15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/51


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme“

KOM(2011) 326 endg. — 2011/0154 (COD)

2012/C 43/11

Alleinberichterstatter: Edouard DE LAMAZE

Der Rat beschloss am 1. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme

KOM(2011) 326 endg. — 2011/0154 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 8. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember 2011) mit 181 gegen 3 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der EWSA begrüßt das Anliegen dieser Richtlinie ausdrücklich. Die Annahme einer rechtlichen Regelung, bei der die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Hinblick auf die Verteidigungsrechte berücksichtigt wird, wäre ein unbestreitbarer Fortschritt, sowohl was die erforderliche Rechtssicherheit als auch was die Gewährleistung dieser Rechte in den verschiedenen Mitgliedstaaten betrifft.

1.2   Die aktive Unterstützung eines frei gewählten Rechtsbeistands vom Beginn des Strafverfahrens an ist eine Gewähr für ein faires Verfahren. Der EWSA teilt die Sorge der Kommission um die Sicherstellung der praktischen Wirksamkeit dieses Rechts.

1.3   Deshalb und angesichts der hochgesteckten Ziele, die mit den in dem Richtlinienvorschlag niedergelegten Grundsätzen verknüpft sind, ist der EWSA besorgt, was die Schwierigkeiten bei der künftigen Umsetzung betrifft.

1.4   Der EWSA bedauert zutiefst, dass die Maßnahme zur Prozesskostenhilfe, die im Fahrplan des Rates mit dem Recht auf einen Rechtsbeistand verknüpft war, zunächst zurückgestellt wurde, was die Gefahr mit sich bringt, dass die Wirksamkeit dieser Rechte beeinträchtigt wird.

1.5   Ziel des Richtlinienvorschlags ist es in erster Linie, das Recht von Verdächtigen auf einen Rechtsbeistand auszuweiten.

1.5.1   Wenn diese Rechte grundsätzlich ab dem Zeitpunkt des Entzugs der Freiheit einzuräumen sind, muss nach Auffassung des EWSA jede vernommene Person nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens, der die Wahrheitsfindung bestimmt, in den Genuss eines Rechtsbeistands kommen, sobald gegen sie strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden.

1.5.2   Es ist deshalb im Sinne des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, schlüssig, dass Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, einen Rechtsbeistand beiziehen können und dass Aussagen einer Person, der kein Rechtsbeistand gewährt wurde, nicht als Beweis gegen diese herangezogen werden dürfen.

1.5.3   Der EWSA plädiert deshalb für veränderte Begrifflichkeiten, d.h. dafür, den Begriff „Verdächtiger“ durch „Person, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde“ zu ersetzen, da mit einer solchen Formulierung weniger Unsicherheit und mehr Objektivität einhergehen würde.

1.6   Ein weiteres Ziel des Richtlinienvorschlags besteht darin, das Recht auf einen Rechtsbeistand zu vertiefen, der die betreffende Person, vor allem bei Vernehmungen, aktiv unterstützt.

1.7   Das im Richtlinienvorschlag vorgesehene Recht auf einen Rechtsbeistand ist nach Auffassung des EWSA mit den Erfordernissen der Ermittlungen vereinbar und kann sogar – indem es dazu beiträgt, die Zulässigkeit der erhobenen Beweise zu gewährleisten – zum ordnungsgemäßen Ablauf des Strafverfahrens beitragen, sofern folgende Voraussetzungen gewahrt sind.

