URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

2. April 2020 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Dienstleistungsverkehr – Direktversicherung (Lebensversicherung) – Richtlinie 2002/83/EG – Art. 35 und 36 – Rücktrittsrecht und ‑frist – Fehlerhafte Information über die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts – Formvoraussetzungen für die Rücktrittserklärung – Ablauf des Rücktrittsrechts – Maßgeblichkeit der Verbrauchereigenschaft des Versicherungsnehmers“

In der Rechtssache C‑20/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 20. Dezember 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Januar 2019, in dem Verfahren

kunsthaus muerz gmbh

gegen

Zürich Versicherungs AG

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie der Richter J. Malenovský und F. Biltgen,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der kunsthaus muerz gmbh, vertreten durch Rechtsanwalt D. Koch,

der Zürich Versicherungs AG, vertreten durch Rechtsanwalt P. Konwitschka,

der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 35 und 36 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (ABl. 2002, L 345, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der kunsthaus muerz gmbh und der Zürich Versicherungs AG (im Folgenden: Zürich) über die Tragweite des Rücktrittsrechts in Lebensversicherungsverträgen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 2, 5, 45 und 52 der Richtlinie 2002/83, ersetzt durch die Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (ABl. 2009, L 335, S. 1) lauteten:

„(2)

Zur Erleichterung der Aufnahme und der Ausübung der Tätigkeiten der Lebensversicherung sind gewisse Unterschiede zwischen dem Aufsichtsrecht der verschiedenen Mitgliedstaaten zu beseitigen, wobei ein angemessener Schutz der Versicherten und der Begünstigten in allen Mitgliedstaaten gewahrt bleiben muss. Zu diesem Zweck sind insbesondere die Vorschriften über die an Lebensversicherungsunternehmen gestellten finanziellen Anforderungen zu koordinieren.

(5)

Die vorliegende Richtlinie stellt folglich einen bedeutenden Abschnitt bei der Verschmelzung der einzelstaatlichen Märkte zu einem einheitlichen Binnenmarkt dar; dieser Abschnitt muss durch weitere Gemeinschaftsabschnitte ergänzt werden und soll es allen Versicherungsnehmern ermöglichen, jeden Versicherer mit Sitz in der Gemeinschaft zu wählen, der in ihr seine Geschäftstätigkeit im Rahmen der Niederlassungsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit ausübt, wobei ihnen gleichzeitig ein angemessener Schutz zu gewährleisten ist.

(45)

Bei Lebensversicherungsverträgen sollte dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit eingeräumt werden, innerhalb von 14 bis 30 Tagen von dem Vertrag zurückzutreten.

(52)

Im Rahmen eines Versicherungsbinnenmarkts wird dem Verbraucher eine größere und weiter gefächerte Auswahl von Verträgen zur Verfügung stehen. Um diese Vielfalt und den verstärkten Wettbewerb voll zu nutzen, muss er im Besitz der notwendigen Informationen sein, um den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen. Da die Dauer der Verpflichtungen sehr lang sein kann, ist diese Information für den Verbraucher noch wichtiger. Folglich sind die Mindestvorschriften zu koordinieren, damit er klare und genaue Angaben über die wesentlichen Merkmale der ihm angebotenen Produkte und über die Stellen erhält, an die etwaige Beschwerden der Versicherungsnehmer, Versicherten oder Begünstigten des Vertrages zu richten sind.“

4

Art. 1 Abs. 1 Buchst. g dieser Richtlinie bestimmte:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

g)

Mitgliedstaat der Verpflichtung: der Mitgliedstaat, in dem der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder, wenn der Versicherungsnehmer eine juristische Person ist, der Mitgliedstaat, in dem sich die Niederlassung dieser juristischen Person befindet, auf die sich der Vertrag bezieht“.

