der EWSA erklärt sich ebenfalls grundsätzlich mit der Bestimmung einverstanden, die den Kunden freien Zugang zu Sprach-, SMS- und Datenroamingdiensten aller zusammengeschalteten alternativen Roaminganbieter unter Beibehaltung ihrer Rufnummer gewährt.

1.5

Der Ausschuss bedauert jedoch, dass dem Kommissionsvorschlag keine Abschätzung der Folgen der neuen Maßnahmen für die Beschäftigung und die Arbeitsbedingungen in diesem Sektor beigefügt ist.

1.6

Bezüglich der Mindestabrechnungsdauer von abgehenden Roaminganrufen fordert der EWSA eine Senkung der derzeitigen Höchstgrenze von 30 Sekunden unter Berücksichtigung der diesbezüglichen Entwicklung in einigen Mitgliedstaaten.

2.   Hintergrund

2.1

Seit 2005 ist die Senkung der Roaming-Gebühren für Mobilfunknutzer, die innerhalb der EU reisen, fester Bestandteil der EU-Politik im Bereich der elektronischen Kommunikation und der Industrie.

2.2

Da die wiederholten Aufrufe der Kommission an die Mobilfunkanbieter, ihre überhöhten Roaming-Tarife zu senken, nichts fruchteten, beschloss die EU einzugreifen und eine Preisregulierung einzuführen.

2.3

Mit der Verordnung (EG) Nr. 717/2007 hat die EU ab dem 1. September 2007 eine Preisobergrenze pro Minute („Euro-Tarif“) für abgehende und ankommende Anrufe in der EU eingeführt (auf Vorleistungs- und Endkundenebene), die bis 2010 jährlich um 0,03 EUR herabgesetzt wurde.

2.4

Obwohl der Euro-Tarif so festgelegt wurde, dass er genügend Spielraum lässt für einen gesunden Wettbewerb zwischen den Mobilfunkanbietern unterhalb der zulässigen Höchstgrenze, musste die Kommission feststellen, dass die von den Anbietern verlangten durchschnittlichen Roamingentgelte im allgemeinen nur geringfügig unterhalb der vorgeschriebenen Höchstgrenze lagen.

2.5

Daraufhin wurde die Verordnung (EG) Nr. 717/2007 bis zum 30. Juni 2012 verlängert und die Preisobergrenzen für Sprachanrufe Jahr für Jahr weiter gesenkt. Gleichzeitig wurde auch eine Höchstgrenze für SMS (auf Vorleistungs- und Endkundenebene) sowie für Datenroaming auf Vorleistungsebene eingeführt, während auf Endkundenebene hier keine Preisobergrenzen vorgeschrieben wurden.

2.6

Um die Verbraucher vor den „versteckten Kosten“ zu schützen, wurde darüber hinaus am 1. Juli 2009 eine sekundengenaue Abrechnung ab 30 Sekunden für abgehende Anrufe und eine sekundengenaue Abrechnung von Gesprächsbeginn an für ankommende Anrufe eingeführt.

3.   Der neue Kommissionsvorschlag

3.1

Da die Verordnung (EG) Nr. 717/2007 am 30. Juni 2012 ausläuft und da im von der Kommission ausgearbeiteten Bericht über die Entwicklung des Sprachroamingmarktes festgestellt wird, dass in die Preise (abgesehen von den speziellen Roaming-Paketen) noch nicht genügend Bewegung gekommen ist, um sicherzustellen, dass die Verbraucher keine im Vergleich zu den unter Wettbewerbsbedingungen gebildeten nationalen Tarifen überhöhten Preise zahlen, hat die Kommission vor kurzem einen neuen Änderungsvorschlag zu der oben genannten Verordnung auf den Weg gebracht.

3.2

Neben weiteren beachtlichen Senkungen der Höchstgrenzen bis 2016 bzw. 2022 enthält der neue Vorschlag für eine Verordnung auch strukturelle Maßnahmen, z.B.:

die Abkoppelung des Roamings von den nationalen Diensten, um den Kunden bei Roamingdiensten (Sprachdiensten, SMS, Daten) die freie Wahl eines anderen Anbieters unter Beibehaltung ihrer Rufnummer zu lassen;

die Verpflichtung für Netzbetreiber zur Gewährung des Vorleistungszugangs zwecks Erbringung von Roamingdiensten.

3.3

Bis die strukturellen Reformen greifen, schlägt die Kommission bezüglich der Preisbestimmungen vor, die Verordnung (EG) Nr. 717/2007 um 10 Jahre, d.h. bis zum 30. Juni 2022, zu verlängern.

3.4

Auf Endkundenebene sollen die Preisobergrenzen bis zum 30. Juni 2016 gelten, während auf Vorleistungsebene die Höchstgrenzen während des gesamten Geltungszeitraums beibehalten werden sollen (es sei denn, es hätte sich bereits vorher ein ausreichend starker Wettbewerb entwickelt).

3.5

Die Roamingdienste auf Endkundenebene sind derzeit die einzigen Dienste, für die noch keine Preisregulierungen gelten. Daher finden sich hier immer noch überhöhte Preise, die teils um das Siebenfache höher liegen als auf Vorleistungsebene.

3.6

Aus diesem Grund werden Regulierungsmaßnahmen ins Auge gefasst, um die Preise pro Kilobyte beim Datenroaming auf Endkundenebene bis 2014 schrittweise zu senken. Zwischen Juli 2014 und Juli 2016 sollen die Preisobergrenzen unverändert bleiben, bevor sie ganz abgeschafft werden (es sei denn, es hätte sich bereits vorzeitig ein ausreichend starker Wettbewerb entwickelt).

3.7

Beim Datenroaming auf Vorleistungsebene werden die Höchstgrenzen bis zum 30. Juni 2015 Jahr für Jahr gesenkt, danach sollen sie unverändert bleiben, bis die neue Verordnung ausläuft (im Prinzip im Jahr 2022).

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Die Notwendigkeit, die Probleme rund um das Roaming zu lösen, um den Binnenmarkt zu verwirklichen, fällt gleichermaßen in den Rahmen der Europa-2020-Strategie, der Binnenmarktakte und der Digitalen Agenda für Europa.

4.2

Der EWSA erinnert daran, dass die elektronische Kommunikation eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ist, die definitionsgemäß flächendeckend verfügbar und zu erschwinglichen Preisen zugänglich sein muss.

4.3

Der EWSA begrüßt daher alle Maßnahmen, die darauf abzielen, die Verbraucher vor überhöhten Preisen bei abgehenden und ankommenden Roaminganrufen zu schützen. Zudem ersucht er die Kommission, mit der gleichen Entschlossenheit ebenfalls gegen die übermäßigen Gewinnspannen bei marktbeherrschenden Anbietern anderer Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse vorzugehen.

4.4

Die Roamingdienste bilden eines der Kernelemente der „Digitalen Agenda für Europa“, nämlich die Beseitigung der Differenz zwischen Roaming- und Inlandstarifen bis 2015, d.h. auf mittlere Sicht die Abschaffung jeglicher Formen von Roaming-Gebühren.

4.5

Dieses erklärte Ziel als solches ist jedoch nicht in Form einer Bestimmung der vorgeschlagenen Verordnung gefasst. Die erneuten Senkungen der Preisobergrenzen für Roamingdienste lassen jedoch so gut wie keinen Spielraum mehr zwischen den nationalen Tarifen und den Roamingpreisen.

4.6

Auch wenn der bisherige Ansatz, nämlich Preissenkungen durch die Festlegung von Preisobergrenzen zur Auflage zu machen, zu bedeutenden Preissenkungen geführt hat (s. die vom EWSA ausgearbeitete Tabelle unten), so stößt diese Maßnahme mit der vorgeschlagenen Verordnung an ihre Grenzen und ist nicht nachhaltig.

 

Sprachanrufe

Euro/Minute

ohne MwSt

SMS

Euro/SMS

ohne MwSt

Daten

Euro/Kilobyte

ohne MwSt

 

Vorleistungspreis

Endkundenpreis – abgehende Anrufe

Endkundenpreis – ankommende Anrufe

Vorleistungspreis

Endkundenpreis

Vorleistungspreis

Endkundenpreis

Durchschnittspreis vor dem 1.9.2007

 

0,7692

0,417

Verordnung (EG) Nr. 717/2007

Höchstpreis

1.9.2007-31.8.2008

0,30

0,49

0,24

Höchstpreis

1.9.2008-30.6.2009

0,28

0,46

0,22

Höchstpreis

1.7.2009-30.6.2010

0,26

0,43

0,19

0,04

0,11

1,00

Verordnung (EG) Nr. 580/2008

Höchstpreis

1.7.2010-30.6.2011

0,22

0,39

0,15

0,04

0,11

0,80

Höchstpreis

1.7.2011-30.6.2012

0,18

0,35

0,11

0,04

0,11

0,50

Höchstpreis

1.7.2012-30.6.2013

0,14

0,32

0,11

0,03

0,10

0,30

0,90

Vorschlag für eine Verordnung KOM(2011) 402

Höchstpreis

1.7.2013-30.6.2014

0,10

0,28

0,10

0,03

0,10

0,20

0,70

Höchstpreis

1.7.2014-30.6.2015

0,06

0,24

0,10

0,02

0,10

0,10

0,50

Höchstpreis

1.7.2015-30.6.2016

0,06

0,24

0,10

0,02

0,10

0,10

0,50

Höchstpreis

1.7.2016 -30.6.2022

0,06

Höchstpreis (1) aufgehoben

Höchstpreis (1) aufgehoben

0,02

Höchstpreis (1) aufgehoben

0,10

Höchstpreis (1) aufgehoben

4.7

Durch Preissenkungen können die strukturellen Probleme, die es noch immer auf dem Roamingmarkt gibt, nicht gelöst werden. Aus diesem Grund begrüßt der EWSA, dass der neue Verordnungsvorschlag neben den Preisregelungen auch strukturelle Bestimmungen enthält, gemäß denen die Heimatanbieter ihren Kunden ab dem 1. Juli 2014 freien Zugang zu Sprach-, SMS- und Datenroamingdiensten aller zusammengeschalteten alternativen Roaminganbieter gewähren müssen.

4.8

Grundsätzlich begrüßt der EWSA diese Bestimmung, er befürchtet jedoch, dass die Maßnahme einen zu starken Kundenzufluss zu den großen marktbeherrschenden Mobilfunkanbietern auslösen wird, zu Lasten der kleineren Anbieter, umso mehr als für sie wegen der Festkosten die Kosten für die technische und kommerzielle Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahme im Verhältnis höher sein werden.

4.9

Der EWSA ersucht die Kommission, trotz der für die Errichtung eines Mobilfunkdienstes notwendigen Einbindung zusätzlicher Akteure weiterhin für Transparenz für die Endkunden zu sorgen.

4.10

Auch wenn der Vorschlag der Kommission, den Mobilfunkanbietern (Betreibern virtueller Mobilfunknetze/MVNO) auch Marktzugang zu den grenzüberschreitenden Roamingdiensten zu gewähren, zu einem verstärkten Wettbewerb führen kann, so bedauert der EWSA, dass die 2005 vom Europäischen Parlament geforderte Abschätzung der Folgen der Verordnung für die kleineren Mobilfunkanbieter in der Gemeinschaft und deren Stellung im Markt für gemeinschaftsweites Roaming nicht aufgegriffen wurde.

4.11

Außerdem muss der EWSA feststellen, dass die dem Vorschlag beigefügte Zusammenfassung der Auswirkungen und die Folgenabschätzung keinerlei Angaben zu den erwarteten Auswirkungen der neuen Maßnahmen auf die Beschäftigung und/oder die Arbeitsbedingungen in diesem Sektor enthalten. Der EWSA fordert daher zusätzliche Untersuchungen.

4.12

Bezüglich der Mindestabrechnungsdauer von abgehenden Roaminganrufen fordert der EWSA eine Senkung der derzeitigen Höchstgrenze von 30 Sekunden unter Berücksichtigung der diesbezüglichen Entwicklung in einigen Mitgliedstaaten.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  unter der Voraussetzung, dass sich ein ausreichend starker Wettbewerb entwickelt hat.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/134


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Energieeffizienz und zur Aufhebung der Richtlinien 2004/8/EG und 2006/32/EG“

KOM(2011) 370 endg. — 2011/0172 (COD)

2012/C 24/30

Berichterstatter: André MORDANT

Mitberichterstatter: Thierry LIBAERT

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 15. Juli bzw. 1. August 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 194 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Energieeffizienz und zur Aufhebung der Richtlinien 2004/8/EG und 2006/32/EG

KOM(2011) 370 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 7. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 165 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen und Schlussfolgerungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss empfiehlt dem Rat und dem Europäischen Parlament, dass die Europäische Kommission so schnell wie möglich bewertet, ob die EU das Energieeffizienzziel von 20 % erreichen wird, und dass alle Anstrengungen auf wirksame Ergebnisse ausgerichtet werden.

1.2   Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, die in den Mitgliedstaaten bestehenden bewährten Verfahren, insbesondere für die Verbesserung der Energieeffizienz des Gebäudebestands, zu verbreiten und zu fördern.

1.3   Die Europäische Kommission sollte zusätzliche EU-Finanzhilfen für die Maßnahmen ermitteln, die der Verwirklichung der Ziele dieses Richtlinienvorschlags dienen, und deren Durchführung unterstützen.

1.4   Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission außerdem auf, dringend die Gründe für die geringe Nutzung der vorhandenen Ressourcen zu untersuchen und gegebenenfalls die Finanzierungsvorschriften zu überarbeiten. Die Europäische Kommission sollte gleichfalls überprüfen, wie die Rolle des vor Kurzem eingerichteten Europäischen Fonds für Energieeffizienz in Bezug auf die Finanzierungsquellen und die Kriterien für die Mittelgewährung gestärkt werden könnte, mit denen sowohl ökologische als auch wirtschaftliche und soziale Ziele erreicht werden sollen.

1.5   Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission ferner auf, die Möglichkeit zu untersuchen, ihren Vorschlag für projektbezogene Anleihen im Rahmen der Europa-2020-Strategie auf Projekte auszuweiten, die zur Umsetzung der Ziele dieses Richtlinienvorschlags beitragen.

1.6   Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission darüber hinaus auf, das in der Industrie möglicherweise noch vorhandene Einsparungspotenzial rasch zu bewerten, um die entsprechenden Maßnahmen festzulegen und anzunehmen.

1.7   Des Weiteren sollte die Europäische Kommission untersuchen, in welchem Maße und unter welchen Bedingungen die Benchmarking-Instrumente für CO2- und weitere Schadstoffemissionen (die in den BVT-Merkblättern festgelegt sind) wie in der Richtlinie über Industrieemissionen verwendet und im Rahmen eines Governance-Systems ausgearbeitet werden könnten, in das alle betroffenen Akteure einschl. Arbeitgeber, Gewerkschaften und NGO eingebunden sind.

1.8   Es sollten strengere Bedingungen für die mögliche Einführung intelligenter Zähler festgelegt werden, wobei die Grundsätze von Universalität und Verfügbarkeit der Energie für die Verbraucher und der Schutz personenbezogener Daten gewährleistet werden müssen.

1.9   Der Ausschuss fordert, dass in dem Richtlinienvorschlag die Auswirkungen der mit den Energieeffizienzmaßnahmen verbundenen Kosten auf die von den Endverbrauchern zu zahlende Rechnung begrenzt werden, insbesondere etwaige Kosten für intelligente Zähler. Außerdem müssen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass diese Maßnahmen gemäß von den Mitgliedstaaten selbst festzulegenden Modalitäten für einkommensschwache Haushalte kostenlos sind.

1.10   Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, die Aufnahme der Energieeffizienz in den Zuständigkeitsbereich der Betriebsräte und europäischen Betriebsräte zu fördern, um die Ziele dieses Richtlinienvorschlags zu erreichen.

1.11   Die Europäische Kommission muss außerdem den Begriff „kleine und mittlere Unternehmen“ in Bezug auf deren Größe und Tätigkeitsfelder genauer definieren, damit eine zu weitgefasste Definition nicht dazu führt, dass ein Großteil der Unternehmen von der Durchführung eines Energieaudit und der Umsetzung der Ziele des hier erörterten Richtlinienvorschlags befreit ist.

1.12   Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission ferner auf, für eine bessere Integration des Verkehrsbereichs zu sorgen und im Rahmen dieser Richtlinie Maßnahmen vorzusehen, um das gewünschte Ziele zu erreichen.

1.13   Die Europäische Kommission muss die Mitgliedstaaten auffordern, stärkere und möglicherweise bindende Maßnahmen für ihren gesamten Gebäudebestand in Erwägung zu ziehen. Der Ausschuss fordert die Festsetzung einer konkreten Zielvorgabe gekoppelt an angemessene Finanzierungs-, Anreiz- und Begleitmaßnahmen.

1.14   Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, die zur Verbesserung der Lehrpläne in Schulen und Hochschulen und der Bildungs- und FuE-Programme notwendige Koordinierung auf europäischer Ebene zu fördern, damit diese den Herausforderungen und den mit diesem Richtlinienvorschlag verfolgten Ziele entsprechen. Sie sollte dahingehende Partnerschaften unterstützen.

1.15   Der Ausschuss verweist auf die tragende Rolle der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften bei den Energieaudits, um Privathaushalte zur Verbesserung ihrer Energieeffizienz anzuhalten und sie bei ihren diesbezüglichen Bemühungen zu unterstützen.

1.16   Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Verbraucher bei der Verringerung des Energieverbrauchs eine zentrale Rolle spielen. Die Europäische Kommission muss dafür sorgen, dass nationale Strategien aufgelegt werden, die die Verbraucher einbeziehen und in diese Richtung mobilisieren, damit sowohl für die einzelnen Verbraucher als auch für die Gesellschaft die besten Ergebnisse entstehen. Die Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz müssen mit den richtigen (wirtschaftlichen) Anreizen für die Verbraucher einhergehen, um von diesen akzeptiert zu werden. Die Bedürfnisse benachteiligter Verbrauchergruppen müssen untrennbarer Bestandteil aller Energieeffizienzmaßnahmen werden.

2.   Einleitung

Gegenstand dieser Stellungnahme ist der Vorschlag für eine Richtlinie zur Energieeffizienz (KOM(2011) 370 endg.), der auf den geltenden Richtlinien zur Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) und zu den Energiedienstleistungen beruht, die in einem einzigen umfassenden Rechtsakt zur Energieeffizienz bei Energieversorgung und Endenergieverbrauch neugefasst werden sollen.

3.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags für eine Richtlinie zur Energieeffizienz und zur Aufhebung der Richtlinien 2004/8/EG und 2006/32/EG

3.1   Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2020 20 % ihres Primärenergieverbrauchs einzusparen, und hat dieses Ziel zu einem der fünf vorrangigen Ziele der Europa-2020-Strategie für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum gemacht.

3.2   Nach den letzten Schätzungen der Europäischen Kommission, bei denen die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Europa-2020-Straetegie festgelegten nationalen Energieeffizienzziele bis 2020 berücksichtigt wurden, wird die EU 2020 das 20 %-Ziel voraussichtlich nur zur Hälfte erreichen. Der Europäische Rat und das Europäische Parlament haben die Europäische Kommission dazu aufgefordert, eine neue ehrgeizige Strategie im Bereich der Energieeffizienz für ein entschlossenes Handeln zu verabschieden, um das beträchtliche vorhandene Potenzial zu erschließen.