1.7.1   Demnach muss einerseits die Richtlinie

vorsehen, dass der Rechtsbeistand das Recht hat, Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beizuwohnen, für die die Anwesenheit des Betroffenen nur vorgeschrieben ist, wenn sie zum Schutz der Verteidigungsrechte erforderlich ist,

eine angemessene Frist vorsehen, nach deren Ablauf die Ermittlungsbehörden tätig werden können, ohne dass ein Rechtsbeistand anwesend ist, wobei nachzuweisen ist, dass der Rechtsbeistand ordnungsgemäß unterrichtet wurde,

vorsehen, dass jeder Mitgliedstaat angemessene Festlegungen für die Dauer und Häufigkeit der Gespräche zwischen dem Rechtsbeistand und seinem Mandanten trifft und dass solche Gespräche zumindest vor jeder Vernehmung stattfinden können,

vorsehen, dass jeder Mitgliedstaat Verfahren für die Ermittlungen und die Strafverfolgung einführen kann, die von bestimmten Grundsätzen abweichen, vor allem in den Fällen, in denen minder schwere und gleichzeitig häufig begangene Straftaten nicht geleugnet werden und unstrittig sind,

darauf verweist, dass für Anwälte die Schweigepflicht gilt,

das „Recht auf Benachrichtigung“ eines Dritten oder des betreffenden Konsulats statt des Rechts auf Kontaktaufnahme vorsieht.

1.7.1.1   Allerdings müssen die Ermittlungsbehörden nach wie vor den zeitlichen Ablauf und die Durchführung der Ermittlungen bestimmen.

1.7.1.2   Der EWSA ist auf jeden Fall der Auffassung, dass Ausnahmeregelungen für den Fall vorzusehen sind, dass der ordnungsgemäße Ablauf der Ermittlungen absehbar beeinträchtigt wird.

1.7.2   Dabei müssen andererseits die Mitgliedstaaten Strukturen einrichten, die im Notfall den unverzüglichen Zugang zu einem Rechtsbeistand für den Fall gewährleisten, dass der frei gewählte Rechtsbeistand nicht sofort verfügbar ist.

1.8   Da der Verteidigung neue Rechte eingeräumt werden, fordert der EWSA den Rat auf, aus Gründen der Ausgewogenheit auch Leitlinien für einen besseren Schutz der Opferrechte festzulegen. Opfer müssen die Möglichkeit haben, einen Rechtsbeistand beizuziehen, wenn sie von Ermittlungsbehörden vernommen werden, ganz besonders dann, wenn sie Beschuldigten gegenübergestellt werden, die ihrerseits ja auch diese Möglichkeit haben.

2.   Hintergrund und Inhalt des Richtlinienvorschlags

2.1   Der Rat räumte ein, dass bislang auf europäischer Ebene keine hinreichenden Anstrengungen unternommen worden sind, um die Grundrechte des Einzelnen in Strafverfahren zu wahren. Am 30. November 2009 nahm der Rat „Justiz“ eine Entschließung über einen Fahrplan zur Stärkung dieser Verfahrensrechte an. In diesem Fahrplan, der dem Stockholmer Programm als Anhang beigefügt wurde, wird die Kommission ersucht, Vorschläge in Bezug auf folgende Maßnahmen zu unterbreiten:

 

Maßnahme A) Recht auf Übersetzungen und Dolmetschleistungen,

 

Maßnahme B) Belehrung über die Rechte und Unterrichtung über die Beschuldigung,

 

Maßnahme C) Recht auf Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe,

 

Maßnahme D) Kommunikation mit Angehörigen, Arbeitgebern und Konsularbehörden,

 

Maßnahme E) Besondere Garantien für schutzbedürftige Verdächtige oder Beschuldigte.

2.2   Als erste Maßnahme wurde die Richtlinie 2010/64/EU über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (Maßnahme A) verabschiedet.

2.3   Die zweite Maßnahme besteht in einer Richtlinie über das Recht auf Belehrung in Strafverfahren (1), über die derzeit verhandelt wird. Darin sollen Mindestvorschriften für das Recht auf Belehrung über die Rechte des Betroffenen und über den Tatvorwurf sowie auf Einsicht in die Prozessakte (Maßnahme B) festgelegt werden.