5

Art. 32 Abs. 2 dieser Richtlinie sah vor:

„Handelt es sich bei dem Versicherungsnehmer um eine natürliche Person und hat er seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehöriger er ist, so können die Parteien das Recht des Mitgliedstaats wählen, dessen Staatsangehöriger er ist.“

6

Art. 35 der Richtlinie 2002/83 bestimmte:

„(1)   Jeder Mitgliedstaat schreibt vor, dass der Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem er davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügt, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten.

Die Mitteilung des Versicherungsnehmers, dass er vom Vertrag zurücktritt, befreit ihn für die Zukunft von allen aus diesem Vertrag resultierenden Verpflichtungen.

Die übrigen rechtlichen Wirkungen des Rücktritts und die dafür erforderlichen Voraussetzungen werden gemäß dem auf den Versicherungsvertrag nach Artikel 32 anwendbaren Recht geregelt, insbesondere was die Modalitäten betrifft, nach denen der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist.

(2)   Bei Verträgen mit einer Laufzeit von höchstens sechs Monaten oder wenn der Versicherungsnehmer aufgrund seines Status oder wegen der Umstände, unter denen der Vertrag geschlossen wird, dieses besonderen Schutzes nicht bedarf, können die Mitgliedstaaten von der Anwendung von Absatz 1 absehen. Die Mitgliedstaaten legen in ihren Rechtsvorschriften die Fälle fest, in denen Absatz 1 nicht zur Anwendung gelangt.“

7

Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 sah vor:

„Vor Abschluss des Versicherungsvertrags sind dem Versicherungsnehmer mindestens die in Anhang III Buchstabe A aufgeführten Angaben mitzuteilen.“

8

Nach Anhang III Teil A Nr. a.13 dieser Richtlinie gehörten die „Modalitäten der Ausübung des Widerrufs und Rücktrittsrechts“ zu den Informationen über die Versicherungspolicen, die dem Versicherungsnehmer vor Abschluss des Vertrags mitzuteilen waren.

Österreichisches Recht

9

§ 165a des Versicherungsvertragsgesetzes (VersVG) bestimmt in der auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrag anwendbaren Fassung:

„(1)   Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen 30 Tagen nach dem Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten. Hat der Versicherer vorläufige Deckung gewährt, so gebührt ihm hiefür die ihrer Dauer entsprechende Prämie.

(2)   Hat der Versicherer der Verpflichtung zur Bekanntgabe seiner Anschrift … nicht entsprochen, so beginnt die Frist zum Rücktritt nach Abs. 1 nicht zu laufen, bevor dem Versicherungsnehmer diese Anschrift bekannt wird.

(3)   Die vorstehenden Absätze gelten nicht für Gruppenversicherungsverträge und für Verträge mit einer Laufzeit von höchstens 6 Monaten.“

10

§ 9a des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) sieht in der auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrag anwendbaren Fassung vor:

„(1)   Der Versicherungsnehmer ist bei Abschluss eines Versicherungsvertrages über ein im Inland belegenes Risiko vor Abgabe seiner Vertragserklärung schriftlich zu informieren über

1. Name, Anschrift des Sitzes und Rechtsform des Versicherungsunternehmens, gegebenenfalls auch der Zweitniederlassung, über die der Versicherungsvertrag abgeschlossen wird,

6. die Umstände, unter denen der Versicherungsnehmer den Abschluss des Versicherungsvertrages widerrufen oder von diesem zurücktreten kann. …

(3)   Ist wegen der Art des Zustandekommens des Vertrages eine schriftliche Information des Versicherungsnehmers vor Abgabe seiner Vertragserklärung nicht möglich, so wird der Informationspflicht dadurch entsprochen, dass der Versicherungsnehmer die Information spätestens gleichzeitig mit dem Versicherungsschein erhält.

(4)   Die Angaben gemäß Abs. 1 Z 1 müssen jedenfalls auch aus dem Versicherungsantrag sowie aus dem Versicherungsschein und allen anderen Deckung gewährenden Dokumenten ersichtlich sein. …“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11

kunsthaus muerz ist eine Gesellschaft nach österreichischem Recht. Sie schloss als Versicherungsnehmerin am 27. April 2005 bei Zürich eine Lebensversicherung ab.