3.3   Um im Bereich der Energieeffizienz neue Impulse zu setzen, hat die Europäische Kommission am 8. März 2011 einen neuen Energieeffizienzplan (EEP) mit Maßnahmen für weitere Einsparungen bei der Energieversorgung und -nutzung vorgelegt.

4.   Allgemeine Bemerkungen zu dem Richtlinienvorschlag

4.1   Diese Stellungnahme stützt sich auf und ergänzt die Stellungnahme des Ausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Energieeffizienzplan 2011“ vom 14. Juli 2011. Der Ausschuss bekräftigt insbesondere die Standpunkte, die er in dieser Stellungnahme in Bezug auf die Erzeugung von Wärme und Strom, KWK (Ziffer 5.3) und Energiedienstleistungen (Ziffer 5.4) zum Ausdruck gebracht hat. Er erneuert außerdem seine Forderung, zu untersuchen, inwieweit die geltenden Vorschriften für die Zertifizierung der Energieleistung von Gebäuden, für das Ökodesign von Haushaltsgeräten und für intelligente Messgeräte funktionieren, und sie gegebenenfalls zu überarbeiten.

4.2   Das Ausschuss befürwortet Inhalt und Ziele des Richtlinienvorschlags, mit dem „ein gemeinsamer Rahmen für die Förderung von Energieeffizienz in der Union geschaffen“ werden soll, „um sicherzustellen, dass das Unionsziel einer Primärenergieeinsparung von 20 % bis 2020 erreicht wird, und weitere Energieeffizienzverbesserungen für die Zeit danach vorzubereiten“. Angesichts des ungenutzten Einsparpotenzials und der positiven ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Verwirklichung dieses Ziels für die EU ist die Förderung der Energieeffizienz in der Europäischen Union nach Meinung des Ausschusses von grundlegender Bedeutung. Der Ausschuss erkennt an, dass in den letzten Jahren zahlreiche legislative und nichtlegislative Vorschläge in Bezug auf umweltverträgliche Gebäude oder umweltverträgliche Bauprodukte ausgearbeitet wurden. Es fehlt offensichtlich an einem Gesamtkonzept für umweltverträgliche Bauten, was zu mangelnder Maßnahmenharmonisierung und Mittelverschwendung führt. Es wäre zweckmäßig, dass die Europäische Kommission ein Grünbuch über „grüne Gebäude“ vorlegt, in dem sämtliche Initiativvorschläge für Gebäude und Baumaterialien erfasst sind.

4.3   Der Ausschuss befürwortet diesen Richtlinienvorschlag, da die Richtlinie 2004/8/EG zur Kraft-Wärme-Kopplung und die Richtlinie 2006/32/EG zu den Energiedienstleistungen im Zuge dieser Überarbeitung aufgehoben und in einen Rechtsakt zusammengeführt werden. Mit diesem integrierten Ansatz können vor allem im Bereich KWK Synergien gefördert und so die angestrebten Ziele leichter verwirklicht werden. Zu diesem Zweck sollte auch der Verkehrsektor stärker integriert werden. Es gilt, einschlägige Maßnahmen in den hier erörterten Richtlinienvorschlag aufzunehmen.

4.4   Das Ziel der Primärenergieeinsparungen in Höhe von 20 % bis 2020 ist von entscheidender Bedeutung. Die Europäische Kommission sollte bereits 2013 bewerten, ob die EU dieses Ziel im Rahmen der geltenden Rechtsvorschriften erreichen wird. Der Ausschuss empfiehlt, alle Anstrengungen auf wirksame Ergebnisse auszurichten.

4.5   Angesichts der Bedeutung des Arbeitsumfelds für die Konzipierung und Durchführung der vorgeschlagenen Maßnahmen bedauert der Ausschuss, dass in dem Richtlinienvorschlag keinerlei Verweis auf die Arbeitskräfte sowie die Förderung des sozialen Dialogs zur Verwirklichung der Ziele enthalten ist. Für das Erreichen der Ziele sind Engagement und Mitwirkung der Arbeitnehmer bei den Energieeffizienzprogrammen ebenso wichtig wie die Gestaltung und Umsetzung geeigneter Aus- und Weiterbildungsprogramme und Maßnahmen zur Gewährleistung guter Arbeitsbedingungen sowie von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Diese Aspekte müssen in die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer im Rahmen des sozialen Dialogs einfließen, der unbedingt gefördert werden muss.

4.5.1   Der Ausschuss empfiehlt, nach dem Vorbild der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen einen Anhang zu der Ausbildung anzunehmen, die zur Zertifizierung oder Qualifizierung als Erbringer der Dienstleistungen führt, die Gegenstand dieses Richtlinienvorschlags sind.

4.6   Der Ausschuss äußert Bedenken in Bezug auf die Finanzierung der erforderlichen Investitionen. Derzeit ist der Anteil der EU-Finanzierung offenbar vielfach zu gering, um als Anreiz wirken zu können (siehe Ziffer 6.5.1 der oben genannten Stellungnahme zum Energieeffizienzplan, CESE 1180/2011). In Ziffer 4 der Begründung des Richtlinienvorschlags ist festgehalten, dass „der Vorschlag aus dem vorhandenen Haushalt umgesetzt werden und keine Auswirkungen auf den mehrjährigen Finanzrahmen haben [wird]“. Die bestehenden Finanzierungsinstrumente müssen selbstverständlich so umfassend wie möglich genutzt werden, man muss sich jedoch eines vor Augen führen: Angesichts der geringen Nutzung der Struktur- und Kohäsionsfondsmittel in den Mitgliedstaaten und Regionen sind diese Instrumente derzeit schlicht ungeeignet. Zur Verwirklichung ihrer Ziele muss die Europäische Kommission nach Meinung des Ausschusses:

dringend die Gründe für die geringe Nutzung der vorhandenen Ressourcen untersuchen und gegebenenfalls die Finanzierungsvorschriften überarbeiten. Dies ist angesichts der aktuellen Zwänge für die Staatshaushalte, die insbesondere auf die Entscheidungen auf europäischer Ebene im Zuge der Sparpolitik zurückzuführen sind, umso dringlicher und wichtiger;

überprüfen, wie die Rolle des vor Kurzem eingerichteten Europäischen Fonds für Energieeffizienz in Bezug auf die Finanzierungsquellen und die Kriterien für die Mittelgewährung gestärkt werden könnte, mit denen sowohl ökologische als auch wirtschaftliche und soziale Ziele erreicht werden sollen;

die Möglichkeit untersuchen, ihren Vorschlag für projektbezogene Anleihen im Rahmen der Europa-2020-Strategie auf Investitionsprojekte auszuweiten, die zur Umsetzung der Ziele dieses Richtlinienvorschlags beitragen;

weitere denkbare Finanzierungsmechanismen beleuchten, einschl. so genannter Systeme der Drittfinanzierung zur Sicherstellung der Vorfinanzierung, bei denen die Rückzahlung dann über die Energieeinsparungen aufgrund der Energiesanierung der betroffenen Unterkünfte erfolgt. Diesbezüglich befürwortet der Ausschuss den Vorschlag der Europäischen Kommission, insbesondere für die Anbringung intelligenter Zähler auf Energiedienstleistungsunternehmen (Energy Service Companies – ESCO) zurückzugreifen.

4.7   Der Ausschuss betont, dass laut dem Energieeffizienzplan 2011 öffentliche Gebäude lediglich 12 % des gesamten Gebäudebestands in der EU ausmachen. Er weist auf die Bedeutung des restlichen Gebäudebestands hin und schlägt vor, dass die Mitgliedstaaten stärkere und möglicherweise bindende Maßnahmen für ihren gesamten Gebäudebestand in Erwägung ziehen sollten. Er fordert die Festsetzung einer konkreten Zielvorgabe gekoppelt an angemessene Finanzierungs-, Anreiz- und Begleitmaßnahmen. Dies ist umso wichtiger, „da der Gebäudebestand der Einzelsektor mit dem größten Energieeinsparpotenzial ist“ (siehe Erwägungsgrund 15 des Richtlinienvorschlags). „Außerdem ist der Gebäudesektor entscheidend dafür, dass das EU-Ziel, die Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80-95 % gegenüber 1990 zu senken, erreicht wird“. Darüber hinaus unterstreicht der Ausschuss, dass mit der Energiesanierung des Gebäudebestands in der EU:

durch geeignete Aus- und Weiterbildungsprogrammen zahlreiche Arbeitsplätze in Europa geschaffen werden könnten, deren Qualität im Rahmen eines gestärkten sozialen Dialogs sichergestellt werden muss;

die Mitgliedstaaten mehr Einnahmen erhalten könnten (insbesondere aufgrund einer niedrigeren Arbeitslosenquote und höherer Steuereinahmen);

der Konjunkturaufschwung in Europa angekurbelt werden könnte;

über spezifische Maßnahmen für Haushalte mit niedrigeren und mittleren Einkommen auch soziale Ziele erreicht werden könnten, da ihre Energiekosten dank eines geringeren Energiebedarfs für Heizung und Beleuchtung gesenkt werden können.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Gemäß Artikel 4 müssen jährlich mindestens 3 % der gesamten Gebäudefläche, die sich im Eigentum der öffentlichen Einrichtungen der Mitgliedstaaten befindet, renoviert werden. In der Berechnung werden Gebäude mit einer Gesamtnutzfläche von mehr als 250 m2 berücksichtigt. Nach Auffassung des Ausschusses muss diese Verpflichtung auch auf die Gebäude der europäischen Institutionen Anwendung finden. Der Ausschuss steht der Mindestfläche von 250 m2 skeptisch gegenüber und wirft die Frage auf, ob damit in der Praxis nicht insbesondere die Träger von Sozialwohnungen von dieser Renovierungspflicht befreit werden, da Sozialwohnungen oftmals viel kleiner sind. Dabei muss bei der Verwirklichung der Energieeffizienzziele doch auch ein sozialer Zweck verfolgt werden, indem Anreizmaßnahmen für eine Energiesanierung der Unterkünfte benachteiligter Haushalte geschaffen werden, wodurch wiederum deren Energierechnung gesenkt werden kann.

5.1.1   Aufgrund der derzeitigen wirtschaftlichen Lage können die Ziele aus Artikel 4 und 6 möglicherweise nicht innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens erreicht werden. Nach Meinung des Ausschusses sollte die Europäische Kommission ein solidarisches Vorgehen der EU für diejenigen Mitgliedstaaten vorsehen, die diese Ziele aus eigener Kraft nicht verwirklichen können.

5.2   Die in Artikel 6 vorgesehenen Energieeffizienzverpflichtungssysteme mögen zwar notwendig sein, werden aber Kosten zeitigen. Nach Ansicht des Ausschusses müssen die Auswirkungen der mit den Energieeffizienzmaßnahmen verbundenen Kosten auf die von den Endverbrauchern zu zahlende Rechnung begrenzt werden (siehe Ziffer 4.5.5 der oben genannten Stellungnahme zum Energieeffizienzplan, CESE 1180/2011). Diese Verbesserungen sollten insbesondere für einkommensschwache Haushalte kostenlos sein (siehe ebd., Ziffer 6.7.2).

5.3   Gemäß Artikel 7 Absatz 1 fordern die Mitgliedstaaten insbesondere kleine und mittlere Unternehmen zur Durchführung von Energieaudits auf. Daher wäre es in den Augen des Ausschusses sinnvoll, diese „kleinen und mittleren Unternehmen“ in Artikel 2 auch zu definieren.

5.4   Gemäß Artikel 7 Absatz 2 müssen alle Unternehmen mit Ausnahme der „kleinen und mittleren Unternehmen“ Gegenstand eines Energieaudits sein, das spätestens bis zum 30. Juni 2014 und alle drei Jahre nach dem vorangegangenen Energieaudit durchgeführt wird. Wie bereits in Ziffer 5.5.1 der der oben genannten Stellungnahme zum Energieeffizienzplan (CESE 1180/2011) betont, kann in der Industrie noch ein Einsparungspotenzial vorhanden sein, auch wenn bereits Fortschritte erzielt wurden und europäische Maßnahmen wie das Emissionshandelssystem (EU-EHS) bereits auf energieintensive Industrien ausgerichtet sind. Um das Einsparungspotenzial der Industrie so rasch wie möglich bewerten und entsprechende Maßnahmen annehmen zu können, schlägt er vor,

Energieaudits zeitnah und effizient durchzuführen;

herkömmliche und neuartige Instrumente für eine gezielte und kontinuierliche Verbesserung der Energieeffizienz sowohl in energieintensiven als auch in mittelständischen Anlagen umfassend zu unterstützen, einzusetzen und zu verbreiten;

die Audits erstrecken sich sowohl auf Managementbelange als auch auf technische Aspekte. Änderungen im Management können relativ einfach umgesetzt werden, strukturelle Änderungen (Böden, Dächer, Änderung des Nutzungszwecks des Gebäudes, schwere Baustoffe) hingegen sind teuer und zeitaufwändig, zumal für die Umsetzung der Empfehlungen des Audits eine Kosten-Nutzen-Analyse und ein Durchführungsplan erforderlich sind, um eine Ausschreibung mit exakten Parametern und einem Kostenplan vorbereiten zu können. Darüber hinaus sind oftmals Genehmigungen erforderlich, wodurch die Renovierung erheblich länger dauert. Aus diesen Gründen muss für diejenigen Fälle, in denen aufgrund der Empfehlungen des Audits umfangreiche Arbeiten erforderlich sind, die Möglichkeit einer Fristverlängerung für deren Durchführung vorgesehen werden.

5.4.1   Die Beteiligung der Arbeitnehmer ist für die Verbesserung der Energieeffizienz von entscheidender Bedeutung. Ohne ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihr Engagement kann hier nichts erreicht werden. Der Ausschuss empfiehlt daher, zu untersuchen, in welchem Maße und unter welchen Bedingungen die Benchmarking-Instrumente für CO2- und weitere Schadstoffemissionen (die vom Institut für technologische Zukunftsforschung (IPTS) in Sevilla ausgearbeiteten BVT-Merkblätter zur Unterstützung der früheren IVU-Richtlinie und der Richtlinie über Industrieemissionen aus dem Jahr 2010, die auch für das EU-EHS verwendet werden und Energieeffizienz-Referenzwerte enthalten) ebenso in der hier erörterten Richtlinie verwendet und im Rahmen eines Governance-Systems ausgearbeitet werden könnten, in das alle betroffenen Akteure einschl. Arbeitgeber, Gewerkschaften und NGO eingebunden sind. Auf diese Weise könnten Kosten und Nutzen der geplanten Energieeffizienzmaßnahmen sowie u.a. die soziale/beschäftigungspolitische Dimension, die Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen, Sozialanalysen und -normen, Instrumente zur Bewertung des voraussichtlichen Bedarfs an Arbeitskräften, Qualifikationen und Weiterbildungsmaßnahmen sowie die erforderlichen Instrumente und Vorschriften in den Untersuchungen und Vorschlägen berücksichtigt werden, die im Rahmen dieses Governance-Systems erstellt werden sollen.

5.5   In Artikel 8 Absatz 1 sind die Bedingungen für die Verwendung intelligenter Zähler dargelegt. Der Ausschuss erachtet diese Bedingungen als unzureichend. Er fordert, dass die Mitgliedstaaten zunächst vor dem Hintergrund ihrer eigenen Rechtsvorschriften eine eingehende Bewertung der Kosten und des Nutzens derartiger Zähler vornehmen, in der die technische Machbarkeit und die Kosteneffizienz der Installation intelligenter Zähler für den Investor (einschl. Wartungs-, Verwaltungs- und Austauschkosten) und die Risiken berücksichtigt werden sollten, die diese Zähler in Bezug auf die Grundsätze von Universalität und Verfügbarkeit der Energie für die Verbraucher und den Schutz personenbezogener Daten mit sich bringen könnten. Für Strom ist diese Bewertung Teil der wirtschaftlichen Bewertung gemäß Anhang I Ziffer 2 der Richtlinie 2009/72/EG vom 13. Juli 2009.

5.6   In Artikel 10 Absatz 1 wird die Erstellung nationaler Wärme- und Kältepläne vorgeschrieben. Diese sollten auch Wettbewerbsaspekte umfassen, um mögliche Probleme von Monopolstellungen im Fernwärmebereich anzugehen.

5.7   Der Ausschuss weist ganz konkret auf die Bedeutung der Entwicklung von Energiedienstleistungen der öffentlichen Hand oder privater Unternehmen für die Verbesserung der Energieeffizienz von Unternehmen, Gemeinschaften und Privathaushalten hin. Ihre Entwicklung sollte mit EU-Fördermitteln unterstützt werden, um sie für Privathaushalte und KMU gemäß vom Gemeinwohl bestimmten Bedingungen zugänglich zu machen.

5.8   Aus juristischer Sicht dienen die im Kommissionsvorschlag – allerdings im Rahmen vertraglicher Vereinbarungen mit öffentlichen Einrichtungen – genannten Energieleistungsverträge dazu, in allen Bereichen systematisch eine höhere Energieeffizienz anzustreben.

5.9   In Artikel 1 betreffend den Geltungsbereich sollte eine Ausnahmeregelung für denkmalgeschützte historische Gebäude vorgesehen werden, da bei derartigen Gebäuden im Allgemeinen weitaus größere praktische und ästhetische Schwierigkeiten u.a. beim Einbau von intelligenten Zählern auftreten. Vielfach ist es den Eigentümern historischer Gebäude aufgrund der Denkmalschutzgesetze beispielsweise untersagt, neue Energiemanagementsysteme zu installieren. Es sollte Sache der Mitgliedstaaten sein, in Einzelfallentscheidungen darüber zu befinden, ob denkmalgeschützte historische Gebäude einer solchen Ausnahmeregelung bedürfen und flexiblere Lösungen zu wählen sind.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/139


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Offenes Internet und Netzneutralität in Europa“

KOM(2011) 222 endg.

2012/C 24/31

Berichterstatter: Jorge PEGADO LIZ

Die Europäische Kommission beschloss am 19. April 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Offenes Internet und Netzneutralität in Europa

KOM(2011) 222 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 7. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 151 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Konzepte offenes Internet und Netzneutralität, die so genannten „Netzfreiheiten“, müssen wesentlicher Bestandteil jeder Rechtsvorschrift sein, mit der die freie Nutzung des Internet als Kommunikationsmittel gewährleistet werden soll.

1.2   Die Sicherstellung eines offenen Internet und der Netzneutralität wurde in mehreren wichtigen Dokumenten auf EU-Ebene als grundlegendes politisches Ziel anerkannt und insbesondere in der Digitalen Agenda, einem der tragenden Pfeiler der Europa-2020-Strategie, als politische Zielsetzung hervorgehoben.

1.3   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt daher die Mitteilung der Europäischen Kommission, mit der die Auswirkungen der Markt- und Technologieentwicklungen auf die Netzfreiheiten überwacht werden sollen. Allerdings bleibt diese Mitteilung hinter den berechtigten Erwartungen des Ausschusses zurück.

