URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

16. Februar 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Internationale Kindesentführung – Haager Übereinkommen von 1980 – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 11 – Antrag auf Rückgabe eines Kindes – Rechtskräftige Entscheidung, mit der die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird – Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen die Vollstreckung dieser Entscheidung im Fall eines von bestimmten nationalen Stellen gestellten Antrags von Rechts wegen ausgesetzt wird“

In der Rechtssache C‑638/22 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 12. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Oktober 2022, in dem Verfahren

T. C.,

Rzecznik Praw Dziecka,

Prokurator Generalny,

Beteiligte:

M. C.,

Prokurator Prokuratury Okręgowej we Wrocławiu,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Dezember 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von T. C., vertreten durch I. Antkowiak, Adwokat, M. Bieszczad, Radca prawny, und D. Kosobucki, Adwokat,

von M. C., vertreten durch A. Śliwicka, Adwokat,

des Prokurator Generalny, vertreten durch S. Bańko, R. Hernand und E. Tkacz,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und E. Timmermans als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Hottiaux und S. Noë als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Januar 2023

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1) sowie von Art. 22, Art. 24, Art. 27 Abs. 6 und Art. 28 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (ABl. 2019, L 178, S. 1) in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens, das von T. C., dem Vater von zwei minderjährigen Kindern, eingeleitet wurde und auf die Vollstreckung einer Entscheidung über die Rückgabe dieser von M. C., ihrer Mutter, nach Polen verbrachten Kinder nach Irland gerichtet ist.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Mit dem am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) wird, wie aus seiner Präambel hervorgeht, insbesondere bezweckt, das Kind vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens international zu schützen und Verfahren einzuführen, um seine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen. Dieses am 1. Dezember 1983 in Kraft getretene Übereinkommen wurde von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert.

4

Nach seinem Art. 1 Buchst. a soll es u. a. die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherstellen.

5

Art. 2 des Haager Übereinkommens von 1980 lautet:

„Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um in ihrem Hoheitsgebiet die Ziele des Übereinkommens zu verwirklichen. Zu diesem Zweck wenden sie ihre schnellstmöglichen Verfahren an.“

6

Art. 3 des Haager Übereinkommens von 1980 bestimmt:

„Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn

a)

dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und

b)

dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

…“

7

Art. 11 Abs. 1 des Haager Übereinkommens von 1980 sieht vor:

„In Verfahren auf Rückgabe von Kindern haben die Gerichte oder Verwaltungsbehörden eines jeden Vertragsstaats mit der gebotenen Eile zu handeln.“

8

Art. 12 Abs. 1 und 2 des Haager Übereinkommens von 1980 lautet:

„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.

Ist der Antrag erst nach Ablauf der in Absatz 1 bezeichneten Jahresfrist eingegangen, so ordnet das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Rückgabe des Kindes ebenfalls an, sofern nicht erwiesen ist, dass das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat.“

9

Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 sieht vor:

„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

b)

dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.“

Unionsrecht

Verordnung Nr. 2201/2003

10

In den Erwägungsgründen 17 und 33 der Verordnung Nr. 2201/2003 hieß es:

„(17)

Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das Haager Übereinkommen [von] 1980, das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, sollten dessen Rückgabe in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können. Jedoch sollte eine solche Entscheidung durch eine spätere Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats ersetzt werden können, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Sollte in dieser Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet werden, so sollte die Rückgabe erfolgen, ohne dass es in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, eines besonderen Verfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung bedarf.

(33)

Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der [Charta] anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der [Charta] zu gewährleisten“.

11

Art. 11 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmte:

„(1)   Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des [Haager Übereinkommens von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(3)   Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Absatz 1 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts.

Unbeschadet des Unterabsatzes 1 erlässt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.“

Verordnung 2019/1111

12

Art. 22 der Verordnung 2019/1111 bestimmt:

„Beantragt eine Person, Behörde oder sonstige Stelle direkt oder mit Hilfe einer Zentralen Behörde unter Berufung auf eine Verletzung des Sorgerechts bei dem Gericht eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980, mit der die Rückgabe eines Kindes unter 16 Jahren angeordnet wird, das widerrechtlich in einen anderen Mitgliedstaat als den Mitgliedstaat, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, so gelten die Artikel 23 bis 29 und Kapitel VI der vorliegenden Verordnung ergänzend zum Haager Übereinkommen von 1980.“

13

Art. 24 der Verordnung 2019/1111 sieht vor:

„(1)   Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Artikel 22 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren.