2.4   In dem vorliegenden Richtlinienvorschlag geht es um die dritte Maßnahme des Legislativpakets. Die Kommission hat dabei beschlossen, das Recht auf einen Rechtsbeistand (C1) und das Recht auf Kommunikation (D) gemeinsam zu behandeln. Der Vorschlag zur Prozesskostenhilfe, die nach dem Fahrplan des Rates mit dem Recht auf einen Rechtsbeistand verknüpft war, ist dagegen auf einen späteren Zeitpunkt (2013) vertagt worden. Wie bei den vorangegangenen Maßnahmen hat die Kommission beschlossen, dass Personen, die auf der Grundlage eines europäischen Haftbefehls festgenommen wurden, Anspruch auf diese Rechte haben.

2.5   Mit diesem Richtlinienvorschlag, der sich auf die Artikel 3 und 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in denen das Verbot der Folter und das Recht auf einen Verteidiger festgeschrieben sind, in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stützt, soll die Anwendung der Charta der Grundrechte der EU, insbesondere ihrer Artikel 4, 6, 7 und 47, gewährleistet werden.

2.6   In ihm ist vorgesehen, dass jeder Verdächtige oder Beschuldigte umgehend einen Rechtsbeistand beiziehen kann. Unabhängig von einem Freiheitsentzug ist der Rechtsbeistand grundsätzlich bei der Vernehmung zu gewähren (Artikel 3).

2.6.1   Der Rechtsbeistand nimmt aktiv an den Vernehmungen und Verhandlungen teil (indem er Fragen stellt oder Erklärungen abgibt) und hat das Recht, Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beizuwohnen, für die das Beisein des Verdächtigen oder Beschuldigten erforderlich oder ausdrücklich zulässig ist, es sei denn, die zu erhebenden Beweise könnten in dem Zeitraum, bis der Rechtsbeistand eintrifft, verändert, beseitigt oder vernichtet werden. Der Rechtsbeistand hat Zugang zu dem Ort, an dem die Person festgehalten wird, um die Haftbedingungen zu prüfen (Artikel 4).

2.7   Der Vorschlag sieht auch das Recht auf Kontaktaufnahme mit einem Dritten oder dem betreffenden Konsulat bei der Festnahme vor, um diese von der Festnahme in Kenntnis zu setzen (Artikel 5 und 6).

2.8   Nur in Ausnahmefällen darf von den in dem Richtlinienvorschlag niedergelegten Rechten abgewichen werden (Artikel 8). Abweichungen müssen von einer Justizbehörde im Wege einer Einzelfallentscheidung genehmigt werden und dürfen nicht ausschließlich durch die Schwere der Straftat begründet sein.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Der EWSA begrüßt die politische Neuausrichtung, die in dem Fahrplan des Rates vom 30. November 2009 zur Stärkung der Grundrechte in Strafverfahren zum Ausdruck kommt.

3.2   Im Einklang mit den Fortschritten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte soll mit dem vorliegenden Vorschlag, der nur Mindestvorschriften, über die die Mitgliedstaaten hinausgehen können, enthält, tatsächlich eine Harmonisierung der nationalen Strafverfahren „von oben“ erreicht werden.

3.3   Im Rahmen der nationalen Rechtsvorschriften sind die Verteidigungsrechte bislang noch in sehr unterschiedlichem Maße geschützt. Die Festlegung gemeinsamer Normen für die gesamte EU ist unabdingbar, um einen gemeinsamen Raum der Rechte zu schaffen und das gegenseitige Vertrauen der nationalen Justizbehörden zu stärken. Der EWSA misst der Umsetzung dieser Ziele, die Bedingung und zugleich notwendige Folge des freien Personenverkehrs ist, besondere Bedeutung bei.

3.4   Der EWSA betont zudem, dass die Zahl der Beschwerden, mit denen sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu befassen hat und die finanzielle Sanktionen für die Mitgliedstaaten nach sich ziehen, dringend reduziert werden muss.