1.4   Die Europäische Kommission ist sich zwar bewusst, dass bestimmte Situationen zu Verstößen gegen diese Grundsätze führen können, anstatt jedoch konkrete Schutzmaßnahmen vorzuschlagen, befürwortet sie eine abwartende Haltung.

1.5   Angesichts der erheblichen Bedeutung dieser Frage für die wirtschaftliche und soziale Zukunft Europas empfiehlt der Ausschuss nachdrücklich, die Grundsätze eines offenen Internet und der Netzneutralität so schnell wie möglich formal in EU-Rechtsvorschriften zu verankern, wobei stets der technische Fortschritt („State of the Art“) in diesem Bereich im Auge behalten werden muss.

1.6   Darüber hinaus ist es nach Ansicht des Ausschusses an der Zeit, die Grundsätze für ein offenes und neutrales Internet festzulegen. In seinen Empfehlungen schlägt er mehrere Grundsätze vor, die angenommen werden sollten (siehe Ziffer 7.12).

1.7   Der Ausschuss vertritt ferner die Auffassung, dass diese Grundsätze von entscheidender Bedeutung für die künftige Entwicklung des Internet als Instrument zur Förderung einer aktiven Bürgerschaft auf der Grundlage der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und eine Voraussetzung für die Verwirklichung der Ziele sind, die auf dem Weltgipfel über die Informationsgesellschaft (WSIS) in Genf (2003) und Tunis (2005) festgesetzt wurden.

1.8   Seiner Meinung nach muss umgehend gehandelt werden, um die Ziele der Europa-2020-Strategie zu erreichen, die Digitale Agenda umzusetzen und den Binnenmarkt zu vollenden. Der Ausschuss begrüßt die jüngsten öffentlichen Äußerungen von Kommissionsmitglied Neelie KROES in diesem Zusammenhang.

1.9   Daher fordert der Ausschuss das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten auf, proaktiv auf die Gewährleistung der Netzfreiheiten hinzuwirken. Er geht davon aus, dass die Europäische Kommission dann nachzieht.

2.   Inhalt, Art und Kernpunkte der Mitteilung der Kommission

2.1   Diese Mitteilung ist ein politisches Dokument, mit dem die Europäische Kommission ihrer Ankündigung aus ihrer Erklärung zum Telekommunikationsreformpaket aus dem Jahr 2009 nachkommt: „die Auswirkungen der Entwicklungen des Markts und der Technik auf die ‚Netzfreiheiten‘ beobachten und dem Europäischen Parlament und dem Rat bis Ende 2010 darüber berichten, ob zusätzliche Leitlinien erforderlich sind (1).

2.1.1   In jener Erklärung bekräftigte die Europäische Kommission ihre Absicht, „der Erhaltung des offenen und neutralen Charakters des Internet hohe Bedeutung“ beizumessen und dem Willen der Mitgesetzgeber umfassend Rechnung zu tragen, „jetzt die Netzneutralität als politisches Ziel und als von den nationalen Regulierungsbehörden zu fördernden Regulierungsgrundsatz festzuschreiben“.

2.2   In ihrer Digitalen Agenda für Europa hat die Europäische Kommission angekündigt, dass sie „auch die Umsetzung der neuen Bestimmungen zum offenen und neutralen Charakter des Internet genau überwachen (2) wird.

2.3   In dieser Mitteilung erläutert die Europäische Kommission die Ergebnisse des öffentlichen Konsultations- und Sondierungsverfahren aus dem Jahr 2010 (3) sowie der in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament veranstalteten Tagung am 11. November 2010 (4).

2.4   Die Europäische Kommission kommt zu dem Schluss, dass zum derzeitigen Zeitpunkt keine Maßnahmen erforderlich sind, da keine ausreichenden Belege für die Notwendigkeit neuer Rechtsvorschriften vorliegen.

2.4.1   Im Zuge des Konsultationsverfahrens haben mehrere Interessenträger und das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) berichtet, dass einige Internetdiensteanbieter für bestimmte Arten des Datenverkehrs die Praxis des „Drosselns“ und „Sperrens“ anwenden sowie diskriminierende Preise berechnen (5).

2.4.2   Die Europäische Kommission hofft jedoch, dass die in dem überarbeiteten EU-Rahmen für die elektronische Kommunikation enthaltenen Vorschriften über Verträge (6), Transparenz (7), den Anbieterwechsel (8) und Dienstqualität (9) dazu beitragen, wettbewerbsorientierte Ergebnisse zu erzielen.

2.4.3   Die Europäische Kommission ist außerdem der Ansicht, dass ausreichend Zeit für die Umsetzung dieser Bestimmungen zu gewähren und zu beobachten ist, wie sie sich in der Praxis bewähren (10).

2.5   Die Europäische Kommission sieht von einer ausdrücklichen Definition der Schlüsselbegriffe ab, da sie in europäischen Rechtsvorschriften ausgelegt sein könnten. Sie hält fest, dass es „bisher keine feste Definition der ‚Netzneutralität‘ [gibt]“.

2.5.1   Sie setzt die beiden Begriffe vielmehr gleich und fasst den rechtlichen Standpunkt der EU zu beiden in einem Verweis auf Artikel 8 Absatz 4 Buchstabe g) der Rahmenrichtlinie zusammen, mit dem die nationalen Regulierungsbehörden dazu verpflichtet werden, die Endnutzer in die Lage zu versetzen, Informationen abzurufen und zu verbreiten oder beliebige Anwendungen und Dienste zu benutzen (dies unterliegt dem anwendbaren Recht) (11).

2.6   Abschließend verpflichtet sich die Europäische Kommission zur Veröffentlichung der Ergebnisse weiterer Untersuchungen des GEREK zu Praktiken von Internetdiensteanbietern, die möglicherweise den Wettbewerb verzerren oder gegen die Grundsätze eines offenen und neutralen Internet verstoßen. Sollten wesentliche und fortdauernde Probleme festgestellt werden und die Europäische Kommission zu dem Schluss kommen, dass weitere Rechtsvorschriften erforderlich sind, wird sie dem Rat die erforderlichen Maßnahmen unterbreiten.

3.   Worum geht es überhaupt?

3.1   Das Fehlen einer ausdrücklichen Definition der Schlüsselbegriffe ist ein ernstes Problem. Ohne Definition gibt es weder eine klare Argumentationslinie noch eine klare Orientierung für den Markt und die Regulierungsbehörden hinsichtlich des geplanten Anwendungsbereichs der einschlägigen europäischen Rechtsvorschriften.

3.2   Offenes Internet

3.2.1   Das Konzept des offenen Internet geht auf den Beginn des Internet und die Einrichtung des World Wide Web zurück, mit dem Internet-Inhalte über einen Internetanschluss weltweit für alle Nutzer zugänglich gemacht wurden.

3.2.2   Das offene Internet steht für den Grundsatz, wonach alle Nutzer Zugang zum öffentlichen Internet haben, ohne dass Staaten oder Internetdiensteanbieter Einschränkungen mit Blick auf Inhalte, Websites, Plattformen, Art der gegebenenfalls zugehörigen technischen Ausrüstung sowie Art und Weise der zulässigen Kommunikation vornehmen können.

3.2.3   Das Internet ist „offen“, weil es kostenlose, öffentlich verfügbare Standards nutzt, die von allen Nutzern zur Konzipierung von Websites, Anwendungen und Diensten verwendet werden können, und weil es den gesamten Datenverkehr mehr oder weniger auf die gleiche Weise handhabt.

3.2.4   Erst einmal ans öffentliche Internet angeschlossen muss kein Nutzer mehr die Erlaubnis der Internetdiensteanbieter einholen oder Zusatzgebühren bezahlen, um mit anderen Nutzern online in Kontakt zu treten. Kein „Erfinder“ neuer innovativer Dienste muss eine Erlaubnis einholen, um diese Dienste mit dem Rest der Welt zu teilen.

3.2.5   Diese Kommunikations- und Innovationsfreiheit ist der Grund für den bemerkenswerten Erfolg des Internet.

3.2.6   In Wirklichkeit ist ein Großteil des öffentlichen Internet jedoch nicht länger „offen“. Das Web ist nach wie vor offen, aber die Anwendungen für Smartphones, die Websites sozialer Netze und kostenpflichtige Inhalte sind Teil eines geschlossenen Internet, das nur über herstellereigene Schnittstellen (proprietary interface) oder Programmierschnittstellen (API) (12) zugänglich ist.

3.2.6.1   Aus politischen, technologischen und kommerziellen Gründen schränken immer mehr Länder (13), Unternehmen (14) und Netzbetreiber (15) den Zugang zum öffentlichen Internet ein oder verändern seine Betriebmechanismen.

3.2.7   Das Konzept des offenen Internet ist jedoch der Grund, warum das Internet wirtschaftliche Innovation, demokratische Teilhabe, Meinungsfreiheit und Wissensaustausch online in der ganzen Welt gefördert hat. Es untermauert grundlegend unsere Werte von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind.

3.2.8   Ohne ausdrücklich genannt zu werden, wird der Grundsatz des offenen Internet in Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe a) und Artikel 8 Absatz 4 Buchstabe g) der Rahmenrichtlinie für elektronische Kommunikation und in Erwägungsgrund 28 der Richtlinie 2009/136/EG („Rechte der Bürger“) behandelt.

3.3   Netzneutralität

3.3.1   Der Grundsatz der Netzneutralität ist aus dem Konzept eines offenen Internet abgeleitet. Das offene Internet beruht auf offenen Standards und der Freiheit, sich in das Internet einzuloggen und es zu nutzen. Die Netzneutralität bezieht sich auf das Management des Datentransports durch die Internetprovider. Ziel ist der Schutz der Verbraucherrechte im Einklang mit dem Grundsatz eines offenen Internet ohne überzogene kommerzielle Eingriffe durch die Netzbetreiber.

3.3.2   Der Grundsatz der Netzneutralität bedeutet, dass Internetprovider alle Quellen vergleichbarer Internetdaten gleich behandeln sollen und nicht aus kommerziellen Gründen zwischen verschiedenen Arten von Datenverkehr unterscheiden dürfen.

3.3.2.1   Es bedeutet, dass die Internetnutzer selbst bestimmen, welche Inhalte sie im Internet abrufen und welche Anwendungen sie online verwenden, und dass Internetprovider nicht das Recht haben, ihre Marktposition zu missbrauchen, um Anwendungen oder Inhalte eines Konkurrenten zu diskriminieren.

3.3.2.2   Der Grundsatz der Netzneutralität kann mit Datenverkehrsmanagement-Maßnahmen vereinbar sein, sofern diese nicht diskriminierend und für die Verbraucher transparent sind und legitimen Zielen im Bereich Dienstequalität dienen. Sie dürfen jedoch nicht dazu verwendet werden, die Netzentwicklung zu bremsen und mit der Begründung knapper Ressourcen höhere Preise zu veranschlagen.

3.3.3   Gemäß dem Grundsatz der Netzneutralität sollte der Markt für den Internetzugang rechtlich von dem Markt für Inhalte und Anwendungen getrennt sein, d.h. dass Unternehmen, die auf beiden Märkten tätig sind, das Management der beiden Märkte korrekt trennen müssen.

3.3.4   Dieser Grundsatz könnte jedoch in Gefahr sein (16). Internetprovider könnten über ihre Infrastruktur Internetanwendungen und -inhalte (z.B. Websites, Dienste, Protokolle), insbesondere von Konkurrenten, sperren oder ihr Geschäftsmodell ändern, um die Qualität und den Umfang des Zugangs verschiedener Nutzer einzuschränken. Derartige Änderungen in Geschäftsmodellen könnten zu unfairer Diskriminierung bei Preis und Dienstleistungsqualität führen.

3.4   Frühere Ausschussstellungnahmen

3.4.1   Der Ausschuss hat sich in mehreren Stellungnahmen unter Berufung auf Meinungsfreiheit und Menschenrechte, Datenschutz und Schutz der Privatsphäre, demokratische und kooperative Governance, Integration und Empowerment sowie Innovation und Wirtschaftswachstum für diese beiden Grundsätze stark gemacht (17).

3.4.2   Der Ausschuss hat insbesondere in seiner Stellungnahme zur Funkfrequenzpolitik und zu Breitbandnetzen (CESE 362/2011) betont, dass er „den Grundsatz der Netzneutralität als äußerst wichtig für die Zukunft von Internetdiensten in Europa“ erachtet (18).

4.   Die wirtschaftlichen Beweggründe hinter diesen Grundsätzen: Die Verbindung mit der Europa-2020-Strategie und der Digitalen Agenda

4.1   Digitale Wirtschaft

4.1.1   Mit der Leitinitiative der „Eine digitale Agenda für Europa (19) soll im Rahmen der Europa-2020-Strategie (20) das enorme Wachstumspotenzial des Internet und der digitalen Wirtschaft erschlossen werden.

4.1.2   Das Internet zählt derzeit 2 Mrd. Nutzer, im elektronischen Geschäftsverkehr werden jährlich knapp 5,5 Billionen EUR umgesetzt. Konsum und Ausgaben im elektronischen Handel übersteigen mittlerweile jene in Landwirtschaft und im Energiesektor. In Ländern mit einer hohen Durchsatzrate hat das Internet in den letzten fünf Jahren 21 % zum BIP-Wachstum beigetragen (21).

4.1.3   Laut einer vor Kurzem veröffentlichten Studie von McKinsey (22), in deren Rahmen knapp 5 000 KMU untersucht wurden, wachsen Unternehmen mit einer starken Internetpräsenz mehr als doppelt so schnell wie jene, die im Internet kaum oder überhaupt nicht vertreten sind; sie schaffen auch doppelt so viele neue Arbeitsplätze.

4.1.4   Zur Nutzung des Potenzials dieses gewaltigen Treibers von Wachstum und Wandel sollten alle nur erdenklichen Anstrengungen unternommen werden, um den Zugang zum Internet und seine Nutzungsfreiheit zu maximieren sowie seine Kosten für Verbraucher und Unternehmen zu minimieren.

4.2   KMU, Innovation, Beschäftigung und Wachstum

4.2.1   Ein Schwerpunkt der Europa-2020-Strategie ist insbesondere die Verbesserung des Unternehmensumfelds für KMU, die Verringerung von Transaktionskosten, die Innovationsförderung in KMU und die Gründung von Start-Ups.

4.2.2   Maßnahmen, mit der die Grundsätze von offenem Internet und Netzneutralität zugunsten der großen Netzbetreiber und zu Lasten der 23 Mio. KMU (23) und der Verbraucher in Europa aufgegeben werden, beeinträchtigen die Fähigkeit Europas, seine Wirtschaft und Gesellschaft gemäß den Zielen der Europa-2020-Strategie zu erneuern.

4.3   Binnenmarkt und lauterer Wettbewerb

4.3.1   Ein offenes Internet und Netzneutralität als Garanten für lauteren Wettbewerb und Impulsgeber für Innovation sind auch wesentliche Grundsätze für die Verwirklichung eines starken digitalen Binnenmarktes (24).

5.   Einige Netzbetreiber führen Argumente gegen den Grundsatz der Netzneutralität ins Treffen

5.1   Einige Netzbetreiber haben bei Regierungen, Europäischer Kommission und Europäischem Parlament Lobbying betrieben, um ihren Anteil an den Einnahmen aus dem Internet zu erhöhen (25). Sie führen das Argument ins Treffen, dass sie die erforderlichen Kapitalinvestitionen zur Bereitstellung der Hochgeschwindigkeits-Breitbandnetze, die Europa braucht, nur durch die Erschließung neuer Einnahmequellen aus dem Abruf ihrer Inhalte finanzieren können (26).

5.1.1   Einige private Netzbetreiber, die auf dem Internetzugangsmarkt tätig sind und kurzfristige Gewinne anstreben, halten sich mit Investitionen in diesen Bereich derzeit eher zurück, da ihnen dieses Geschäft nicht ausreichend profitabel erscheint, insbesondere in Regionen in Randlage.

5.2   Allerdings treten dank der EU-Investitionsförderung für den Ausbau der Hochgeschwindigkeits-Breitbandnetze (27) und der interessanten Wachstumsraten bei der Breitbandnachfrage neue Infrastrukturbetreiber auf dem Internetzugangsmarkt auf. Mit der Entstehung eines wettbewerbsfähigeren Marktes für Breitbandinfrastruktur hat die Entwicklung neuer Technologien für terrestrische und drahtlose Breitbandanschlüsse auch positive Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Breitband und die Kosten für seine Bereitstellung. So werden derzeit Großprojekte zur Bereitstellung von Hochgeschwindigkeits-Internetanschlüssen insbesondere im ländlichen Raum durchgeführt, bei denen die digitale Dividende im Zuge des Analog-Digital-Umstiegs genutzt wird.

5.3   Die Vorschläge einiger Internetdiensteanbieter, ihre Geschäftsmodelle durch eine Nichtberücksichtigung des Grundsatzes der Netzneutralität zu ändern, sind problematisch, da sie zu einem Anstieg der Kosten für Internetinhalte und -dienste und einer Verringerung der Offenheit des Internet führen.

5.3.1   Wird der Grundsatz der Netzneutralität untergraben, d.h. können Internetdiensteanbieter den Datenverkehr zwischen Kunden und Diensteanbietern „besteuern“, drosseln oder sperren, werden die Kosten für Internetdienste in Europa steigen, was wiederum verheerende Folgen für Innovation, Wachstum und Beschäftigung sowie die Europa-2020-Strategie hätte.

5.3.2   Auch die Verwirklichung der Ziele des Weltgipfels über die Informationsgesellschaft (WSIS), die in Genf (2003) und Tunis (2005) im Einklang mit den Millenniums-Entwicklungszielen festgelegt wurden, ist in Gefahr (28).

6.   Der Fall KPN  (29) als Anlass für ein Gesetz über Netzneutralität in den Niederlanden

6.1   In ihrer Mitteilung vom 19. April 2011 hält die Europäische Kommission fest, dass es keine ausreichenden Belege dafür gibt, dass Betreiber aus kommerziellen Beweggründen in den Datenverkehr eingreifen, um zum derzeitigen Zeitpunkt neue Rechtsvorschriften zum Schutz des Grundsatzes der Netzneutralität einzuführen.

6.2   Am 10. Mai 2011 ließ der niederländische Netzwerkservices-Anbieter KPN (30) jedoch verlauten, dass er ab Juli Zusatzgebühren für den Zugang zu bestimmten Internetanwendungen wie VoIP (Skype) und WhatsApp, das Messaging-Programm für Smartphones, erheben wollte.

6.2.1   Es wurde bekannt, dass KPN wie andere Internetprovider auch eine Technologie namens Deep Packet Inspection (DPI) (31) verwendet, um den Datenverkehr seiner Kunden zu analysieren, und die Einführung von Zusatzgebühren für VoIP-Anrufe, Datenverkehr über WhatsApp und weitere Inhalte plante, um sie einzuschränken bzw. davon zu profitieren.

6.2.2   Da es in seinem strategischen Interesse lag, den Grundsatz der Netzneutralität zu missachten, und da es keine rechtliche Verpflichtung zur Einhaltung dieses Grundsatzes gibt, hat KPN seine Absicht, bestimmte Arten des Datenverkehrs zu „besteuern“, ganz offen kundgetan.