12

Im Antragsformular wurde kunsthaus muerz darüber informiert, dass der Rücktritt der Schriftform bedürfe.

13

Am 9. Oktober 2017 erklärte kunsthaus muerz den Rücktritt von diesem Vertrag. In diesem Zusammenhang führte sie aus, dass diese Information insoweit fehlerhaft gewesen sei, als sie die Ausübung dieses Rechts unzulässigerweise an Formerfordernisse geknüpft habe, die nach dem anwendbaren nationalen Recht nicht vorgeschrieben seien. Da eine solche Information also nicht in der Lage gewesen sei, die in Art. 35 der Richtlinie 2002/83 vorgesehene Überlegungsfrist in Gang zu setzen, sei diese Frist zeitlich unbegrenzt.

14

Zürich wies dieses Vorbringen mit der Begründung zurück, dass sie nicht verpflichtet gewesen sei, kunsthaus muerz zu informieren, um die Überlegungsfrist in Gang zu setzen. Diese Information sei nämlich nur für den Versicherungsnehmer, der Verbraucher sei, vorgesehen und nicht für den gewerblichen Versicherungsnehmer.

15

Daraufhin erhob kunsthaus muerz beim Handelsgericht Wien (Österreich) Klage auf Rückzahlung der Prämien sowie auf Zahlung gesetzlicher Zinsen in Höhe von 4 % p. a.

16

Mit Urteil vom 13. August 2018 wies dieses Gericht das Klagebegehren u. a. mit der Begründung ab, dass eine allenfalls fehlerhafte Belehrung über das Rücktrittsrecht bei einem Unternehmer als Versicherungsnehmer zu keinem zeitlich unbefristeten Rücktrittsrecht führen könne, weil ein solches unbefristetes Rücktrittsrecht seine Grundlage im Verbraucherrechtsschutz habe.

17

kunsthaus muerz legte gegen diese Entscheidung beim vorlegenden Gericht Berufung ein und machte u. a. geltend, dass das Unionsrecht nicht ausdrücklich nach einer Verbrauchereigenschaft des Versicherungsnehmers differenziere, so dass jedem Versicherungsnehmer eines Lebensversicherungsvertrags ein Rücktrittsrecht unter den gleichen Voraussetzungen eingeräumt werden müsse.

18

Zürich ist dagegen der Ansicht, dass der Versicherungsnehmer im vorliegenden Fall ordnungsgemäß über sein Rücktrittsrecht belehrt worden sei und dass die bloße Anführung eines im Übrigen für den Versicherungsnehmer selbst vorteilhaften und der Rechtssicherheit dienenden Schriftformgebots für die Ausübung dieses Rechts die erteilte Auskunft nicht fehlerhaft mache. Wenn der Versicherungsnehmer Unternehmer sei, ende die Rücktrittsfrist auf jeden Fall völlig unabhängig von der Übermittlung einer entsprechenden Belehrung. Sinn und Zweck des im Unionsrecht geregelten Rücktrittsrechts sei nämlich nur der Verbraucherschutz.

19

Das vorlegende Gericht hat Zweifel hinsichtlich der Tragweite der Erkenntnisse, die aus dem Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress (C‑209/12, EU:C:2013:864), zu gewinnen sind.

20

In der Rechtssache C‑209/12 (Endress) sprach der Gerichtshof aus, dass Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG (ABl. 1990, L 330, S. 50) in der durch die Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 (ABl. 1992, L 360, S. 1) geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung) (ABl. 1992, L 360, S. 1) – deren Bestimmungen im Wesentlichen in den Art. 35 und 36 der Richtlinie 2002/83 übernommen wurden – dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Rücktrittsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt belehrt worden ist.