3.5   Der EWSA verweist jedoch darauf, dass derartige Regeln nur dann angewandt und umfassend umgesetzt werden können, wenn gemäß Artikel 82 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union die verschiedenen Rechtstraditionen und Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (Regeln für die Anklageerhebung und die Ermittlungsverfahren) berücksichtigt werden. Dieser Aspekt ist nach Ansicht des EWSA eingehender zu untersuchen.

3.6   Vorgehen und Zeitplan

3.6.1   Der EWSA kann nicht erkennen, warum es sinnvoll sein soll, das Recht auf einen Rechtsbeistand mit dem Recht auf Kontaktaufnahme zu verknüpfen. Die Person, zu der Kontakt aufgenommen wird, ist streng genommen nicht am Schutz der Verteidigungsrechte beteiligt.

3.6.2   Der EWSA bedauert dagegen, dass das Recht auf einen Rechtsbeistand

nicht mit dem Recht auf Belehrung in Strafverfahren (B) verknüpft wurde,

unabhängig von der Prozesskostenhilfe behandelt wird, obwohl beide Punkte im Fahrplan des Rates gemeinsam genannt wurden.

3.6.3   Der EWSA kann zwar die Gründe für eine spätere Behandlung der Prozesskostenhilfe nachvollziehen, beanstandet jedoch die Entscheidung der Kommission, Grundsätze festzulegen, bevor die finanziellen Mittel zu ihrer Umsetzung geprüft wurden. Die finanziellen Auswirkungen sind zwar für sich genommen keine Rechtfertigung dafür, dass Artikel 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht umgesetzt wird, doch wäre die Wirksamkeit der niedergelegten Rechte dadurch beeinträchtigt.

3.6.4   Der EWSA ist umso mehr besorgt darüber, als die Kosten, die aus der Umsetzung der Richtlinie erwachsen, in der Folgenabschätzung zu dem Richtlinienvorschlag offenbar unterschätzt werden.

3.6.5   Der EWSA bezweifelt nicht, dass im Rahmen der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls der Zugang zu zwei Rechtsbeiständen (im Ausstellungsmitgliedstaat sowie im Vollstreckungsmitgliedstaat) gerechtfertigt ist, stellt sich jedoch die Frage, wie dies finanziert werden soll.

3.7   Inhalt

3.7.1   Erweiterung des Rechts auf einen Rechtsbeistand auf Verdächtige (Artikel 2 und 3)

3.7.1.1   Die grundlegende Neuerung des Richtlinienvorschlags besteht darin, dass das Recht auf einen Rechtsbeistand auf Verdächtige ausgedehnt wird.

3.7.1.2   Die jüngsten Entwicklungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte werden derzeit mitunter widersprüchlich ausgelegt. Der EWSA ist der Auffassung, dass der Zugang zu einem Rechtsbeistand ab dem Zeitpunkt des Entzugs der Freiheit zu gewährleisten ist.

3.7.1.3   Ausnahmen sind nur dann zulässig, wenn gegen die vernommene Person ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, die nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens, der die Wahrheitsfindung bestimmt, dann nicht mehr als bloßer Zeuge vernommen werden kann und das Recht auf Beiziehung eines Rechtsbeistands hat.

3.7.1.4   Diese Sichtweise dürfte im Einklang mit den jüngsten Entwicklungen der Rechtsprechung stehen.

3.7.2   Inhalt des Rechts auf Rechtsbeistand (Artikel 4)

3.7.2.1   Aktive Teilnahme des Rechtsbeistands an Vernehmungen (Artikel 2)

3.7.2.1.1   Dem EWSA ist bewusst, dass es bei dem Richtlinienvorschlag vor allem um die wirksame Unterstützung durch einen Rechtsbeistand geht, der die Möglichkeit haben soll, bei Vernehmungen und Verhandlungen Fragen zu stellen, Erläuterungen zu verlangen und Erklärungen abzugeben. Angesichts der Besonderheiten der verschiedenen Rechtsordnungen ist der EWSA der Auffassung, dass die Einzelheiten der Ausübung dieses Rechts von jedem Mitgliedstaat selbst geregelt werden können.