6.3   Diese öffentliche Bekanntgabe der Maßnahmen und Absichten von KPN hat einen politischen Sturm in den Niederlanden ausgelöst. Am 22. Juni 2011 wurde im Unterhaus des niederländischen Parlaments das erste Gesetz zum Schutz der Grundsätze des offenen Internet und der Netzneutralität in Europa angenommen.

6.4   Die Absichtserklärung von KPN hat klar bewiesen, dass einige Netzbetreiber weder die Vorschriften des überarbeiten Rechtsrahmens für die elektronische Kommunikation noch die EU-Wettbewerbsvorschriften als ernstzunehmenden Schutz des Grundsatzes der Netzneutralität erachten.

7.   EU: Nun handeln oder abwarten?

7.1   In ihrer Mitteilung spricht sich die Europäische Kommission für die Option „Abwarten“ aus.

7.2   Laut der Kommissionsmitteilung wird die Umsetzung des überarbeiteten Rechtsrahmens in nationales Recht ausreichend Schutz für den Grundsatz des offenen Internet bieten. Sollte dann ein Betreiber gegen dieses Recht verstoßen, verfügen die nationalen Regulierungsbehörden über klare Befugnisse, um entschieden zu handeln.

7.3   Allerdings wäre es der Kommissionsmitteilung zufolge nicht erforderlich, den Grundsatz der Netzneutralität durchzusetzen. Im Gegenteil: Die Europäische Kommission schlägt vor, dass ein wettbewerbfähiger Markt für Breitbandanschlüsse in Verbindung mit den im überarbeiteten Rechtsrahmen enthaltenen Vorschriften für Transparenz und Anbieterwechsel ausreichen sollten.

7.4   In der Kommissionsmitteilung ist festgehalten, dass erst abgewartet werden sollte, ob die geltenden Rechtsvorschriften und der Wettbewerb einen angemessenen Schutz des Grundsatzes der Netzneutralität gewährleisten. Die Umsetzung von Ad-hoc-Vorschriften zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde die Entwicklung der europäischen Internet-Wirtschaft beeinträchtigen, da sie Investoren abschrecken oder die Entwicklung neuer innovativer Geschäftsmodelle verhindern würde.

7.5   Die Befürworter dieser Haltung verweisen auf den wettbewerbsfähigen europäischen Markt für Internetdienste. Sie führen ins Treffen, dass unzufriedene Kunden einen anderen Internetprovider wählen werden, wenn ihr Netzbetreiber diskriminierende Preise für die Übertragung von Inhalten verlangt.

7.5.1   Bei dieser Argumentation werden jedoch die echten Schwierigkeiten, mit denen viele Kunden bei einem Wechsel des Anbieters (32) konfrontiert sind, und die verheerenden Folgen eines gemeinsamen Vorgehens seitens der größten Internetdiensteanbieter unterschätzt, wenn sie gemeinsam die Erhebung diskriminierender Gebühren für die Bereitstellung von Inhalten beschließen.

7.6   Derzeit erwerben 61 % aller EU-Haushalte, die über einen Internetzugang verfügen, diesen als Teil eines Leistungspakets für Internet, Telefon und Fernsehen. Außerdem haben 92 % der Haushalte mit einem derartigen Leistungspaket keinen Anbieterwechsel vorgenommen, auch wenn 36 % dies zumindest einmal in Erwägung gezogen haben (33). Durch schlaues Marketing bauen die Internetdiensteanbieter ihre Marktmacht immer weiter aus, was wiederum das Verhalten der Kunden in Bezug auf den Anbieterwechsel beeinträchtigt. Kurz, schlaues Marketing ist der Macht der Verbraucher abträglich. Durch schlaues Marketing werden die Internetdiensteanbieter ihre Stellung weiter ausnutzen und ungestraft mit Praktiken davonkommen, die dem Grundsatz der Netzneutralität widersprechen. Sie können so überzogene Gewinne einfahren, wohingegen Wettbewerb und Innovation geschwächt werden – es sei denn, sie werden per Gesetz daran gehindert.

7.7   Die Bewertung der Wirksamkeit der neuen Vorschriften zur elektronischen Kommunikation wird jedenfalls recht zeitaufwändig sein.

7.7.1   Angesichts der Dauer der Planung, Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften in allen 27 Mitgliedstaaten und des offenbar sehr zügigen Vorgehens der Internetdiensteanbieter bei der Einführung neuer Geschäftsmodelle könnte die Netzneutralität bereits nicht mehr von Belang sein, bis neue Rechtsvorschriften zu Papier gebracht werden.

7.8   Wie in seiner früheren Stellungnahme zum Thema „Proaktives Recht: ein weiterer Schritt zu einer besseren Rechtsetzung auf EU-Ebene (34) beschrieben, schlägt der Ausschuss einen anderen, proaktiven Ansatz vor, der in erster Linie auf dem Vorbeugungs- und dem Vorsorgeprinzip beruht. Er begrüßt die jüngsten öffentlichen Äußerungen von Kommissionsmitglied Neelie KROES, in denen sie diesen Ansatz offenbar unterstützt.

7.9   Gemäß diesem Ansatz sollten die Grundsätze des offenen Internet und der Netzneutralität als Bekräftigung der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthaltenen Bürgerrechte in den EU-Rechtsvorschriften eindeutig definiert und verankert werden.

7.10   Die Europäische Kommission sollte die Grundsätze für ein offenes und neutrales Internet nach sorgfältiger Abwägung der verschiedenen Formulierungen und Anhörung aller Interessenträger und unter Berücksichtigung des technischen Fortschritts („State of the Art“) in diesem Bereich ausarbeiten.

7.11   Obwohl der Grundsatz des offenen Internet mehr oder weniger korrekt durch Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe a) und Artikel 8 Absatz 4 Buchstabe g) der Rahmenrichtlinie (35) in Verbindung mit Erwägungsgrund 28 der Richtlinie „Rechte der Bürger“ (36) abgedeckt ist, so könnte er doch ausdrücklicher und klarer formuliert werden. Der Grundsatz der Netzneutralität ist jedoch in keiner EU-Rechtsvorschrift gesondert geregelt. Er wird auch nicht angemessen durch eine Kombination aus Vorschriften abgedeckt.

7.12   Nach Meinung des Ausschusses, der sich dabei vor allem auf die Grundsätze der norwegischen Leitlinien für Netzneutralität (37), die Antwort des Europäischen Verbraucherbunds (BEUC) auf die Konsultation der Europäischen Kommission zur Netzneutralität (38), die Entschließung zur Netzneutralität des Transatlantischen Verbraucherdialogs (TACD) (39) und das vor Kurzem angenommene einschlägige niederländische Gesetz (40) stützt, sollten zumindest folgende Aspekte in der Definition dieser Grundsätze berücksichtigt werden:

i.

Freiheit und Qualität des Internetzugangs

Die Europäische Kommission sollte eine gemeinsame EU-Norm für die „Mindestanforderungen für die Qualität der Dienste“ gemäß den Grundsätzen des allgemeinen Interesses vereinbaren und sicherstellen, dass ihre Einhaltung wirksam überwacht wird.

ii.

Nichtdiskriminierung zwischen Datenverkehrsflüssen

Ganz allgemein dürfen die einzelnen Datenverkehrflüsse nicht unterschiedlich behandelt werden, weder in Bezug auf den Inhalt, den Dienst, die Anwendung des Geräts noch hinsichtlich der Adresse, von der die Daten gesendet werden oder an der die Daten empfangen werden. Dies betrifft alle Punkte im Netz, einschl. Schnittstellen.

Eventuelle Ausnahmen müssen im Einklang mit den Leitlinien, die in Empfehlung iii) enthalten sind, stehen.

iii.

Überwachungsmechanismen für das Datenverkehrsmanagement

In Anbetracht der Tatsache, dass es Ausnahmen von den in Empfehlungen i) und ii) genannten Grundsätzen gibt, und um mögliche Abweichungen von diesen Grundsätzen einzuschränken, müssen die Internetprovider, wenn sie Datenverkehrsmanagementmechanismen zur Gewährleistung der Qualität des Internetzugangs anwenden, die allgemeinen Grundsätze von Relevanz, Verhältnismäßigkeit, Effizienz, Nichtdiskriminierung zwischen den Parteien und Transparenz einhalten.

iv.

„Managed Services“

Damit alle Akteure weiterhin innovativ sein können, müssen die Betreiber von elektronischen Kommunikationsdiensten neben dem Internetzugang auch so genannte „Managed Services“, also Betreibermodelle oder Betreiberlösungen, anbieten können, sofern diese Dienste die Qualität des Internetzugangs nicht unter ein bestimmtes zufriedenstellendes Niveau drücken und die Verkäufer im Einklang mit den geltenden Wettbewerbsvorschriften und sektorspezifischen Rechtsvorschriften handeln.

v.

Erhöhte Transparenz für die Endnutzer und einheitliche Informationen

Es müssen klare, präzise und einschlägige Informationen über die Dienste und Anwendungen betreffend Dienstqualität, mögliche Einschränkungen und Datenverkehrsmanagement vorliegen, die über einen Internetprovider zugänglich sind. Die Europäische Kommission sollte die Transparenz für die Verbraucher sicherstellen, einschl. präzise Informationen über Modalitäten und Bedingungen, das Recht auf Nutzung jedweder rechtmäßigen Anwendung und die Möglichkeiten für einen Anbieterwechsel. Sie sollte außerdem den Dialog zwischen Industrie und nationalen Regulierungsbehörden sowie effektive Koregulierungsmechanismen unter ihrer Aufsicht fördern, um EU-weit Transparenzvorschriften und einheitliche Informationen zu vereinbaren.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. L 337 vom 18.12.2009.

(2)  KOM(2010) 245 endg. vom 26.8.2010.

(3)  http://ec.europa.eu/information_society/policy/ecomm/library/public_consult/net_neutrality/index_en.htm#consultation.

(4)  http://ec.europa.eu/information_society/policy/ecomm/library/public_consult/net_neutrality/index_en.htm#summit.

(5)  Drosseln: Ein Internetdiensteanbieter kann die Bandbreite drosseln, um die Geschwindigkeit eines bestimmten Kundendienstes für eine bestimmte Art des Datenverkehrs zu verringern. Das GEREK berichtete von Einschränkungen der Geschwindigkeit („Drosseln“) von Peer-to-Peer-File-Sharing oder Video-Streaming durch bestimmte Anbieter in Frankreich, Griechenland, Ungarn, Litauen, Polen und dem Vereinigten Königreich. Sperren: Ein Internetdiensteanbieter kann eine IP-Adresse für spezifische Websites sperren, um den Zugang seiner Internetkunden zu bestimmten Anwendungen und Diensten zu blockieren. Das GEREK berichtete von Sperren oder der Erhebung zusätzlicher Gebühren für die Erbringung von VoIP-Diensten in Mobilfunknetzen durch bestimmte Mobilfunkbetreiber in Österreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Portugal und Rumänien.

(6)  Artikel 20 Absatz 1 Buchstabe b) der Universaldienst-Richtlinie, geändert durch die Richtlinie 2009/136/EG („Rechte der Bürger“).

(7)  Artikel 21 Absatz 3 Buchstabe c) und d) der Universaldienst-Richtlinie, geändert durch die Richtlinie 2009/136/EG („Rechte der Bürger“).

(8)  Erwägungsgrund 47 der Richtlinie 2009/136/EG („Rechte der Bürger“).

(9)  Artikel 22 Absatz 3 der Universaldienst-Richtlinie, geändert durch die Richtlinie 2009/136/EG („Rechte der Bürger“).

(10)  Am 19. Juli 2011 eröffnete die Europäische Kommission Vertragsverletzungsverfahren gegen 20 Mitgliedstaaten aufgrund der Nichtumsetzung des überarbeiteten Rechtsrahmens in nationales Recht.

(11)  Richtlinie 2002/21/EG, geändert durch Richtlinie 2009/140/EG vom 25. November 2009 (ABl. L 337 vom 18.12.2009).

(12)  Eine API-Schnittstelle (application programming interface) ist ein Programmiercode zwischen zwei Softwareprogrammen, damit diese miteinander kommunizieren und zusammenarbeiten können.

(13)  So werden mit der so genannten „großen chinesischen Firewall“ die Internetlinks zum Rest der Welt und der Datenverkehr streng überwacht und viele Websites oder Dienste gesperrt. Andere Länder wie Iran, Kuba, Saudi-Arabien und Vietnam verfolgen eine ähnliche Politik, und weitere Regierungen kontrollieren immer strenger, was ihre Bürger im Internet sehen oder tun dürfen.

(14)  Die Nutzer von Apple-Mobilgeräten greifen auf viele Internetdienste über kleine, herunterladbare Softwareprogramme oder Apps und nicht länger über einen Webbrowser zu. Da Apple seinen Kunden vorschreibt, welche Apps auf seinen Geräten erlaubt sind, ist das Unternehmen zu einem „Gatekeeper“ geworden. Da Apps immer weiter verbreitet sind, nicht nur für Mobilgeräte, sondern auch für Fahrzeuge und Fernseher, werden andere Unternehmen nachziehen. Siehe The Economist, 2. September 2010.

(15)  Internetdiensteanbieter und Telekommunikations-Netzbetreiber suchen nach neuen Einnahmequellen und nutzen Technologien, um zwischen den verschiedenen Arten des Online-Datenverkehrs in ihren Netzen zu unterscheiden, um Zusatzgebühren zu verlangen oder bestimmte Dienste zu benachteiligen oder gar zu sperren.

(16)  In ihrer Antwort auf die öffentliche Konsultation der Europäischen Kommission führte das GEREK drei Hauptbedenken im Hinblick auf künftige Entwicklungen auf: 1.) mögliche Wettbewerbsverzerrungen aufgrund des Umfangs der Preisdiskriminierung durch die Nutzung von Techniken wie Deep Packet Inspection (DPI) in Verbindung mit wirtschaftlichen Anreizen und dem Potenzial für eine vertikale Integration; 2.) das Potenzial für längerfristige negative Auswirkungen auf die Internet-Wirtschaft (auf Innovation, Meinungsfreiheit usw.); 3.) Verwirrung bzw. Schädigung der Verbraucher aufgrund mangelnder Transparenz.

(17)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses „Elektronische Kommunikationsnetze“ (TEN/327-329), CESE 984/2008, 29. Mai 2009, Berichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER, insbesondere Ziffer 1.1. 1.27 und 4.4; Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Zugang zu Breitbandverbindungen für alle: Überlegungen zum Umfang des Universaldienstes im Bereich der elektronischen Kommunikation“ (TEN/353), CESE 1915/2008, 3. Dezember 2008, Berichterstatter: Raymond Hencks, insbesondere Ziffer 1.5; Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses „Eine Digitale Agenda für Europa“ (TEN/426), CESE 12628/2010, 13. Dezember 2010, Berichterstatter: Thomas MCDONOGH, insbesondere Ziffer 1.6, 1.9 und 4.5; Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Binnenmarktakte“ (INT/548), CESE 525/2011, 15. März 2011, Berichterstatter: Benedicte FEDERSPIEL, Martin SIECKER, Ivan VOLEŠ; und insbesondere die vor Kurzem verabschiedete Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Verbesserung der digitalen Kompetenzen, Qualifikationen und Integration“ (TEN/453), CESE 669/2011, Berichterstatterin: Laure BATUT.

(18)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über das erste Programm für die Funkfrequenzpolitik“ und zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Europäische Breitbandnetze: Investition in ein internetgestütztes Wachstum“, CESE 362/2011 (TEN/434-435).

(19)  „Eine Digitale Agenda für Europa“, KOM(2010) 245 endg.

(20)  KOM(2010) 2020 end.

(21)  Siehe McKinsey Global Institute: „Internet matters: The Net's sweeping impact on growth, jobs, and prosperity“, Mai 2011.

(22)  Siehe McKinsey Global Institute: „Internet matters: The Net's sweeping impact on growth, jobs, and prosperity“, Mai 2011, http://www.mckinsey.com/mgi/publications/internet_matters/pdfs/MGI_internet_matters_full_report.pdf.

(23)  Eurostat (Eurostat Jahrbuch 2010, http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/publications/eurostat_yearbook_2010).

(24)  Siehe die Mitteilung „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte“ (KOM(2010) 608 endg./2, 11.11.2010) und die Mitteilung „Binnenmarktakte: Zwölf Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen – Gemeinsam für neues Wachstum“ (KOM(2011) 206 endg., 13.4.2011), Ziffer 2.7.

(25)  Vier der größten europäischen Internetdiensteanbieter, Deutsche Telekom, France Telecom, Telecom Italia und Telefónica, haben eine Studie in Auftrag gegeben, um ihre Argumente zu untermauern. A.T. KEARNEY: „A Viable Future Model for the Internet“, 2010.

(26)  Die größten europäischen Internetdiensteanbieter argumentieren, dass ihre Kapitalrendite durch eine Aufrüstung ihrer Netze, um auf die für 2014 prognostizierte Breitband-Nachfrage zu reagieren, ohne zusätzliche Einnahmen um 3 Prozentpunkte auf ca. 9 % sinken würde. A.T. KEARNEY: „A Viable Future Model for the Internet“. 2010.

(27)  Siehe „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über das erste Programm für die Funkfrequenzpolitik“ (KOM(2010) 471 endg.), Mitteilung „Europäische Breitbandnetze: Investition in ein internetgestütztes Wachstum“ (KOM(2010) 472 endg.), Empfehlung der Kommission über den regulierten Zugang zu Zugangsnetzen der nächsten Generation (NGA) (2010/572/EU, siehe http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2010:251:0035:0048:DE:PDF); siehe auch Anzeiger zur Digitalen Agenda (Digital Agenda Scoreboard) (SEK(2011) 708 endg. vom 31.5.2011, nur auf EN verfügbar).

(28)  Siehe „Monitoring the WISIS Targets A mid-term review“ (World Telecommunication/ICT Development Report 2010, ITU, Genf, 2010).

(29)  KPN ist ein niederländisches Telekommunikationsunternehmen mit Interessen in zahlreichen europäischen Ländern. KPN ist der größte Internetdiensteanbieter in den Niederlanden; seine Einnahmen beliefen sich 2010 auf 13,4 Mrd. EUR, sein Gewinn auf 1,8 Mrd. EUR.

(30)  Siehe Webcast der KPN Investor Day: Group Strategy: http://pulse.companywebcast.nl/playerv1_0/default.aspx?id=12193&bb=true&swf=true.

(31)  Deep Packet Inspection (DPI) wird von Internetdiensteanbietern verwendet, um das Datenpaket an einem Inspektionspunkt im Detail zu analysieren. Dieses Verfahren (und Filtern) ermöglicht Netzmanagement, Nutzerdienste und Sicherheitsfunktionen auf einer höheren Ebene, aber auch Data-Mining, Abhören, Zensur usw.

(32)  Laut einer Untersuchung der britischen Regulierungsbehörde Ofcom zum Anbieterwechsel im Vereinigten Königreich vom 10. September 2010 erachten 45 % der Breitbandkunden den Wechsel zu einem anderen Anbieter als „zuviel Aufwand“. Kaum ein Kunde wechselt den Anbieter, weil sein Anbieter einen oder zwei seiner Internetdienste sperrt oder zu hohe Gebühren verrechnet (http://stakeholders.ofcom.org.uk/binaries/consultations/consumer-switching/summary/switching.pdf).