21

Das vorlegende Gericht weist aber darauf hin, dass der Gerichtshof zu diesem Ergebnis gelangt sei, indem er sich u. a. auf den 23. Erwägungsgrund der Zweiten Richtlinie 90/619, der im Wesentlichen im 52. Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/83 übernommen worden sei, sowie auf die Rechtsprechung zum Rücktrittsrecht, über das alle Verbraucher nach der Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (ABl. 1985, L 372, S. 31) verfügten, und insbesondere auf das Urteil vom 13. Dezember 2001, Heininger (C‑481/99, EU:C:2001:684), gestützt habe.

22

Der Gerichtshof habe insbesondere den Umstand berücksichtigt, dass sich der Versicherungsnehmer dem Versicherer gegenüber in einer schwachen Position befinde, die derjenigen eines Verbrauchers beim Abschluss eines außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrags entspreche, weil Versicherungsverträge rechtlich komplexe Finanzprodukte seien, die je nach anbietendem Versicherer große Unterschiede aufwiesen und über einen potenziell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen könnten.

23

Im vorliegenden Fall sei kunsthaus muerz kein „Verbraucher“. Obwohl das Unionsrecht keine einheitliche Definition des Verbraucherbegriffs kenne, lasse sich nämlich der Mehrzahl der einschlägigen Rechtsakte entnehmen, dass der Verbraucher eine natürliche Person sei, die bei ihrem Markthandeln nicht für berufliche oder gewerbliche und somit nur für private Zwecke tätig werde.

24

Unter diesen Umständen hat das Oberlandesgericht Wien (Österreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist die Richtlinie 2002/83 – insbesondere deren Art. 35 und Art. 36 – dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, nach der die Rücktrittsfrist unabhängig von einer (richtigen) Belehrung über das Rücktrittsrecht vor Vertragsabschluss binnen 30 Tagen nach dem Zustandekommen des Vertrages endet, (auch dann) entgegen steht, wenn der Versicherungsnehmer kein Verbraucher ist?

Zur Vorlagefrage

25

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 35 und 36 der Richtlinie 2002/83 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der die Frist für den Rücktritt von einem Lebensversicherungsvertrag auch dann, wenn der Versicherungsnehmer kein Verbraucher ist, ab dem Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zu laufen beginnt, selbst wenn in den Informationen über die Modalitäten der Ausübung dieses Rücktrittsrechts, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitgeteilt hat, eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht erforderlich ist.

26

Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits klarstellen konnte, dass die Art. 35 und 36 der Richtlinie 2002/83 dahin auszulegen sind, dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitteilt, eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht oder den Bestimmungen des Vertrags nicht vorgeschrieben ist, solange dem Versicherungsnehmer durch die Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Das nationale Gericht wird im Wege einer Gesamtwürdigung, bei der insbesondere dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen sein wird, zu prüfen haben, ob dem Versicherungsnehmer diese Möglichkeit durch den in den ihm mitgeteilten Informationen enthaltenen Fehler genommen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u. a., C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18, EU:C:2019:1123, Rn. 82).

27

Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist demnach zu prüfen, ob eine solche Auslegung der Art. 35 und 36 der Richtlinie 2002/83 von der Verbrauchereigenschaft des Versicherungsnehmers abhängt.

28

Bei der Auslegung einer Unionsvorschrift sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 19. Dezember 2013, Koushkaki, C‑84/12, EU:C:2013:862, Rn. 34, vom 16. November 2016, Hemming u. a., C‑316/15, EU:C:2016:879, Rn. 27, und vom 25. Januar 2017, Vilkas, C‑640/15, EU:C:2017:39, Rn. 30).

29

Zunächst ist aber festzustellen, dass weder der Wortlaut der Art. 35 und 36 der Richtlinie 2002/83 noch im Übrigen derjenige des 45. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie, der das in Art. 35 der Richtlinie verankerte Rücktrittsrecht ankündigt, nach der Verbrauchereigenschaft der Versicherungsnehmer unterscheiden.