3.7.2.1.2   Nach Auffassung des EWSA könnte dem Rechtsbeistand auch die Möglichkeit eingeräumt werden, zu verlangen, dass seine Bemerkungen dem Vernehmungsprotokoll als Anlage beigefügt werden, um Probleme mit den Ermittlungsbehörden von vornherein zu vermeiden.

3.7.2.1.3   Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass die Unterstützung von Verdächtigen – sofern dieser Begriff weiterhin verwendet wird – durch einen Rechtsbeistand auf praktische Schwierigkeiten stoßen wird, vor allem was die Übermittlung der Prozessakte in Echtzeit (2) betrifft. Bei Massendelikten liegt den Ermittlungsbehörden vor der Vorladung bzw. Vernehmung des Beschuldigten in der Regel gar keine Akte vor.

3.7.2.2   Recht des Rechtsbeistands, Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beizuwohnen, die in Anwesenheit der betreffenden Person stattfinden (Artikel 3)

3.7.2.2.1   Dieses Recht stellt zwar einen unbestreitbaren Fortschritt im Hinblick auf den Schutz der Verteidigungsrechte dar, doch sollte nach Auffassung des EWSA nach der Art der Maßnahme unterschieden werden. Bei einer Durchsuchung beispielsweise muss die betroffene Person das Recht auf Beiziehung eines Rechtsbeistands haben.

3.7.2.2.2   Bei technischen oder wissenschaftlichen Maßnahmen (Fingerabdrücke, Entnahme von körpereigenem Material usw.), in Bezug auf die der Rechtsbeistand keine besonderen Kompetenzen aufweist, brächte ein solches Recht nach Auffassung des EWSA keinerlei Nutzen. Ausreichend wäre dann die Unterzeichnung eines Formulars, in dem der betreffenden Person die Folgen einer Ablehnung mitgeteilt werden.

3.7.2.2.3   Der EWSA ist sich jedoch der Zwänge bewusst, die ein solches Recht für den Ablauf der Ermittlungen mit sich bringen könnte. Seiner Auffassung nach ist es von grundlegender Bedeutung, den ordnungsgemäßen Ablauf der Ermittlungen nicht zu beeinträchtigen. Die Beweise müssen – auch im Interesse des Verdächtigen – möglichst rasch erhoben werden können. Der EWSA schlägt vor, dass in der Richtlinie eine Frist festgelegt wird, nach deren Ablauf die Ermittlungsbehörden in Abwesenheit des Rechtsbeistands tätig werden dürfen, wobei nachzuweisen ist, dass der Rechtsbeistand ordnungsgemäß unterrichtet wurde.

3.7.2.2.4   Nur in bestimmten Fällen, in denen die Fairness des Verfahrens nicht beeinträchtigt ist, könnten nach Auffassung des EWSA die nationalen Gerichte über die Zulässigkeit von Beweisen befinden, die in Abwesenheit des Rechtsbeistands erhoben wurden.

3.7.2.3   Gespräche zwischen dem Rechtsbeistand und seinem Mandanten (Artikel 5)

3.7.2.3.1   Die Gespräche mit dem Rechtsbeistand müssen von ausreichender Dauer und Häufigkeit sein. Die Tatsache, dass keine weitere Einschränkung festgelegt wird als „werden nicht in einer Weise eingeschränkt, dass die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte beeinträchtigt werden könnte“, was recht vage und subjektiv formuliert ist, wird nach Meinung des EWSA zu Rechtsstreitigkeiten zwischen Rechtsanwälten und Polizei führen.