(33)  Für sämtliche Daten siehe „E-Communications Haushaltsumfrage“, Eurobarometer Spezial 362, Juli 2011, http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_362_de.pdf.

(34)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Proaktives Recht: ein weiterer Schritt zu einer besseren Rechtsetzung auf EU-EbeneABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 26.

(35)  Richtlinie 2002/21/EG, geändert durch die Richtlinie 2009/140/EG vom 25. November 2009 (ABl. L 337 vom 18.12.2009).

(36)  Richtlinie 2009/136/EG.

(37)  Leitlinien für Netzneutralität, 2009: http://www.npt.no/ikbViewer/Content/109604/Guidelines%20for%20network%20neutrality.pdf.

(38)  Verbraucher sollten ein Recht haben auf

1.

einen Internetzugang, dessen Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit den Werbeankündigungen entspricht;

2.

einen Internetzugang, der es ihnen ermöglicht:

a.

Inhalte ihrer Wahl zu verschicken und zu empfangen;

b.

Dienste und Anwendungen ihrer Wahl zu verwenden;

c.

Hardware und Software ihrer Wahl zu nutzen, die das Netz nicht beeinträchtigen.

3.

einen diskriminierungsfreien Internetzugang in Bezug auf Art der Anwendung, des Dienstes oder des Inhaltes sowie die Sender- und Empfängeradresse;

4.

Wettbewerb zwischen Netz-, Anwendungs-, Dienste- und Inhalteanbieter;

5.

Informationen über die Netzmanagementpraktiken ihres Netzbetreibers. (http://ec.europa.eu/information_society/policy/ecomm/doc/library/public_consult/net_neutrality/comments/08industry_social_consumer_orgs_ngos_etc/beuc.pdf).

(39)  Entschließung des TACD von April 2010 (Dok.-Nr.: INFOSOC 42-09).

(40)  Inoffizielle englische Übersetzung: https://www.bof.nl/2011/06/15/net-neutrality-in-the-netherlands-state-of-play/.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/146


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Weißbuch: Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum — Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“

KOM(2011) 144 endg.

2012/C 24/32

Berichterstatter: Pierre-Jean COULON

Mitberichterstatter: Stefan BACK

Die Europäische Kommission beschloss am 28. März 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Weißbuch: Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum — Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem

KOM(2011) 144 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 7. Oktober 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 170 gegen 3 Stimmen bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt ganz allgemein das Weißbuch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“ (in der Folge „der Fahrplan“). Die in diesem Fahrplan dargelegte Strategie deckt sich großteils mit den Empfehlungen, die der Ausschuss in früheren Stellungnahmen ausgesprochen hat. In Bezug auf einige Bereiche möchte der Ausschuss jedoch gewisse Vorbehalte äußern.

1.2

Der Ausschuss stimmt der Auffassung zu, dass das Ziel einer Senkung der Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor um 60 % bis 2050 zwar sehr ehrgeizig ist, aber auch im Einklang mit den übergeordneten Zielen der EU-Klimapolitik steht und einen vernünftigen Mittelweg zwischen der notwendigen raschen Verringerung der Treibhausgasemissionen und dem Zeitbedarf für die Optimierung der Energieeffizienz in einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum und die Entwicklung neuer und nachhaltiger Kraftstoffe und Antriebssysteme zur Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Kraftstoffen darstellt.

1.3

Der Ausschuss sieht eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Zielen, den Möglichkeiten für ihre Verwirklichung und der hierfür erforderlichen Finanzierung. Er empfiehlt eine bessere Verknüpfung zwischen den strategischen Maßnahmen (bis 2050) und den konkreteren und kurzfristigeren Maßnahmen (2020-2030) des Fahrplans.

1.4

Wie in dem Fahrplan zu Recht betont wird, erfordert ein höherer Marktanteil von alternativen Verkehrsträgern erhebliche Infrastrukturinvestitionen. Im Mittelpunkt des Fahrplans steht in erster Linie allerdings die Finanzierung des künftigen TEN-V-Kernnetzes, wobei zahlreiche Möglichkeiten zur Aufbringung zumindest eines Teils der erforderlichen Mittel skizziert werden. Straßenbenutzungsgebühren und Privatfinanzierung sind jedoch nicht in allen Fällen gangbare Lösungen. Diese Anmerkungen gelten auch für Infrastruktur insgesamt, einschl. der nach wie vor notwendigen Straßeninfrastruktur und ihrer Wartung. Der Ausschuss empfiehlt, in dem mehrjährigen Finanzrahmen nach 2013 ausreichend Mittel für die Verkehrsinfrastruktur bereitzustellen. Mit Blick auf künftige Vorhaben müssen die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen ihre Planungs- und Priorisierungskriterien besser koordinieren und dabei auch die Modernisierung der bestehenden Infrastruktur berücksichtigen.

1.5

Der Ausschuss befürwortet die Gestaltung einer Strategie für einen effizienten und wirklich nachhaltigen europäischen Verkehr, die den wirtschaftlichen, ökologischen, aber auch den sozialen Herausforderungen Rechnung trägt. Der soziale Dialog muss bei den Entwicklungen in Bezug auf sämtliche Verkehrsträger stärker berücksichtigt und ausgebaut werden. Der Ausschuss nimmt den Verweis auf „Mindestverpflichtungen“ in dem Fahrplan zur Kenntnis. Dieser Punkt muss jedoch in den Tarifverhandlungen in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU geregelt werden. Der EWSA teilt die Ansicht der Europäischen Kommission, dass der soziale Dialog zur Vermeidung sozialer Konflikte von grundlegender Bedeutung ist, unbeschadet des Rechts der Arbeitnehmer auf kollektive Maßnahmen gemäß Artikel 151 AEUV.

1.6

Neben der Schwerpunktsetzung auf die Schaffung günstiger Bedingungen für qualitativ hochwertige Arbeitsplätze im Verkehrssektor sollten auch Maßnahmen vorgeschlagen werden, um das Bildungsangebot auszubauen und die Marktakteure in ihren Bemühungen zu unterstützen, neue Arbeitskräfte einzustellen. Insgesamt kommt die soziale Dimension in dem Fahrplan zu kurz.

1.7

Die Möglichkeit eines CO2-armen bzw. freien Straßengüterverkehrs wird in dem Fahrplan eher pessimistisch eingestuft. Neben der Entwicklung neuer Antriebssysteme und Kraftstoffe sollten in dem Fahrplan möglicherweise auch Maßnahmen stärker gefördert werden, mit denen der Straßengüterverkehr ohne Gesamtkapazitätseinbußen mittels e-Freight-Initiativen, besserer Logistikketten und Fahrzeuge sowie der Entwicklung „grüner“ Korridore optimiert und die Zahl der Fahrten verringert werden kann.

1.8

Obwohl der Fahrplan auf dem Grundsatz der Kombination von Verkehrsträgern (einem Element der Ko-Modalität) beruht, werden sehr wohl spezifische Ziele für die Verkehrsverlagerung betreffend den Straßengüterverkehr vorgeschlagen (und zwar eine Verlagerung von 30 % des Straßengüterverkehrs über 300 km bis 2030 auf andere Verkehrsträger wie Eisenbahn- oder Schiffsverkehr und von mehr als 50 % bis 2050). Diese vorgeschlagene Patentlösung entbehrt jeglicher wissenschaftlichen Grundlage, und weder der Fahrplan noch die Folgenabschätzung enthalten eine Begründung für diesen Schwellenwert.

1.9

In dem Fahrplan wird eine stärkere Marktöffnung, insbesondere im Schienenverkehr, empfohlen. Nach Meinung des Ausschusses sollte zunächst Bilanz über die in den einzelnen Mitgliedstaaten durchgeführten Reformen gezogen werden, vor allem über die Modalitäten für die Trennung zwischen Fahrweg und Betrieb und ihre Folgen für ein höheres Passagier- und Frachtaufkommen auf der Schiene, die Sicherheit, die Beschäftigung, die Dienstequalität, die Produktionskosten und ihre Erschwinglichkeit für die Reisenden.

1.10

In dem Fahrplan wird die obligatorische Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge im Rahmen von Ausschreibungen vorgeschlagen. Der Ausschuss erwartet, dass die Europäische Kommission vor der Veröffentlichung einschlägiger Vorschläge und spätestens sechs Monate nach dem Stichtag 3. Dezember 2014 gemäß Artikel 8 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 einen Bericht über ihre Durchführung vorlegt.

1.11

Der Ausschuss verweist auf die Bedeutung des öffentlichen Stadtverkehrs im Rahmen einer nachhaltigen Verkehrspolitik. Es gilt, effiziente, sichere, erschwingliche und wettbewerbsfähige öffentliche Nahverkehrsdienste zu entwickeln, die mit dem Individualverkehr konkurrieren können. Dies ist umso wichtiger, als die positiven Auswirkungen auf Emissionen, Lärmbelastung und Verkehrsüberlastung klar auf der Hand liegen. Der Ausschuss spricht sich daher dafür aus, dass die Europäische Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips Ziele für den Ausbau des öffentlichen Stadtverkehrs für die Mitgliedstaaten festlegt und Mittel aus den Strukturfonds und dem Kohäsionsfonds bereitstellt, um seine Entwicklung und Modernisierung zu fördern und das Beobachtungszentrum für urbane Mobilität funktionstüchtiger zu machen.

1.12

Abschließend wird in dem Fahrplan auch der Güterstadtverkehr angesprochen, allerdings mehr als Randbemerkung und ohne Nachdruck. Die Europäische Kommission hätte die Relevanz und die Machbarkeit der Gestaltung eines gemeinsamen Konzepts und der Vorlage verbindlicher Rechtsvorschriften in diesem Bereich beleuchten können, da die Feinverteilung für den freien Warenverkehr im Binnenmarkt und die Förderung nachhaltiger Verkehrsträger von großer Bedeutung sind.

2.   Einleitung

2.1

Mit den Weißbüchern aus den Jahren 1992 und 2001 sollte der Verkehr u.a. durch eine Verkehrsverlagerung von der Straße auf umweltfreundlichere Verkehrsträger wie See-, Binnenschiffs- und Schienenverkehr, die Förderung umweltfreundlicher Lösungen, die Anlastung der echten Kosten für die Gesellschaft im Zuge der Internalisierung der externen Kosten und durch Anstrengungen zur Senkung des Verkehrsbedarfs mittels effizienter Planung nachhaltiger gestaltet werden.

2.2

Im Laufe der Zeit und insbesondere im Zuge der „Halbzeitbilanz zum Verkehrsweißbuch der Europäischen Kommission von 2001“ aus dem Jahr 2006 hat sich der Schwerpunkt allerdings verlagert. Nunmehr wird mehr Gewicht auf Ko-Modalität, effiziente multimodale Transportketten und angemessene Infrastruktur- und Unterstützungssysteme gelegt, um den ökologischen Fußabdrucks des Verkehrs zu verringern.

2.3

Dieser neue Fahrplan unterscheidet sich in seiner Reichweite von den früheren Weißbüchern, da er sich über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten bis 2050 erstreckt, wobei er einige kurzfristigere Ziele für 2020 und 2030 umfasst. Außerdem ist klar festgehalten, dass die Einschränkung von Mobilität keine Option ist. Der Fahrplan enthält dennoch ehrgeizige Ziele in den Bereichen Nachhaltigkeit, insbesondere in Bezug auf Energieeffizienz, Verringerung der Ölabhängigkeit, Senkung der Treibhausgasemissionen und technologische Entwicklung.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss begrüßt diesen Fahrplan als sinnvollen Beitrag zur Gestaltung eines effizienten und nachhaltigen Verkehrssystems in Europa. Die in diesem Fahrplan dargelegte Strategie deckt sich großteils mit den Empfehlungen, die der Ausschuss in früheren Stellungnahmen ausgesprochen hat.

3.2

Der Ausschuss bedauert, dass die Liste der vorgeschlagenen Maßnahmen nur sehr wenige Fristvorgaben für deren Umsetzung enthält. Einige Fristen könnten aus dem Vergleich mit der Liste der zehn Ziele in Ziffer 2.5 des Fahrplans abgeleitet werden, doch wäre dies letztlich reine Spekulation. Konkret werden in dem Fahrplan strategische Maßnahmen (bis 2050) und taktische Maßnahmen (die bereits jetzt angenommen werden können) nicht deutlich genug miteinander verknüpft. So sollte insbesondere ein detaillierterer Arbeitsplan für den Zeitraum 2013-2020 erstellt werden.

3.3

Der Ausschuss weiß um die grundlegende Rolle des Verkehrs als Faktor für Wettbewerb und Wohlstand und die Notwendigkeit, ein integriertes europäisches Verkehrssystem zu schaffen, die Nachhaltigkeit zu verbessern sowie CO2-arme Verkehrsträger, Energie- und Ressourceneffizienz, Sicherheit, Versorgungsunabhängigkeit und Verringerung der Verkehrsüberlastung zu fördern. Er befürwortet den Stellenwert, der optimierten multimodalen Logistikketten und einer effizienteren Nutzung der Verkehrsinfrastruktur beigemessen wird. Er befürwortet gleichfalls die stärkere Ausrichtung des Fahrplans auf marktbestimmte Maßnahmen im Vergleich zu den früheren Weißbüchern.

3.4

In früheren Stellungnahmen hat der Ausschuss auch klare und konkrete Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele gefordert. Vor diesem Hintergrund könnte dieser Fahrplan in Bezug auf zahlreiche Aspekte als wichtiger Forschritt erachtet werden, beginnend mit der allgemeinen Aussage in Ziffer 13, dass keine angemessenen Ergebnisse betreffend Ölabhängigkeit, CO2-Ausstoß, Zugänglichkeit und gesellschaftliche Kosten von Unfällen und Lärmbelastung erreicht werden können, wenn alles beim Alten bleibt.

3.5

Die meisten der geplanten Initiativen sind direkt auf die Schaffung eines komodalen Verkehrssystems in einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum ausgerichtet. Diese Schwerpunktsetzung auf die Ko-Modalität ist sinnvoll. Der Ausschuss betont, dass das Konzept der Ko-Modalität, das dem Fahrplan zugrunde liegt, die Optimierung der einzelnen Verkehrsträger sowie ihres Verbundes bedeutet. Zu einigen der beabsichtigten Maßnahmen sind allerdings Anmerkungen vorzubringen.

3.6

In dem Fahrplan werden sehr ehrgeizige Ziele für die Ökologisierung des Verkehrssystems gesetzt, doch zeigt die Europäische Kommission nicht auf, wie diese Ziele in der Praxis erreicht werden können und wie viel dies kosten wird. Der Ausschuss sieht diese Diskrepanz zwischen den Zielen, den Möglichkeiten für ihre Verwirklichung und der hierfür erforderlichen Finanzierung mit Sorge.

3.7

Das langfristige Ziel einer Senkung der CO2-Emission im Verkehrswesen um 60 % bis 2050 ist sehr ehrgeizig. Es könnte sich als Herzstück der technischen und politischen Entwicklung im Verkehrssektor erweisen, wenn es für die absehbare Zukunft beibehalten wird.

3.8

Der Ausschuss stimmt der Auffassung zu, dass dieses Emissionsziel im Einklang mit der allgemeinen Klimapolitik der EU steht und einen guten Mittelweg zwischen der von der Gesellschaft geforderten raschen Verringerung der Treibhausgasemissionen und der Möglichkeit bietet, rasch alternative Kraftstoffe einzuführen, damit das Verkehrswesen weiterhin seinen wichtigen Beitrag zur EU-Wirtschaft leisten kann. Der Ausschuss schlägt vor, dieses langfristige Ziel des Fahrplans um weitere spezifischere messbare mittelfristige Ziele zu ergänzen, die auf die Verringerung der Ölabhängigkeit, den Abbau der Lärmbelastung und die Eindämmung der Luftverschmutzung ausgerichtet sind.

3.9

Der Ausschuss hält fest, dass die Europäische Kommission in Ziffer 18 ihres Fahrplans ganz klar betont, dass „die Einschränkung von Mobilität keine Option [ist].“ Nach Ansicht des Ausschuss darf diese Aussage nicht falsch interpretiert werden, d.h. als Aussage gegen Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz des Verkehrs und zur Verringerung der Emissionen u.a. durch die Verkehrsoptimierung von Sendungen, bessere Logistikketten für eine höhere Auslastung und die Förderung des öffentlichen Verkehrs. Diese Maßnahmen werden in dem Fahrplan aufgelistet und vom Ausschuss ganz allgemein befürwortet. Die Aussage fördert eine Änderung der Verhaltens- und Verbrauchsmuster. Es wird kein leichtes Unterfangen, einen Mittelweg zwischen der Verwirklichung der Emissionsziele dieses Fahrplans und der Erfüllung der Beförderungsanforderungen der Gesellschaft in der EU zu finden. Daher erachtet der Ausschuss diese Aussage in Ziffer 18 für wesentlich.

3.10

In Bezug auf den Straßengüterverkehr befürwortet der Ausschuss die Bedeutung, die der effizienten Nutzung der vorhandenen Ressourcen durch die Koordinierung für kleinere Sendungen sowie der Einrichtung optimaler multimodaler „grüner“ Güterverkehrskorridore durch die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Akteuren beigemessen wird. Er betont jedoch, dass für die Verwirklichung des hochgesteckten CO2-Reduktionsziels (– 60 %) ein umfassenderes und ehrgeizigeres Maßnahmenpaket erforderlich sein könnte.

3.11

In dem Fahrplan wird auch die Notwendigkeit aufgegriffen, die Wettbewerbsfähigkeit von Verkehrsalternativen zum Straßenverkehr zu stärken. Der Ausschuss unterstützt dieses Ziel, sofern es durch die Förderung von Kapazität und Qualität des Eisenbahn-, Binnenschiff- und Kurzstreckenseeverkehrs und effiziente intermodale Dienste erreicht wird und die Entwicklung effizienter und nachhaltiger Straßenverkehrsdienste in der EU nicht behindert.

3.12

Die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten sollten alternative Verkehrsträger fördern und gleichzeitig aber auch alles daran setzen, den Straßenverkehr aus wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Sicht nachhaltiger zu gestalten. Der Ausschuss sieht die Spannungen, die aufgrund unterschiedlicher Sozialschutzbestimmungen und Entgelte auf dem Güterkraftverkehrsmarkt entstanden sind, mit Sorge. Er verweist auf die Bedeutung des sozialen Dialogs in dieser Branche und auf die wirksame Durchführung der Überwachungsmaßnahmen, die in dem Maßnahmenpaket für den Straßenverkehr enthalten sind, das am 4. Dezember 2011 in Kraft treten wird. Er fordert die Europäische Kommission auf, die Umsetzung dieses Maßnahmenpakets in den Mitgliedstaaten aufmerksam zu überwachen. Die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten müssen sämtliche erforderlichen Ressourcen für die Durchsetzung der EU-Vorschriften für den Straßenverkehr und die Überwachung ihrer Einhaltung bereitstellen. Die EU sollte außerdem Maßnahmen ergreifen, um einen fairen Wettbewerb, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und eine erhöhte Straßenverkehrssicherheit einschl. betreffend den Zugang zum Verkehrsbinnenmarkt für Güterkraftverkehrsunternehmer aus Drittländern und die möglichen Gefahren einer Wettbewerbsverzerrung zu gewährleisten.