30

Des Weiteren meint das vorlegende Gericht, dass kunsthaus muerz nicht als „Verbraucher“ eingestuft werden könne, weil es eine juristische Person sei und nur natürliche Personen Verbraucher sein könnten. Ohne dass es notwendig wäre, über die Tragweite des Verbraucherbegriffs im Unionsrecht zu entscheiden, genügt zur Beantwortung der Vorlagefrage der Hinweis, dass sich jedenfalls aus dem Zusammenhang ergibt, in dem Art. 35 der Richtlinie 2002/83 steht, dass sowohl natürliche Personen als auch juristische Personen Versicherungsnehmer im Sinne dieser Bestimmung sein können.

31

Zum einen definiert nämlich Art. 1 Abs. 1 Buchst. g dieser Richtlinie den „Mitgliedstaat der Verpflichtung“ als den „Mitgliedstaat, in dem der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder, wenn der Versicherungsnehmer eine juristische Person ist, der Mitgliedstaat, in dem sich die Niederlassung dieser juristischen Person befindet, auf die sich der Vertrag bezieht“.

32

Zum anderen können die Parteien nur dann nach Art. 32 Abs. 2 dieser Richtlinie das Recht des Mitgliedstaats wählen, dessen Staatsangehöriger der Versicherungsnehmer ist, wenn es sich bei diesem um eine natürliche Person handelt und er seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in einem anderen Mitgliedstaat hat als dem, dessen Staatsangehöriger er ist.

33

Außerdem räumt Art. 35 Abs. 2 der Richtlinie 2002/83 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, diesen Schutz auszuschließen, „wenn der Versicherungsnehmer aufgrund seines Status oder wegen der Umstände, unter denen der Vertrag geschlossen wird, dieses besonderen Schutzes nicht bedarf“. Der nach dieser Richtlinie vorgesehene Schutz erstreckt sich also zwangsläufig auf jede Kategorie von Versicherungsnehmern, es sei denn, die Mitgliedstaaten machen von dieser Möglichkeit Gebrauch, z. B., indem sie diesen Schutz für gewerbliche Versicherungsnehmer ausschließen. Nach Art. 35 Abs. 2 der Richtlinie müsste eine solche Beschränkung jedoch durch das auf den Vertrag anzuwendende nationale Recht vorgesehen werden, was im vorliegenden Fall vom vorlegenden Gericht für das österreichische Recht zu prüfen ist.

34

Schließlich wird diese Auslegung der Art. 35 und 36 der Richtlinie 2002/83 durch deren Zielsetzungen bestätigt, die insbesondere in den Erwägungsgründen 2 und 5 dieser Richtlinie dargelegt werden, wonach durch diese Richtlinie ein angemessener Schutz der Versicherten und der Begünstigten in allen Mitgliedstaaten gewahrt bleiben und allen Versicherungsnehmern ermöglicht werden soll, jeden Versicherer mit Sitz in der Europäischen Union zu wählen.

35

Diesen Zielsetzungen liefe es nämlich zuwider, wenn nach persönlichen Merkmalen der Versicherten und insbesondere nach ihrer Verbrauchereigenschaft unterschieden würde, da dies eine Beschränkung des durch die Richtlinie 2002/83 gewährten Schutzes mit sich brächte.

36

Diese Auslegung der Art. 35 und 36 der Richtlinie 2002/83 kann entgegen den Ausführungen von Zürich nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass im 52. Erwägungsgrund dieser Richtlinie der Begriff „Verbraucher“ verwendet wird. In diesem Erwägungsgrund lässt nämlich nichts den Schluss zu, dass das Erfordernis, Informationen über das Rücktrittsrecht zu erteilen, ausschließlich für Versicherungsnehmer gilt, die Verbraucher sind.

37

Das gilt ebenso für die Erwägungen in Bezug auf Verbraucher, die der Gerichtshof in seinem Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress (C‑209/12, EU:C:2013:864), im Rahmen der Entscheidung angestellt hat, dass in Fällen, in denen der Versicherungsnehmer keine Informationen darüber erhalten hat, dass er ein Rücktrittsrecht hat, die Frist für die Ausübung dieses Rechts nicht zu laufen beginnen kann.