3.7.2.3.2   Der EWSA stellt sich die Frage nach der Zeit, die die Wahrnehmung dieser Rechte (Stellungnahme des Rechtsanwalts, tatsächliche Anwesenheit, Einsicht in die Prozessakten, Gespräch mit dem Mandanten, Unterstützung bei Vernehmungen und bestimmten Ermittlungen usw.) im Rahmen eines Verfahrens in Anspruch nehmen würde, das innerhalb der dafür vorgesehenen Frist nicht mehr wirksam durchgeführt werden kann.

3.7.2.3.3   Nach Auffassung des EWSA ist zu verlangen, dass jeder Mitgliedstaat angemessene Festlegungen für die Dauer und die Häufigkeit der Gespräche des Rechtsanwalts mit seinem Mandanten trifft, damit der ordnungsgemäße Ablauf der Ermittlungen nicht beeinträchtigt wird und die betreffende Person gleichzeitig ihre Rechte weiter wirksam wahrnehmen kann. Nach Meinung des EWSA müssen solche Gespräche zumindest vor jeder neuerlichen Vernehmung stattfinden.

3.7.2.4   Haftbedingungen (Artikel 4)

3.7.2.4.1   Dass die Haftbedingungen Auswirkungen auf eine im Freiheitsentzug befindliche Person haben, liegt auf der Hand. Aus naheliegenden Gründen, die die Würde des Menschen betreffen, betont der EWSA, dass dringend die notwendigen Mittel aufgebracht werden müssen, um die Haftbedingungen zu verbessern. Zwar gehört es nach Auffassung des EWSA nicht zu den Aufgaben eines Rechtsbeistands, die Haftbedingungen der betreffenden Person zu „prüfen“, doch könnte festgelegt werden, dass der Rechtsanwalt die Haftbedingungen „feststellt“ (3) und verlangt, dass seine Bemerkungen zu den Akten genommen werden. Der EWSA schlägt vor, klarzustellen, dass der Rechtsanwalt das Recht auf möglichst raschen Zugang zu dem Ort hat, an dem die betreffende Person festgehalten wird.

3.7.2.5   Grundsatz der freien Wahl des Rechtsbeistands

3.7.2.5.1   Aus dem Recht auf einen Rechtsbeistand ergibt sich gemäß Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Europäischen Menschenrechtskonvention zwangsläufig der Grundsatz der freien Wahl des Rechtsbeistands. Da darauf in dem Richtlinienvorschlag nicht Bezug genommen wird, schlägt der EWSA vor, auf den genannten Grundsatz hinzuweisen. Bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität könnte auf Antrag der Justizbehörde eine Ausnahmeregelung getroffen werden, wonach der Rechtsbeistand durch die berufsständischen Organisationen bestellt wird.

3.7.2.5.2   Zur Anwendung des Grundsatzes der freien Wahl des Rechtsbeistands sollte in dem künftigen Instrument zur Prozesskostenhilfe vorgesehen sein, dass die Leistungen jedes europäischen Rechtsanwalts durch die Prozesskostenhilfe abgedeckt werden können.

3.7.2.5.3   Damit die Wirksamkeit der in der Richtlinie niedergelegten Rechte gewährleistet wird, fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, rasch über die Schaffung von Strukturen nachzudenken, die im Notfall den unverzüglichen Zugang zu einem Rechtsbeistand für den Fall gewährleisten, dass der frei gewählte Rechtsbeistand nicht sofort verfügbar ist.

3.7.2.6   Schweigepflicht

3.7.2.6.1   Der EWSA verweist darauf, dass für Anwälte die Schweigepflicht gilt. Diese Verpflichtung wird nach Auffassung des EWSA dazu beitragen, dass die Vertiefung der in dem Richtlinienvorschlag vorgesehenen Rechte nicht den ordnungsgemäßen Ablauf der Ermittlungen beeinträchtigt.

3.7.3   Recht auf Kontaktaufnahme (Artikel 5 und 6)

3.7.3.1   Der EWSA erkennt die Bedeutung der Unterrichtung Dritter an, will jedoch die Gefahren für die Ermittlungen ausschalten, die mit dem Recht auf direkte Kontaktaufnahme verbunden sein könnten, und empfiehlt daher die Formulierung „Recht auf Benachrichtigung“ eines Dritten oder des betreffenden Konsulats.