3.13

Wie in dem Fahrplan zu Recht betont wird, erfordert ein höherer Marktanteil von alternativen Verkehrsträgern erhebliche Infrastrukturinvestitionen, wobei im Übrigen auch in die Straßenverkehrsinfrastruktur investiert werden muss. Allerdings werden in der Kommissionsvorlage keine klaren Finanzierungsmöglichkeiten skizziert. Privatinvestitionen und Infrastrukturentgelte sind kein Patentrezept. Der Ausschuss steht der Internalisierung der externen Kosten im Verkehrswesen positiv gegenüber; dies hat er auch bereits in früheren Stellungnahmen betont. Er hält es für richtig, dass gemäß dem Verursacherprinzip die echten gesellschaftlichen Kosten des Verkehrs in wirtschaftlichen Instrumenten für eine nachhaltige Ausrichtung des Marktverhaltens berücksichtigt werden. Die Einnahmen aus diesen zusätzlichen Abgaben sollten in die Entwicklung des nachhaltigen Verkehrs und die Optimierung des gesamten Verkehrssystems fließen, um eine wahrhaft nachhaltige Mobilitätspolitik zu verwirklichen. Diese Abgaben sollten strikt von Gebühren getrennt werden, die zum Zweck einer Finanzierung erhoben werden, d.h. nach dem Prinzip der Kostentragung durch die Nutzer.

3.14

In Bezug auf die Internalisierung der externen Kosten bekräftigt der Ausschuss, dass diese Maßnahme auf alle Verkehrsträgern gleichermaßen Anwendung finden muss (1). In einer vor Kurzem verabschiedeten Stellungnahme kam er zu dem Schluss, dass die EU die geltenden Gebührenerhebungssysteme im Verkehrswesen schrittweise durch effizientere marktorientierte Instrumente ersetzen muss, um die externen Kosten in die Gebührenstruktur aufzunehmen.

3.15

Der Ausschuss hegt erhebliche Zweifel daran, ob das spezifische Ziel des Fahrplans für die Verkehrsverlagerung angemessen ist, namentlich die Verlagerung von 30 % des Straßengüterverkehrs über 300 km bis 2030 auf andere Verkehrsträger wie Eisenbahn- oder Schiffsverkehr und von mehr als 50 % bis 2050. Diese vorgeschlagene Patentlösung entbehrt jeglicher wissenschaftlichen Grundlage, und weder der Fahrplan noch die Folgenabschätzung enthalten eine Begründung für diesen Schwellenwert. Außerdem würde die Umsetzung einer derartigen Lösung eine schwere Belastung zahlreicher EU-Peripherie-Staaten bedeuten, was im Widerspruch zum Grundsatz des regionalen Zusammenhalts steht. Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, diese Frage genau zu untersuchen und die erforderlichen Erklärungen zu liefern. Er hält jedoch auch fest, dass ca. 85 % des Frachtaufkommens in der EU im Nahverkehr mit Entfernungen unter 150 km anfällt, in dem es wohl auch in den kommenden Jahrzehnten keine Alternative zum Straßenverkehr geben wird.

3.16

Dies gilt auch für das Ziel, den Verkehr über mittlere Entfernungen auf die Schiene zu verlagern. Eine Erhöhung des Anteils des öffentlichen Busverkehrs erscheint eine zweckdienliche Lösung, die jedoch in dem Fahrplan nicht erwogen wird.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der Ausschuss unterstützt das TEN-V-Programm. Er betont erneut, „dass der Verkehrsinfrastrukturbedarf des erweiterten Europas größer geworden ist, weswegen Überlegungen darüber angestellt werden sollten, wie die derzeitige Politik und die zu ihrer Umsetzung vorhandenen Instrumente auf die sich abzeichnenden Herausforderungen abgestimmt werden können (2).

4.2

Der Ausschuss befürwortet die Einrichtung eines einheitlichen europäischen Luftraums als grundlegenden Faktor für die Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Luftfahrt auf dem Weltmarkt. Er fordert ein stärkeres Engagement aller Luftverkehrsakteure, um die umfassende und zügige Umsetzung der ehrgeizigen Ziele der EU für Sicherheit, Kosteneffizienz, Kapazität und Nachhaltigkeit im Luftverkehr zu gewährleisten.

4.3

Der Ausschuss bekräftigt, dass die Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums notwendig ist, damit die Schiene dauerhaft mit den anderen Verkehrsträgern konkurrieren kann. Es muss dafür gesorgt werden, dass für alle Verkehrsträger möglichst gleiche Markt- und Finanzierungsbedingungen gelten (3).

4.4

Der Ausschuss wiederholt seinen Standpunkt, dass „die Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums zu einem großen Teil von Fortschritten bei der technischen Interoperabilität abhängt (3).

4.5

In dem Fahrplan wird eine stärkere Marktöffnung im Schienenverkehr empfohlen. Bevor jedoch weitere Schritte in diese Richtung gesetzt werden können (einschl. der strukturellen Trennung zwischen Fahrweg und Betrieb) fordert der Ausschuss, eine ausgewogene Bewertung ihrer Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Schiene, die Dienstequalität, die Beschäftigung und die Produktionskosten vorzunehmen, um den äußerst unterschiedlichen Erfahrungen mit den verschiedenen Reformen in den Mitgliedstaaten angemessen Rechnung zu tragen.

4.6

Der Ausschuss verweist erneut auf die Notwendigkeit, „neue Finanzierungsquellen für die Eisenbahninfrastruktur zu erschließen“, und zwar auf der Grundlage einer objektiven Kosten-Nutzen-Analyse. Diesbezüglich verweist er auf seine vor Kurzem verabschiedete Stellungnahme zum einheitlichen europäischen Eisenbahnraum, in der er vorgeschlagen hat, über Investitionsanreize im Sinne von Vorschlag Nr. 15 „die Ausgabe privater Obligationsanleihen zur Finanzierung europäischer Projekte (‚projektbezogene Anleihen‘) zu unterstützen“ und Vorschlag Nr. 16 „prüfen, mit welchen Maßnahmen Anreize geschaffen werden können, um private – insbesondere langfristige – Investitionen im Sinne eines aktiveren Beitrags zur Verwirklichung der Ziele der Strategie ‚Europa 2020‘ zu mobilisieren“ der Mitteilung „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte“ nachzudenken. „Der EWSA (kann) der möglichen Schaffung eines einheitlichen ‚Verkehrsfonds‘ nur dann zustimmen, wenn dieser hinsichtlich sämtlicher Verkehrsträger neutral und ausgewogen ist (3).

4.7

In dem Fahrplan wird die obligatorische Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge im Rahmen von Ausschreibungen vorgeschlagen. Der Ausschuss erwartet, dass die Europäische Kommission vor der Veröffentlichung einschlägiger Vorschläge und spätestens sechs Monate nach dem Stichtag 3. Dezember 2014 gemäß Artikel 8 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 einen Bericht über ihre Durchführung vorlegt.

4.8

Der Ausschuss unterstreicht, dass die europäische Schifffahrt bei der Erbringung verschiedenster maritimer Dienstleistungen weltweit zu den Marktführern zählt. Der internationale Charakter der Schifffahrt sollte bei sämtlichen Aspekten wie freier Marktzugang, Wettbewerbsposition der europäischen Schifffahrt, Sicherheit, Umwelt und Arbeitsmarkt berücksichtigt werden.

4.9

Der Ausschuss bekräftigt seine Aufforderung an die Mitgliedstaaten, im Hinblick auf gleiche Ausgangsbedingungen auf internationaler Ebene das IAO-Übereinkommen über Mindestarbeitsnormen im Seeverkehr (MLC) zu ratifizieren, unbeschadet möglicherweise in der EU geltender strengerer Normen. Die EU-Rechtsvorschriften sollten im Einklang mit internationalen Vorschriften stehen, insbesondere dem erwähnten MLC-Übereinkommen der IAO und dem STCW-Übereinkommen der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation IMO (Internationales Übereinkommen über Normen für die Ausbildung, die Erteilung von Befähigungsnachweisen, Befähigungszeugnissen und den Wachdienst von Seeleuten).

4.10

Das im dem Fahrplan unterstützte Konzept des „Blauen Gürtels“, d.h. der Europäische Seeverkehrsraum ohne Grenzen, hebt auf den Abbau des Verwaltungsaufwands für Zollverfahren im innereuropäischen Seeverkehr ab und ist zu befürworten. Da Sozialnormen in diesem Konzept ausgeklammert sind, erwartet der Ausschuss, dass diese im Seeverkehr durch die unmittelbar bevorstehende Anwendung und Durchsetzung des MLC-Übereinkommens der IAO aus dem Jahr 2006 in den Mitgliedstaaten gefördert werden. Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, über geeignete Maßnahmen für eine Harmonisierung der Sozialnormen im EU-Binnenverkehr zu sorgen und dabei auch die Notwendigkeit gleicher Ausgangsbedingungen auf internationaler Ebene zu berücksichtigen.

4.11

In Bezug auf die Einführung eines EU-Registers und einer EU-Flagge für den See- und den Binnenschiffsverkehr sollte die Realisierbarkeit eines EU-Registers sorgfältig bewertet werden, da die Einrichtung eines derartigen Registers in Verbindung mit einer günstigeren Regelung, die Vorteile bringt (wie u.a. geringere Hafengebühren, niedrigere Versicherungskosten und weniger Inspektionen), schwierig, wenn nicht sogar unmöglich wäre. Zahlreiche Aspekte sind nämlich in internationalen Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten geregelt, die eine Klausel zur „Inländerbehandlung“ enthalten. Für die Einrichtung eines EU-Registers wäre somit eine wirtschaftliche Governance auf EU-Ebene notwendig, die es derzeit nicht gibt.

4.12

Ähnlich der Idee eines EU-Registers wird auch die Schaffung einer europäischen Küstenwache immer wieder diskutiert. Dieser Vorschlag ist in erster Linie ein Thema für die Mitgliedstaaten, da die Küstenwache in ihren ausschließlichen Zuständigkeitsbereich fällt. Da die Tätigkeiten der Küstenwache in den Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt sind, scheint die Einrichtung einer europäischen Küstenwache unnötig oder zum derzeitigen Zeitpunkt zumindest verfrüht. Es sollte vielmehr eine engere Zusammenarbeit zwischen den Küstenwachen in den einzelnen Mitgliedstaaten angestrebt werden, insbesondere in Fragen wie illegale Einwanderung und Drogenhandel. Soweit derartige Kooperationsabkommen bereits bestehen, sollten diese gestärkt werden.

4.13

Der Innovationsbedarf für die Verbesserung der Umweltleistung von Schiffen ist erheblich. Es könnte sinnvoll sein, dass die EU überprüft, ob ab 2015 spezifische Rechtsvorschriften über den Schwefelgehalt von Schiffstreibstoffen im Ost- und Nordseeraum angewendet werden sollen, wie mit den wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen dieser Maßnahmen umgegangen werden soll und welche möglichen Folgen für die Verkehrsverlagerung entstehen.

4.14

In dem Fahrplan wird die Finanzierung der Straßeninfrastruktur über Gebühren gemäß dem Prinzip der Kostentragung durch die Nutzer und Verursacher dargelegt. Es ist durchaus eine gute Geschäftsidee, eine Straße in zentraleuropäischen Gebieten mit hohem Durchgangsverkehrsaufkommen unter derartigen Bedingungen zu betreiben, in den zahlreichen Mitgliedstaaten an der EU-Außengrenze ist dies jedoch ein weitaus risikoreicheres Unterfangen. Außerdem würden hohe Straßenbenutzungsgebühren insbesondere den Güterverkehr aus den Grenzregionen bzw. in diese belasten und Wettbewerbsverzerrungen verursachen, vor allem in den weltweit konkurrierenden Industriesektoren. Die Infrastrukturfinanzierung sollte normalerweise Aufgabe des Staates oder sogar der Europäischen Union sein. Von dieser Regel kann jedoch abgewichen werden, wenn Bedingungen für private Finanzierungen gegeben sind, die für die Nutzer (einschl. einkommensschwacher Menschen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität) akzeptabel sind.

4.15

Der Ausschuss nimmt die Absicht zur Einführung liberalerer Vorschriften für Kabotage im Güterkraftverkehr zur Kenntnis. Er stimmt mit der Europäischen Kommission darin überein, dass die derzeitigen Beschränkungen eine niedrigere Auslastung und mehr Leerfahrten zur Folge haben und sich somit nicht mit der allgemeinen, in diesem Fahrplan dargelegten Politik zur Optimierung der Ressourcennutzung vertragen. Andererseits betont der Ausschuss, dass dieser Sektor noch weit von der für eine komplette Marktöffnung erforderlichen Harmonisierung der Sozial- und Steuervorschriften und deren Durchsetzung entfernt ist. Die Liberalisierung der Kabotage könnte die Probleme in Verbindung mit unterschiedlichen Entgelten und Sozialschutzbestimmungen noch verschärfen. Der soziale Dialog und eine angemessene Überwachung im Einklang mit dem Maßnahmenpaket für den Straßenverkehr, das am 4. Dezember 2011 in Kraft tritt, könnten dazu beitragen, derartige Probleme zu bewältigen. Diese sollten auch von der hochrangigen Gruppe für den Straßengüterverkehrsbinnenmarkt aufgegriffen werden, die von der Europäischen Kommission mit der Überarbeitung der Funktionsweise dieses Marktes beauftragt wurde. Der Ausschuss weist außerdem erneut darauf hin, dass die Entsenderichtlinie insbesondere auf im Kabotagedienst eingesetzte Erwerbstätige im Straßengüterverkehr umfassend angewandt werden muss (4).

4.16

Für die Erleichterung des freien Warenverkehrs und der freien Erbringung von internationalen Verkehrsdiensten ist nach Meinung des Ausschusses wesentlich, dass das europäische System für Straßenbenutzungsgebühren, mit dem das Mitführen unzähliger verschiedener Geräte und eine Vervielfachung der Belege vermieden wird, angemessen und wirksam umgesetzt wird. Der Ausschuss spricht sich für die Einrichtung einer geeigneten einzigen Anlaufstelle für die Nutzer aus.

4.17

In dem Fahrplan wird eine Halbierung der Zahl der Unfalltoten im Straßenverkehr bis 2020 angestrebt. Bis 2050 soll diese Zahl auf Null gesenkt werden. In den vor Kurzem veröffentlichten „Leitlinien für die Politik im Bereich der Straßenverkehrssicherheit 2011-2020“ wird der gewerbliche Straßenverkehr jedoch nicht berücksichtigt. Der Ausschuss empfiehlt, dass 1.) die Europäische Kommission alle Faktoren untersucht, die negative Auswirkungen auf die Straßenverkehrssicherheit haben, einschl. der Müdigkeit der Fahrer, 2.) harmonisierte und umfassende Statistiken zu den verschiedenen Aspekten von Straßenverkehrsunfällen ausgearbeitet werden, um die echten Gründe für die hohe Zahl an Straßenverkehrsunfällen zu ermitteln, 3.) sichere, geschützte, zugängliche und erschwingliche Parkplätze und Rastanlagen für Kraftfahrer entsprechend gefördert und finanziert werden, und 4.) die Straßenverkehrssicherheit als eines der wichtigsten Ziele in alle künftigen Rechtsvorschriften der EU aufgenommen wird.

4.18

Der Ausschuss begrüßt, dass der globale Kontext des Verkehrswesens berücksichtigt und darauf hingewiesen wird, dass beispielsweise Umweltnormen so global wie möglich Anwendung finden sollten.

4.19

Die mit der europäischen Forschungs-, Innovations- und Einführungsstrategie für den Verkehr verfolgten Ziele, namentlich die Förderung der Entwicklung und Einführung umweltfreundlicherer und energieeffizienterer Antriebssysteme sowie Unterstützungssysteme für Transport und Logistik, sind vielversprechend.

4.20

Der Ausschuss begrüßt außerdem die Initiative zur Entwicklung eines Strategieplans für Verkehrstechnologie in enger Abstimmung mit dem bestehenden strategischen Energietechnologie-Plan (SET-Plan), um die Forschungsergebnisse rasch auf den Markt zu bringen, sowie die laufenden Maßnahmen zur Verwirklichung der Initiative für umweltfreundliche Fahrzeuge und der Strategie für saubere und energieeffiziente Fahrzeuge.

4.21

Die Förderung der technologischen Entwicklung sowie von Maßnahmen zur Änderung des Mobilitätsverhaltens und der Güterbeförderungsplanung sind zwei Hauptaspekte des zweiten Schlüsselbereichs der Kommissionsstrategie. Die geplanten Maßnahmen stehen mit der Entwicklung eines freien Marktes im Einklang und werden daher vom Ausschuss befürwortet.

4.22

Der Ausschuss betont, dass die zur Entwicklung neuer Verhaltensmuster im Güter- und Personenverkehr vorgeschlagenen Maßnahmen der tatsächlichen Verkehrsnachfrage und, für den öffentlichen Verkehr, den gesellschaftlichen Gegebenheiten Rechnung tragen müssen. Verkehrsträgerübergreifende Fahrscheinsysteme könnten zwar eine sinnvolle Initiative sein, doch ist der Ausschuss der Ansicht, dass es sinnvoller wäre, die fortgeschrittenste Mobiltelefon-Technologie für papierloses Ticketing einzusetzen, um über Mobiltelefone, die mit NFC-Karten oder -Chips (NFC – Near Field Communication) ausgestattet sind, verschiedene Verkehrsunternehmen nutzen zu können. Es sollte eine rasche Normung der NFC-Technologie in Europa in Betracht gezogen werden, um ein reibungsloses verbund- und verkehrsmittelübergreifendes Reisen über Landesgrenzen hinweg zu ermöglichen. Mit den neuen Maßnahmen muss auch eine Senkung der Verkehrskosten sichergestellt werden.

4.23

In Bezug auf den Güterverkehr erachtet der Ausschuss die geplante Einführung eines einheitlichen Beförderungsdokuments als positiv, wenn es zur Verringerung des ohnehin schon erheblichen Verwaltungsaufwands beiträgt.

4.24

Das Augenmerk, das auf die Schaffung günstiger Bedingungen für qualitativ hochwertige Arbeitsplätze gelegt wird, ist ein wichtiges und positives Element für die künftige Entwicklung der Verkehrsindustrie. Es müssen daher Maßnahmen vorgeschlagen werden, um bei allen Verkehrsträgern das Bildungsangebot auszubauen und die Marktakteure in ihren Einstellungsbemühungen zu unterstützen.

4.25

Der Ausschuss verweist auf seine vor Kurzem verabschiedete Stellungnahme zu den „Auswirkungen der EU-Politik auf Beschäftigungschancen, Ausbildungsbedarf und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Verkehrsgewerbe“, in der er anregt, „Frauen und junge Arbeitskräfte für Verkehrsberufe zu gewinnen, und zwar durch Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsplatzqualität, der Arbeitsbedingungen, der Aus- und Weiterbildung, der Investitionen in das lebenslange Lernen, Maßnahmen zur Verbesserung der Aufstiegschancen, des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit am Arbeitsplatz sowie zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei allen Verkehrsträgern (5).