38

Um zu diesem Ergebnis zu kommen, hat sich der Gerichtshof zwar zum einen auf den 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 90/619 gestützt, der im Wesentlichen dem 52. Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/83 entspricht, und hat zum anderen seine Erwägungen im Urteil vom 13. Dezember 2001, Heininger (C‑481/99, EU:C:2001:684), in dem es um ein Vorabentscheidungsersuchen über die Bestimmungen der Richtlinie 85/577 betreffend den Verbraucherschutz im Fall von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen geht, auf die Bestimmungen im Versicherungsbereich übertragen (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u. a., C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18, EU:C:2019:1123, Rn. 63).

39

Es ist jedoch festzustellen, dass – wie aus den Rn. 28 und 29 des Urteils vom 19. Dezember 2013, Endress (C‑209/12, EU:C:2013:864), hervorgeht – der Vergleich zwischen Versicherungsnehmern und Verbrauchern, den der Gerichtshof in diesem Urteil angestellt hat, nur auf dem Vorliegen von Gemeinsamkeiten in ihrer vertraglichen Situation beruht, nämlich den Risiken, die mit dem Abschluss eines Versicherungsvertrags verbunden sind, wenn eine dem Unionsrecht entsprechende Information fehlt, und dem Umstand, dass sich der Versicherungsnehmer dem Versicherer gegenüber in einer schwachen Position befindet, da Versicherungsverträge zum einen rechtlich komplexe Finanzprodukte sind und zum anderen über einen potenziell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen können. Es ist nicht davon auszugehen, dass diese Umstände in Bezug auf Versicherungsnehmer, die keine Verbraucher sind, nicht vorliegen können.

40

Allerdings hat das nationale Gericht zu berücksichtigen, ob der Versicherungsnehmer ein Verbraucher ist, wenn es – wie in Rn. 26 des vorliegenden Urteils angeführt – im Wege einer Gesamtwürdigung, bei der insbesondere dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen ist, prüft, ob dem Versicherungsnehmer durch den in den ihm mitgeteilten Informationen enthaltenen Fehler die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben.

41

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 35 und 36 der Richtlinie 2002/83 dahin auszulegen sind, dass sie auch für Versicherungsnehmer gelten, die keine Verbraucher sind, und einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der die Frist für den Rücktritt von einem Lebensversicherungsvertrag ab dem Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zu laufen beginnt, selbst wenn in den Informationen über die Modalitäten der Ausübung dieses Rücktrittsrechts, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitgeteilt hat, eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht erforderlich ist, solange dem Versicherungsnehmer durch diese Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Das vorlegende Gericht hat im Wege einer Gesamtwürdigung, bei der insbesondere dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen ist, einschließlich einer etwaigen Verbrauchereigenschaft des Versicherungsnehmers, zu prüfen, ob dem Versicherungsnehmer diese Möglichkeit durch den in den ihm mitgeteilten Informationen enthaltenen Fehler genommen wurde.

Kosten

42

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Art. 35 und 36 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen sind dahin auszulegen, dass sie auch für Versicherungsnehmer gelten, die keine Verbraucher sind, und einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der die Frist für den Rücktritt von einem Lebensversicherungsvertrag ab dem Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zu laufen beginnt, selbst wenn in den Informationen über die Modalitäten der Ausübung dieses Rücktrittsrechts, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitgeteilt hat, eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht erforderlich ist, solange dem Versicherungsnehmer durch diese Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Das vorlegende Gericht hat im Wege einer Gesamtwürdigung, bei der insbesondere dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen ist, einschließlich einer etwaigen Verbrauchereigenschaft des Versicherungsnehmers, zu prüfen, ob dem Versicherungsnehmer diese Möglichkeit durch den in den ihm mitgeteilten Informationen enthaltenen Fehler genommen wurde.

 

Rossi

Malenovský

Biltgen

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 2. April 2020.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Die Präsidentin der Achten Kammer

L. S. Rossi


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.