3.7.4   Anwendungsbereich (Artikel 2) und Abweichungen (Artikel 8)

3.7.4.1   Der EWSA ist besorgt, dass ein übermäßiger Formalismus der Strafverfahren die Wirksamkeit der Ermittlungen beeinträchtigen könnte. Er hält es für notwendig, es jedem Mitgliedstaat freizustellen, Verfahren für die Ermittlungen und die Strafverfolgung einzuführen, die von bestimmten Grundsätzen abweichen, vor allem in den Fällen, in denen minder schwere und gleichzeitig häufig begangene Straftaten nicht geleugnet werden und unstrittig sind.

3.7.4.2   Da der ordnungsgemäße Ablauf der Untersuchung nicht beeinträchtigt werden darf, schlägt der EWSA vor, auf jeden Fall Ausnahmeregelungen für den Fall vorzusehen, dass eine derartige Beeinträchtigung absehbar ist. Er schlägt vor, Artikel 8 Buchstabe a in diesem Sinne zu ändern (siehe Besondere Bemerkungen).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Im gesamten Text ist „Verdächtiger oder Beschuldigter“ durch „Person, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde“ zu ersetzen.

4.2   Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a: nach „Vernehmung“ ist „und Verhandlung“ zu ergänzen.

4.3   Artikel 4 Absatz 1: „vertritt“ ist zu ersetzen durch „unterstützt“.

4.4   Artikel 4 Absatz 2: nach „Vernehmungen und Verhandlungen“ ist zu ergänzen „der Person, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde,“ sowie nach „aufgezeichnet werden“ ist zu ergänzen „, und seine Bemerkungen dem Vernehmungsprotokoll als Anlage beifügen zu lassen“.

4.5   Artikel 4 Absatz 4: „zu prüfen“ ist zu ersetzen durch „festzustellen“, nach „Zweck“ ist einzufügen „möglichst raschen“, nach „festgehalten wird“ ist einzufügen, und kann seine Bemerkungen zu den Akten nehmen lassen.

4.6   Artikel 5, Titel: „Kontaktaufnahme“ ist zu ersetzen durch „Benachrichtigung“, Absatz 1: „zu mindestens einer von ihr benannten Person Kontakt aufzunehmen“ ist zu ersetzen durch „mindestens eine von ihr benannte Person zu benachrichtigen“.

4.7   Artikel 5 Absatz 2: betrifft nicht die deutsche Fassung [„Kind“ in der französischen Fassung ist zu ersetzen durch „Minderjähriger“].

4.8   Artikel 6: „mit ihnen in Kontakt zu treten“ ist zu ersetzen durch „und sie zu benachrichtigen“.

4.9   Artikel 8 Buchstabe a nach „abzuwehren“ ist einzufügen „und den ordnungsgemäßen Ablauf der Ermittlungen nicht zu beeinträchtigen“.

4.10   Artikel 8 zweiter Unterabsatz: „Justizbehörde“ ist zu ersetzen durch „zuständige Behörde“.

4.11   Artikel 11 Absatz 2 dritter Spiegelstrich: nach „aufgezeichnet werden“ ist zu ergänzen „, und seine Bemerkungen dem Vernehmungsprotokoll als Anlage beifügen zu lassen“.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 48–50.

(2)  Nach Artikel 7 des Vorschlags für eine Richtlinie über das Recht auf Belehrung in Strafverfahren muss jedem Verdächtigen oder Beschuldigten bzw. seinem Rechtsbeistand Einsicht in die Prozessakten gewährt werden.

(3)  Anmerkung der Übersetzung: Im Französischen wird „constater“ vorgeschlagen, da dies nach Auffassung des Berichterstatters das englische „to check up“ korrekter wiedergibt.