4.26

Der Ausschuss empfiehlt eine zweckdienlichere und strengere Anwendung der Regelungen für staatliche Beihilfen im Seeverkehr und insbesondere die Untersuchung einer möglichen stärkeren Koppelung der Genehmigung öffentlicher Beihilfen oder Steuerbefreiungen an Garantien im Beschäftigungsbereich, beispielsweise Ausbildungspflichten.

4.27

Der Ausschuss weist erneut auf die Notwendigkeit hin, eine Beobachtungsstelle für Sozial-, Beschäftigungs- und Ausbildungsfragen im Verkehrssektor einzurichten.

4.28

Insgesamt kommt die soziale Dimension in dem Fahrplan zu kurz. So wird insbesondere das Sozial- und Lohndumping völlig ausgeklammert, das ein ernsthaftes Problem in zumindest drei Bereichen ist, und zwar im Straßengüterverkehr, in der Binnenschifffahrt und im Seeverkehr. Die sozialen Initiativen in Anhang I des Fahrplans stehen in keinem Verhältnis zu den Herausforderungen. Über einen sozialen Dialog und die Einführung von Mindestarbeitsbedingungen, die im Fahrplan vorgeschlagen werden, können angemessene Arbeits- und gleiche Ausgangsbedingungen sichergestellt werden. Allerdings könnten spezifische Maßnahmen wie zweckgebundene staatliche Beihilfen in Branchen erforderlich sein, die direkt der Billig-Konkurrenz ausgesetzt sind. Die bevorstehende Überarbeitung der Regelungen für staatliche Beihilfen im Seeverkehr bietet eine erste Gelegenheit, um diese Beihilfen an beschäftigungs- und ausbildungsfördernde Maßnahmen zugunsten von Arbeitnehmern aus der EU und dem EWR zu koppeln.

4.29

In dem Fahrplan wird korrekterweise auf den Personen- und Güterstadtverkehr hingewiesen, da immer mehr Unionsbürger im städtischen Raum leben. Die Europäische Kommission hält fest, dass der Stadtverkehr nicht in den Zuständigkeitsbereich der EU fällt und ihr Handlungsspielraum für politische Maßnahmen daher begrenzt ist. Zumindest in Bezug auf den Güterverkehr sollte jedoch die Frage gestellt werden, ob der Nahverkehr auf den letzten Kilometern nicht auch an den freien Warenverkehr im Binnenmarkt gekoppelt und für diesen von Bedeutung ist. Der Ausschuss schlägt vor, dass die Europäische Kommission die Möglichkeit auslotet, erforderlichenfalls verpflichtende EU-Maßnahmen in diesem Bereich einzuführen. Der Ausschuss merkt an, dass auch in Bezug auf den Stadtverkehr einige der Empfehlungen aus seinen einschlägigen früheren Stellungnahmen wie Koordinierungssysteme für den Personenverkehr und Frachtlogistikzentren in den Fahrplan aufgenommen wurden.

4.30

Der Ausschuss begrüßt, dass die Einführung von Elektrofahrzeugen und die Errichtung der erforderlichen Batterieladeinfrastruktur sowie die damit verbundenen Normungsfragen in dem Fahrplan berücksichtigt wurden. Er hat sich bereits in seiner einschlägigen Stellungnahme (6) für eine starke Marktdurchdringung von Elektrofahrzeugen, insbesondere Elektroautos, ausgesprochen.

4.31

In dem Fahrplan wird ganz allgemein auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Vorschriften über Gewichte und Abmessungen zur Optimierung der Ressourceneffizienz zu überarbeiten. Diesbezüglich stellt sich die Frage, inwieweit das europäische modulare System für Lastzugkombinationen mit einer Länge von max. 25,25 m zum Einsatz kommen kann. Immer mehr Mitgliedstaaten erlauben den Einsatz dieser Systeme im innerstaatlichen Verkehr. Der Ausschuss ist sich der fortlaufenden Diskussionen über die Zweckdienlichkeit derartiger Lastzugkombinationen sehr wohl bewusst. Er bedauert, dass dieser Aspekt in dem Fahrplan nicht klar aufgegriffen wird, und ist der Ansicht, dass das geltende Verbot für den Einsatz derartiger Fahrzeuge im grenzübergreifenden Verkehr zwischen Mitgliedstaaten, die diese im innerstaatlichen Verkehr sehr wohl erlauben, eindeutig ein Regulierungsengpass ist, der den freien grenzüberschreitenden Warenverkehr behindert und nicht im Einklang mit dem Ziel einer Verbesserung von Effizienz und Nachhaltigkeit im Verkehr durch einen komodalen Ansatz steht. Er fordert die Europäische Kommission daher auf, eine Initiative zur Aufhebung dieses Verbots auf den Weg zu bringen. Auf längere Sicht muss bewertet werden, ob der Einsatz längerer Fahrzeuge, die mit neuen Kraftstoffen usw. betrieben werden, an die Entwicklung multimodaler Korridore gekoppelt werden könnte, die in dem Fahrplan als Teil des Kernnetzes der TEN-V vorgesehen sind. Dies gilt auch für die Einführung längerer Züge mit höherer Nutzlast in der EU, um die Kapazität an den Schienenverkehrsknotenpunkten in derartigen multimodalen Korridoren zu erhöhen. Der Ausschuss ist sich bewusst, dass die Voraussetzung für eine positive Bewertung einer Veränderung von Lademaßen auf der Straße ist, dass diese Veränderung keine negativen Rückwirkungen auf die multimodale Verwendung der Transporteinheiten hat, insbesondere auf den kombinierten Verkehr Schiene/Straße. Durch längere Fahrzeuge bzw. Züge mit höherer Nutzlast entstehende Infrastrukturmehrkosten müssen genau evaluiert werden und die dadurch bevorzugten Nutzer entsprechend an diesen Mehrkosten beteiligt werden.

4.32

Der Ausschuss bedauert, dass das Problem effizienterer und nachhaltigerer Lösungen für die Alpenpässe in dem Fahrplan vollkommen ausgeklammert wird. Die bestehende Schienen- und Straßeninfrastruktur bietet keine ausreichende Kapazität, um die Verkehrsnachfrage im kommenden Jahrzehnt bedienen zu können. Der Ausschuss möchte der Europäischen Kommission antragen, sich mit dieser Frage zu befassen.

4.33

In dem Fahrplan wird außerdem auf die Zweckdienlichkeit einer koordinierten Verkehrsplanung durch die Betreiber hingewiesen, um die Ressourcen am effizientesten zu nutzen. Diesbezüglich wirft der Ausschuss die Frage auf, ob die Europäische Kommission Leitlinien ausarbeiten sollte, um die Gefahr der Unvereinbarkeit mit den geltenden Wettbewerbsvorschriften möglichst gering zu halten.

4.34

Unter Berücksichtigung des demografischen Wandels, der alternden Bevölkerung und des 15 %igen Anteils von Menschen mit Behinderungen an der Gesamtbevölkerung ist sich der Ausschuss bewusst, dass Mobilität nur dann erreicht werden kann, wenn sämtliche Glieder der Verkehrskette (einschl. bebaute Umwelt, Verkehrsmittel, Ausrüstung, Informationssysteme, Buchungssysteme, Dienstleistungen usw.) für alle Bürger zugänglich sind. Der Ausschuss unterstützt daher ausdrücklich die Absicht der Europäischen Kommission, einen europäischen Rechtsakt über Barrierefreiheit vorzuschlagen.

4.35

Der Ausschuss hält jedoch fest, dass die praktischen Aspekte der Dimension Behinderung trotz zahlreicher positiver Verweise in dem Fahrplan gleichwohl zu wenig Beachtung findet. Grundlegende Konzepte wie Nachhaltigkeit und Sicherheit werden ohne Berücksichtigung der Barrierefreiheit erörtert. Nach Meinung des Ausschusses müssen alle Interessenträger zur Sicherstellung einer besseren Barrierefreiheit zusammenarbeiten, um voll kompatible Normen zwischen allen Verkehrsträgern festzulegen, die einen echten barrierefreien Verkehr ermöglichen. Auch die Vorschriften über Fluggastrechte müssen in einigen Punkten klarer gefasst und harmonisiert werden, z.B. Nichtbeförderung von Menschen mit Behinderungen, Recht zur Mitnahme von Mobilitätshilfen und Hilfsgeräten, Bereitstellung von Informationen usw.

4.36

Der Ausschuss schlägt vor, dass Barrierefreiheit in dem mehrjährigen Finanzrahmen als Anforderung für die Gewährung von Finanzmitteln aufgenommen wird. Es sollten nur dann Mittel aus dem TEN-Haushalt oder andere EU-Mittel beispielsweise aus den Strukturfonds bereitgestellt werden, wenn die Projekte dem Konzept des „Design For All“ entsprechen. Zur Erleichterung der Freizügigkeit von Menschen mit Behinderungen sollte außerdem eine europäische Mobilitätskarte eingeführt werden, die den Weg für zahlreiche harmonisierte Konzessionen in den Mitgliedstaaten ebnen könnte.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Strategie zur Internalisierung externer Kosten“, ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 80.

(2)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Nachhaltige Entwicklung der EU-Verkehrspolitik und TEN-V-Planung“, ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 31.

(3)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums“ und der „Mitteilung der Kommission über die Entwicklung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums“, ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 99.

(4)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Auswirkungen der EU-Politik auf Beschäftigungschancen, Ausbildungsbedarf und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Verkehrsgewerbe“ (Sondierungsstellungnahme), ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 22.

(5)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Auswirkungen der EU-Politik auf Beschäftigungschancen, Ausbildungsbedarf und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Verkehrsgewerbe“ (Sondierungsstellungnahme), ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 22.

(6)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Hin zu einer starken Marktdurchdringung von Elektrofahrzeugen“ (Sondierungsstellungnahme), ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 47.


28.1.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/154


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Präventivmaßnahmen zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch“ (ergänzende Stellungnahme)

2012/C 24/33

Berichterstatterin: Madi SHARMA

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2011, gemäß Artikel 29 Buchstabe A der Durchführungsbestimmungen zur Geschäftsordnung eine ergänzende Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Präventivmaßnahmen zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch“ (ergänzende Stellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 31. August 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 475. Plenartagung am 26./27. Oktober 2011 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 79 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) verurteilt sexuellen Missbrauch von Kindern aufs Schärfste und begrüßt die Zusage der Kommission, die Anstrengungen der EU zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu intensivieren, indem sie eine neue Richtlinie zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie vorlegt.

1.2

In einer früheren Stellungnahme (1) hatte der EWSA Empfehlungen zu der vorgeschlagenen Richtlinie abgegeben. Die Prävention wird in der Richtlinie zwar als Ziel genannt, aber nur unzureichend behandelt. Prävention auf mehreren Ebenen ist für den Schutz der Kinder von grundlegender Bedeutung. Kinder, die Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind, leiden nicht nur an einer untolerierbaren Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, sondern auch an lebenslangen, schrecklichen sozialen, emotionalen und psychologischen Folgen. In dieser ergänzenden Stellungnahme sollen Empfehlungen zur Prävention ausgesprochen werden.

1.3

Der EWSA wiederholt seine Forderung an die Mitgliedstaaten und an die Europäische Union, im Rahmen des neuen Vertrags von Lissabon dringend das Übereinkommen des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch  (2) und das Fakultativprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention betreffend den Kinderhandel, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie  (3) zu unterzeichnen und zu ratifizieren, damit die EU besser imstande ist, dem sexuellen Missbrauch von Kindern vorzubeugen.

1.4

Die Europäische Union muss einen kohärenten und einheitlichen Ansatz zur Prävention des sexuellen Missbrauchs von Kindern in den Mitgliedstaaten entwickeln. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, sich für die Annahme einer EU-Präventionsstrategie gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern einzusetzen, in der eine klare Vision der Mitgliedstaaten der Europäischen Union für den Schutz von Kindern und die Stärkung ihrer Position formuliert wird. Die Ziele der Strategie sollten sich auf folgende vier Bereiche beziehen:

1.

Erziehung und Bildung

Kindgerechte Programme zur Aufklärung und Bewusstseinsbildung

Fortbildung und Unterstützung für Fachkräfte und Freiwillige

Medienschulung

Programme für konstruktive Kindererziehung

Sichere Internetnutzung

2.

Strafverfolgung und sonstige unterstützende Strukturen

Kontrollmechanismen

Notrufnummer für vermisste Kinder

Warnsystem für vermisste Kinder

Internationales Strafverfolgungssystem

3.

Rolle der Zivilgesellschaft

Weitere Fördermittel zur Entwicklung bestehender Programme

Kampagne zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit

4.

Forschung und Normen

Europäische Zentralstelle

Sicht und Meinungen von Kindern

Internetsicherheitsnormen und Beseitigung von Kindermissbrauchsinhalten

1.5

Die in dieser Stellungnahme aufgeführten Maßnahmen sind nicht erschöpfend (4). Der EWSA begrüßt die Aktivitäten der vielen zivilgesellschaftlichen Akteure – insbesondere der NGO – zur Einführung von Präventivmaßnahmen. Die Beispiele für bewährte Praktiken sind zu umfangreich, um hier aufgelistet zu werden, sie können für andere jedoch überaus lehrreich sein. Deshalb hat der EWSA eine Datenbank mit diesbezüglichen Informationen erstellt (5).

2.   Hintergrund und Ziele

2.1

Das wesentliche Bestreben vorbeugender Maßnahmen muss die Beseitigung des sexuellen Missbrauchs von Kindern sein. Alle Maßnahmen müssen den Grundsätzen der UN-Kinderrechtskonvention entsprechen. Im Einklang mit diesem Übereinkommen wird als Kind eine Person unter 18 Jahren definiert.

2.2

Der sexuelle Missbrauch von Kindern äußert sich in vielen Formen: Inzest und sexueller Missbrauch, Pornographie, Prostitution, Menschenhandel, Korruption und sexuelle Übergriffe unter Gleichaltrigen (6). Missbrauch muss auf mehreren Ebenen bekämpft werden: auf lokaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene. Vorbeugende Maßnahmen müssen koordiniert werden und auf allen Ebenen kohärent sein. Vorbeugende Maßnahmen müssen ständig überwacht werden, um sicherzustellen, dass sie den sich wandelnden Strukturen und bewährten Verfahren entsprechen und neue Möglichkeiten des Kindesmissbrauchs (etwa durch neue Technologien) konterkarieren können.

2.3

Kinder sind in besonders hohem Maße durch alle Formen des Missbrauchs gefährdet und fallen im Vergleich zu Erwachsenen häufiger Verbrechen im Allgemeinen einschließlich Übergriffen und Vergewaltigung zum Opfer. Trotz fehlender Statistiken deuten die vorhandenen Angaben darauf hin, dass jedes fünfte Kind in Europa im Lauf seiner Kindheit mindestens einmal Opfer sexuellen Missbrauchs wird  (7). Es wird davon ausgegangen, dass das Opfer den Täter in 70-85 % der Fälle kennt; dies sollte bei den vorbeugenden Maßnahmen besondere Berücksichtigung finden. Sowohl Jungen als auch Mädchen und alle ethnischen Gruppen und Bevölkerungsschichten sind betroffen. Wenngleich einige Untersuchungen nahelegen, dass sexueller Missbrauch von Kindern oft im Alter von 12-13 Jahren beginnt, konzentrieren sich viele Präventionsstrategien hauptsächlich auf jüngere Kinder. „Schutzbedürftige“ Kinder einschließlich Kinder mit Behinderungen, Heimkinder, von ihren Eltern getrennte und verschleppte Kinder, Kinder mit Drogen- und Alkoholproblemen, sozial benachteiligte Kinder sowie Kinder, die bereits zuvor Opfer von Missbrauch wurden, sind üblicherweise am stärksten gefährdet.

2.4

Die EU bekräftigt die Rechte des Kindes in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und in ihrer Grundrechtecharta, vor allem in Artikel 24, in der die positive Verpflichtung verankert ist, den notwendigen Schutz der Kinder sicherzustellen, wobei die Sorge für deren Wohl an erster Stelle stehen muss. Dies führte zu gezielten Maßnahmen zur Förderung, Sicherung und Durchsetzung der Kinderrechte (8).

2.5

Der EWSA begrüßt die vor Kurzem erfolgte Vorlage einer EU-Agenda für die Rechte des Kindes durch die EU-Kommission. Ausgehend von den Grundsätzen der Charta der Grundrechte stehen in der Agenda Maßnahmen in wesentlichen Bereichen - u.a. Sicherheit im Internet und Schutz vor Menschenhandel - die Rechte des Kindes im Mittelpunkt der Politik.

2.6

Ein wesentliches Ziel dieser Stellungnahme besteht darin, hervorzuheben, dass „präventive“ Maßnahmen möglich sind und dass auf diesem Gebiet bereits viel gute Arbeit von vielen Akteuren geleistet wird. Der EWSA begrüßt die Aktivitäten der vielen zivilgesellschaftlichen Akteure - insbesondere der NGO - zur Einführung von Präventivmaßnahmen. Die Beispiele für bewährte Praktiken sind zu umfangreich, um in dieser Stellungnahme aufgelistet zu werden, sie können für andere jedoch überaus lehrreich sein, da auf den Erfahrungen aufgebaut und die Zivilgesellschaft aktiviert werden kann. Deshalb hat der EWSA eine Datenbank mit den entsprechenden Informationen erstellt (9).

3.   Allgemeine Bemerkungen - Vorbeugende Maßnahmen

3.1

Vorbeugende Maßnahmen sollten ganzheitlich konzipiert und auf das Kindeswohl ausgerichtet sein und so früh wie möglich mit einem Mindestmaß an Intervention greifen. In diesem Bereich gibt es viele hervorragende Initiativen, die Unterstützung verdienen. Der EWSA ruft die Europäische Kommission auf, eine EU-Präventionsstrategie gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern anzunehmen und umzusetzen. Diese sollte eine zwischen den Mitgliedstaaten koordinierte Vision zur Geltung bringen und sich auf die Ziele der untenstehend aufgeführten vier Bereiche stützen.

3.2

Der EWSA ist sich bewusst, dass die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern eine sehr komplexe Herausforderung ist. Diese Form des Missbrauchs ist oft unsichtbar, da die Taten grundsätzlich im Verborgenen geschehen und die Opfer aus einer diffusen Mischung von Scham, Furcht oder Unkenntnis ihrer Rechte selten Anzeige erstatten. Durch das Internet und andere Technologien ergeben sich für potenzielle Täter und die Produktion und Verbreitung von kinderpornografischem Material neue Möglichkeiten. Aufgrund der Reisefreiheit können Täter die am stärksten benachteiligten Kinder ins Visier nehmen. Die Täter werden raffinierter und sind zunehmend besser organisiert, wodurch jüngere Kinder mehr und mehr gefährdet sind. Ca. 10 % der Fälle werden den Kinderschutzdiensten gemeldet (10). Kinderschänder kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten; die meisten Täter sind nicht aufgrund einer Sexualstraftat verurteilt worden (11).

3.3

Primäre Präventionsmaßnahmen, die greifen sollen, bevor es zum Missbrauch kommt, sollten auf die am stärksten benachteiligten Kinder ausgerichtet sein, die akut oder langfristig gesehen gefährdet sind. Direkte Maßnahmen wie öffentliche Bildungsmaßnahmen und frühzeitiges Eingreifen sind lediglich erste Schritte. Es sollten auch Maßnahmen zur Verhinderung einer sekundären Viktimisierung ergriffen werden, um ggf. den „Missbrauchskreislauf“ zu durchbrechen. Des Weiteren sollte ein Schwerpunkt auf der Therapierung der (potenziellen) Täter liegen.

3.4

Wenngleich Missbrauch meistens in der Familie oder im Bekanntenkreis geschieht (12), kann dieser auch im Rahmen einer straff organisierten Kriminalität durch mehrere Täter verübt werden. Hiermit können enorme Profite erzielt werden - Menschenhandel ist weltweit die drittgrößte internationale Verbrechensform (13). Weltweit sind ca. 2,5 Mio. Menschen Opfer von Menschenhandel (14). Von diesen werden schätzungsweise 43 % sexuell ausgebeutet, von denen wiederum fast die Hälfte Kinder sein dürften (15). Sexueller Missbrauch von Kindern ist oft ein grenzübergreifendes Verbrechen, das auch grenzübergreifend bekämpft werden muss.

3.5

Die Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen ist unerlässlich, um ihre Ansichten zur Kenntnis zu nehmen und in Präventionsstrategien zu integrieren. Es gibt viele solcher Modelle, die bereits funktionieren (16). Der Gebrauch von Kinder- und Jugendsprache ermutigt Kinder dazu, offener über dieses Thema zu sprechen und dieses Tabu zu brechen.

4.   Bereich 1: Erziehung und Bildung

4.1

Der EWSA empfiehlt, alle Kinder in den Mitgliedstaaten mit Programmen zur Aufklärung und Bewusstseinsbildung über den sexuellen Missbrauch von Kindern zu erreichen. Hierbei kommt es darauf an, dass die Kinder altersgerecht informiert und in die Lage versetzt werden, über sexuellen Missbrauch zu sprechen.

4.2

Bildungsprogramme haben sich in anderen Bereichen als erfolgreiche Primärpräventionsstrategie erwiesen. Sie sind hervorragend zur Vorbeugung geeignet und der ideale Weg, um zur Meldung von Missbrauch zu ermutigen. Wo möglich, können Bewusstseinsbildungsprogramme in bestehende Programme - z.B. die „Stay Safe“- (17) und „SPHE“-Programme - integriert werden (18). Die Programme sollten

entwicklungsgerecht sein, eine gesunde geschlechtliche Entwicklung fördern, Viktimisierung vermeiden und dadurch das Selbstbewusstsein der Kinder stärken;

spezifisch auf Kinder und weniger auf Eltern ausgerichtet sein, wobei älteren Kinder besondere Beachtung geschenkt werden sollte;

die Umsetzung gezielter Präventionskonzepte für die am stärksten gefährdeten Kinder ermöglichen;

in Verbindung mit kindgerechten und leicht zugänglichen Angeboten in Bezug auf Beratung, Beschwerden und Anzeigeerstattung stehen (19);

an notwendige flankierende Dienste gekoppelt sein, die auch über ausreichend Personal verfügen;

regelmäßig beobachtet und im Lichte neuer bewährter Verfahren bewertet werden.

4.3

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, eine obligatorische Fortbildung zur Prävention von sexuellem Missbrauch von Kindern für Fachkräfte und Freiwillige einzuführen, die mit Kindern arbeiten, insbesondere im Gesundheits-, (formalen und informellen) Bildungs- und Strafverfolgungsbereich. Hierbei müssen alle Berufsverbände, Gewerkschaften und Sozialpartner ebenso wie Religionsgemeinschaften, Sport- und Freizeitvereine mitwirken. Es sollte angemessene Hilfsmechanismen wie regelmäßige Supervision und psychologische Unterstützung für diejenigen geben, die Opfer von Kindesmissbrauch betreuen.

4.4

Der EWSA empfiehlt, Bildungsprogramme für die Medien bereitzustellen. Ethische Leitlinien für das Melden von Verdachtsfällen sollten ebenfalls entwickelt werden.

4.5

Programme für konstruktive Kindererziehung sollten verfügbar sein, mit denen Eltern und Familien bei der Vorbeugung von sexuellem Missbrauch unterstützt werden. Eltern sollten im Rahmen der prä- und postnatalen Vorsorge Information zu Vorbeugemaßnahmen erhalten.

4.6

Der EWSA unterstützt Initiativen wie das Programm der Europäischen Kommission „Mehr Sicherheit im Internet“ (20) und die Netzwerke Insafe (21) und INHOPE (22), mit denen eine sichere Internetnutzung gefördert wird und zu deren Zielgruppe nicht nur Kinder gehören (23).

5.   Bereich 2: Strafverfolgung und sonstige unterstützende Strukturen

5.1

Der EWSA empfiehlt einen kohärenten Ansatz der Mitgliedstaaten bezüglich Strafverfolgung, Informationsaustausch und der Zusammenarbeit zwischen Polizeibehörden und eingetragenen internationalen Organisationen. Dies sollte bilaterale Abkommen, wirksamere IT-Instrumente für die Ermittlungsarbeit und bessere Kontrollmechanismen beinhalten. Lange Wartezeiten bis zur gerichtlichen Verfolgung können auf Opfer, die Anzeige erstatten wollen, abschreckend wirken. Daher sollten Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern vorrangig bearbeitet werden. Ernsthaft erwogen werden sollte die Möglichkeit, Gerichtsverhandlungen in Abwesenheit des Opfers abzuhalten. Dringend nötig ist eine angemessene Fortbildung des Strafverfolgungspersonals im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern; die Erstellung von Verhörprotokollen trägt zur Vermeidung sekundärer Viktimisierung bei. Kohärente europaweite Normen werden dazu beitragen, dass sich die Täter nicht in andere Mitgliedstaaten absetzen können. Die vor Kurzem von Europol und weiteren Behörden durchgeführte „Operation Rescue“, bei der über 200 Kinder (24) identifiziert und gerettet wurden, machte deutlich, wie die Europäische Union weltweit eine Vorreiterrolle einnehmen kann.

5.2

Ein kohärenter Ansatz zur Überprüfung all derer, die mit Kindern arbeiten, ist unbedingt erforderlich, um Schlupflöcher zwischen den Mitgliedstaaten zu schließen. Es sollte eine obligatorische Überprüfung jedes Einzelnen auf Vergehen gegen Kinder geben, die eine Prüfung unbewerteter Anhaltspunkte einschließt (d.h. von Informationen über Personen, die als eine Gefahr für Kinder einzustufen sind, jedoch nicht strafrechtlich verurteilt sind). Der EWSA verweist - wie auch in seiner vorherigen Stellungnahme (25) auf das Modell der „Multi-Agency Public Protection Arrangements“ (26).

5.3

Es wurde zwar eine europaweite Notrufnummer für vermisste Kinder zugewiesen, die jedoch nur in 16 Mitgliedstaaten funktioniert; die verbleibenden 11 Mitgliedstaaten müssen unverzüglich tätig werden, um einen gut funktionierenden Notrufdienst sicherzustellen (27). Dieser Dienst muss mit ausreichenden Finanzmitteln ausgestattet und mit den notwendigen flankierenden Diensten gekoppelt werden. Außerdem könnte über eine Ausweitung des Dienstes auf Länder außerhalb der EU nachgedacht werden.

5.4

Einzelne Mitgliedstaaten verfügen zwar über wirksame Arbeitsmodelle (28), der EWSA empfiehlt jedoch, ein koordiniertes europaweites Warnsystem für vermisste Kinder nach Maßgabe des „Amber Alert“ in den Vereinigten Staaten (29) einzurichten.

5.5

Schließlich wiederholt der EWSA seine Forderung nach einer internationalen Strafverfolgungsagentur, die bei Kindesmissbrauchsfällen in der ganzen Welt ermittelt, die Opfer identifiziert und die Täter verfolgt (30).

6.   Bereich 3: Rolle der Zivilgesellschaft

6.1

Für die Verhütung des sexuellen Missbrauchs von Kindern ist jeder Einzelne in der Gesellschaft verantwortlich. Der EWSA empfiehlt, dass staatliche Behörden und Akteure der Zivilgesellschaft weiterhin zusammenarbeiten, um entsprechende Präventionsmaßnahmen durchzuführen. Der EWSA unterstützt Initiativen wie die „1 in 5 campaign“ (31) und die „Unterwäsche-Regel“ (32) des Europarates. Auf Ebene der NGO wären „Stop it now!“ (33) sowie spezifische Kampagnen wie „Cut Them Free“ von Barnado's UK (34) sowie „ECPAT International and The Body Shop Stop Sex Trafficking of Children and Young People campaign“ (35) als Beispiele für die Tätigkeit der Zivilgesellschaft zu nennen.

6.2

Arbeitgeber, Gewerkschaften und weitere Organisationen der Zivilgesellschaft stehen in der Pflicht, deutliche Leitlinien für den Arbeitsplatz festzulegen, um sicherzustellen, dass sexueller Missbrauch von Kindern nicht toleriert wird (36). Die Bekämpfung dieser Vergehen gehört zur sozialen Verantwortung der Unternehmen. Die Wirtschaft, etwa die Tourismus- und Hotelbranche, hat auch eine wichtige Rolle zu spielen (37). Der EWSA ruft die Organisationen auf, die entsprechende vom EWSA vorgeschlagene Absichtserklärung (38) zu unterzeichnen, die in der vom EWSA erstellten Datenbank bewährter Praktiken in den Mitgliedstaaten enthalten ist. Der EWSA (39) verweist erneut darauf, dass weitere Mittel für die Ausweitung und Entwicklung der Programme bereitgestellt werden müssen, die von den zivilgesellschaftlichen Partnern durchgeführt werden.

6.3

Es sollte eine weltweite Sensibilisierungskampagne für Anzeigeerstattung bei sexuellem Missbrauch von Kindern geben, unterstützt durch eine kostenlose internationale Telefon-Hotline einschließlich eines Online-Mechanismus, mit dem Fälle von Kindesmissbrauch gemeldet werden können (40). Diese könnte ähnlich wie das von „Child Helpline International“ betriebene Netzwerk funktionieren. Eine solche Hotline sollte an die notwendigen flankierenden Dienste gekoppelt sein.

6.4

Durch die aktive Förderung des Welttages zur Prävention von Kindesmissbrauch (41), der jedes Jahr am 19. November stattfindet, können die Zivilgesellschaft und die Regierungen zur Bewusstseinsbildung über den sexuellen Missbrauch von Kindern und zum Aufbau einer Präventionskultur beitragen.

7.   Bereich 4: Forschung und Normen

7.1

Der EWSA fordert eine verstärkte Forschung, um den Mangel an Daten zu sexuellem Missbrauch von Kindern zu beheben, ein klareres Bild von den Profilen der Opfer und der Täter zu erhalten und bewährte Praktiken auszutauschen. Derzeit kommt ein Großteil der Daten von Strafverfolgungsbehörden. Es sollte eine Europäische Zentralstelle für die Forschung zur Prävention von Kindesmissbrauch, für entsprechende Maßnahmen und deren Umsetzung eingerichtet werden, ähnlich dem „National Child Protection Clearinghouse“ (42) in Australien oder dem „Child Welfare Information Gateway“ (43) in den Vereinigten Staaten. Dies würde auf den Arbeiten aufbauen, die im Rahmen individueller Projekte, etwa dem „European Online Grooming Project“, oder auf Länderebene, etwa Child Focus Belgien (44), durchgeführt werden. Gemeinsame, europaweite Definitionen würden den Austausch und die bessere Vergleichbarkeit der Daten fördern.

7.2

Die Forschung zum sexuellen Missbrauch von Kindern muss die Sicht und die Meinungen von Kindern berücksichtigen (45).

7.3

Der EWSA spricht sich für klar festgelegte, europaweite Internetsicherheitsnormen aus. Im Zusammenhang damit, dass „Internetanbieter (…) angeregt oder dabei unterstützt werden [können], auf freiwilliger Basis Verhaltenkodizes und Leitlinien für die Sperrung des Zugangs zu derartigen Internetseiten zu entwickeln“ (46), möchte der EWSA betonen, dass es vorrangig darum gehen muss, die Inhalte bereits an der Quelle zu entfernen, und nur wenn dies nicht möglich ist (z.B. weil diese außerhalb der EU liegen), den Zugang zu solchen Seiten zu sperren. Dies sollte innerhalb der EU zu einer gesetzlichen Vorschrift gemacht werden, wenn die Wirtschaft, die Internetdiensteanbieter, die Wirtschafts- und Finanzakteure wie etwa die Kreditkartenunternehmen es wirklich ernst mit ihrem Kampf gegen diese Form von Missbrauch meinen. Der EWSA ermutigt die Anbieter sozialer Netzwerke, die Selbstverpflichtungserklärung „Sichere Grundsätze für das Social Networking in der EU“ (2009) (47) zu unterzeichnen.

7.4

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, in diesem Bereich die Koordinierung zu übernehmen, um einen europaweiten kohärenten Ansatz zu ermöglichen.

Brüssel, den 26. Oktober 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates“, ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 138-144.

(2)  Die Tschechische Republik und Lettland haben dieses Übereinkommen noch nicht unterzeichnet; 15 Mitgliedstaaten haben es noch nicht ratifiziert (http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=201&CM=&DF=&CL=ENG).

(3)  Die Tschechische Republik, Finnland und Irland haben das Fakultativprotokoll noch nicht ratifiziert (http://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-11-c&chapter=4&lang=en).

(4)  Sie wurden in Abstimmung mit dem irischen Kinderschutzbund (Children’s Rights Alliance Ireland) zusammengestellt, einem Zusammenschluss von über 90 NGO, die sich für die Rechte und Bedürfnisse von Kindern in Irland und für die vollständige Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention einsetzen (www.childrensrights.ie), sowie europäischer NGO, die in diesem Bereich tätig sind.

(5)  http://www.eesc.europa.eu/prevent-child-abuse.

(6)  Kampagne des Europarats zur Bekämpfung sexueller Gewalt gegen Kinder: www.coe.int/t/dg3/children/1in5/source/Outline_en.pdf.

(7)  Ebda.

(8)  Z.B. die EU-Strategie für die Jugend, in der ein bereichsübergreifender Ansatz in Jugendfragen verfolgt wird und durch die die Zusammenarbeit bei der Politikgestaltung vertieft wird: http://europa.eu/legislation_summaries/education_training_youth/youth/ef0015_de.htm.

(9)  Siehe Fußnote 6.

(10)  Rede des stellvertretenden Generalsekretärs des Europarates auf dem fünften europäischen Forum für die Rechte des Kindes, Italien (November 2010): www.coe.int/t/dc/press/news/20101129_disc_sga_en.asp.

(11)  FINKELHOR, The Prevention of Childhood Sexual Abuse (2009), S. 178.

(12)  Siehe Fußnote 6.

(13)  ECPAT International, Factsheet – Sex Trafficking of Children in the UK.

(14)  Internationale Arbeitsorganisation, „Forced Labour Statistics Factsheet“ (2007).

(15)  Rede von Viviane REDING, „A renewed commitment to children's rights“ (October 2010): http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=SPEECH/10/550&format=HTML&aged=1&language=EN&guiLanguage=en.

(16)  Z.B. „Kiko und die Hand“ vom Europarat.

(17)  Ein Programm zur Missbrauchprävention für irische Grundschulen: www.staysafe.ie.

(18)  Mit dem Programm „Social, Personal and Health Education“ für irische Oberschulen wird die persönliche Entwicklung, die Gesundheit und das Wohlbefinden junger Menschen gefördert: www.sphe.ie.

(19)  Siehe z.B. den gemeinsamen Bericht des Sonderberichterstatters über den Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie und der UN-Sonderbeauftragten zu Gewalt gegen Kinder über kindgerechte und leicht zugängliche Angebote in Bezug auf Beratung, Beschwerden und Anzeigeerstattung, http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/docs/16session/A-HRC-16-56.pdf. Siehe auch die Resolution 2005/20 des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen zu Leitlinien für den Schutz kindlicher Opfer und Zeugen von Straftaten in Justizverfahren, www.un.org/docs/ecosoc/documents/2005/resolutions/Resolution%202005-20.pdf.

(20)  http://ec.europa.eu/information_society/activities/sip/index_en.htm.

(21)  Ein europäisches Netzwerk von Sensibilisierungszentren zur Förderung einer sicheren und verantwortungsvollen Internetnutzung junger Menschen, www.saferinternet.org.

(22)  Eine Initiative zur anonymen Anzeige illegaler Internetinhalte einschließlich Kinderpornographie, www.inhope.org.

(23)  Eine ähnliche NGO-Initiative wurde von Child Focus Belgien ergriffen.

(24)  „More than 200 children identified and rescued in worldwide police operation“ (Über 200 Kinder bei weltweiter Polizeiaktion identifiziert und gerettet), https://www.europol.europa.eu/content/press/more-200-children-identified-and-rescued-worldwide-police-operation-465.

(25)  ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 43-48.

(26)  Ein britisches Modell zur Einschätzung von Sexualstraftätern in deren Umfeld, an dem verschiedene Instanzen beteiligt sind.

(27)  http://www.missingchildreneurope.eu/index.php?option=com_content&view=article&id=46:news01&catid=1:latest-news&Itemid=68.

(28)  Z.B. „Child Alert“ in Belgien, www.childalert.be.

(29)  www.amberalert.gov.

(30)  Siehe Fußnote 1.

(31)  Der EWSA hat sich bereit erklärt, Dokumente dieser Kampagne des Europarats in eine Reihe von Sprachen zu übersetzen.

(32)  www.coe.int/t/dg3/children/1in5/default_en.asp und www.underwearrule.org.

(33)  Diese Kampagne in Großbritannien und Irland wird von der Lucy-Faithfull-Stiftung zur Vorbeugung des sexuellen Missbrauchs von Kindern organisiert, www.stopitnow.org.uk bzw. www.lucyfaithfull.org.

(34)  www.barnardos.org.uk/get_involved/campaign_form/cutthemfree.htm.

(35)  Im Rahmen dieser weltweiten Kampagne wurden 2,3 Mio. Unterschriften in der EU gesammelt (Stand vom 22. Juni 2011), www.thebodyshop.com.

(36)  Artikel 3, Fakultativprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention betreffend den Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie.

(37)  Z.B. Accor Hotels und die Weltorganisation für Tourismus.

(38)  Anhang I zur Stellungnahme des EWSA zum Thema „Schutz gefährdeter Kinder vor auf Auslandsreisen verübten Sexualstraftaten“ (ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 43–48).

(39)  Siehe Fußnote 1.

(40)  Siehe Fußnote 25.

(41)  http://www.woman.ch/index.php?page=children_19nov&hl=de_DE.

(42)  www.aifs.gov.au/nch.

(43)  www.childwelfare.gov/index.cfm.

(44)  www.stopchildporno.be.

(45)  Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention.

(46)  Siehe Fußnote 1.

(47)  http://ec.europa.eu/information_society/activities/social_networking/docs/sn_principles.pdf.