(2)   Unbeschadet des Absatzes 1 erlässt ein Gericht erster Instanz seine Entscheidung spätestens sechs Wochen nach seiner Anrufung, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.

(3)   Außer wenn dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist, erlässt ein Gericht höherer Instanz seine Entscheidung spätestens sechs Wochen, nachdem alle erforderlichen Verfahrensschritte durchgeführt wurden und das Gericht in der Lage ist, den Rechtsbehelf entweder in einer Anhörung oder auf andere Weise zu prüfen.“

14

Art. 27 Abs. 6 der Verordnung 2019/1111 lautet:

„Eine Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, kann ungeachtet der Einlegung eines Rechtsbehelfs für vorläufig vollstreckbar erklärt werden, wenn die Rückgabe des Kindes vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf aus Gründen des Kindeswohls erforderlich ist.“

15

Art. 28 der Verordnung 2019/1111 sieht vor:

„(1)   Eine für die Vollstreckung zuständige Behörde, bei der die Vollstreckung einer Entscheidung beantragt wird, mit der die Rückgabe eines Kindes in einen anderen Mitgliedstaat angeordnet wird, bearbeitet den Antrag mit gebotener Eile.

(2)   Wurde eine Entscheidung gemäß Absatz 1 nicht binnen sechs Wochen nach dem Tag der Einleitung des Vollstreckungsverfahrens vollstreckt, hat die die Vollstreckung betreibende Partei oder die Zentrale Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats das Recht, von der für die Vollstreckung zuständige[n] Behörde eine Angabe der Gründe für die Verzögerung zu verlangen.“

16

In Art. 100 der Verordnung 2019/1111 heißt es:

„(1)   Diese Verordnung gilt nur für am oder nach dem 1. August 2022 eingeleitete gerichtliche Verfahren, förmlich errichtete oder eingetragene öffentliche Urkunden und eingetragene Vereinbarungen.

(2)   Die [Verordnung Nr. 2201/2003] gilt weiter für Entscheidungen in vor dem 1. August 2022 eingeleiteten gerichtlichen Verfahren, für vor dem 1. August 2022 förmlich errichtete oder eingetragene öffentliche Urkunden und für Vereinbarungen, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie geschlossen wurden, vor dem 1. August 2022 vollstreckbar geworden sind und in den Anwendungsbereich der genannten Verordnung fallen.“

Polnisches Recht

17

Art. 388 § 1 des Kodeks postępowania cywilnego (Zivilprozessordnung) sieht vor:

„Droht eine Partei infolge der Vollstreckung einer Entscheidung einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zu erleiden, so kann das Gericht zweiter Instanz auf Antrag der Partei die Vollstreckung seiner Entscheidung bis zum Abschluss des Kassationsverfahrens aussetzen. Wurde die Berufung zurückgewiesen, kann das Gericht zweiter Instanz auch die Vollstreckung der Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts aussetzen.“

18

Art. 5182 § 1 der Zivilprozessordnung bestimmt:

„Gericht zweiter Instanz in auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 geführten Rechtssachen über die Wegnahme einer Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, ist der Sąd Apelacyjny w Warszawie [(Berufungsgericht Warschau, Polen)].“

19

Art. 5191 §§ 21 und 22 der Zivilprozessordnung lautet:

„§ 21.   Die Kassationsbeschwerde ist auch statthaft in auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 geführten Rechtssachen über die Wegnahme einer Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht.

§ 22.   Die Kassationsbeschwerde in den in § 21 genannten Rechtssachen können der Prokurator Generalny [(Generalstaatsanwalt)], der Rzecznik Praw Dziecka [(Beauftragter für Kinderrechte)] und der Rzecznik Praw Obywatelskich [(Beauftragter für Bürgerrechte)] innerhalb einer Frist von vier Monaten ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft des Beschlusses einlegen.“

20

Mit der Ustawa o zmianie ustawy Kodeks postępowania cywilnego (Gesetz zur Änderung der Zivilprozessordnung) vom 7. April 2022 (Dz. U. 2022, Position 1098), die am 24. Juni 2022 in Kraft trat (im Folgenden: Gesetz von 2022), wurde die Zivilprozessordnung geändert, indem mehrere Vorschriften über die Aussetzung von auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidungen eingefügt wurden.

21

So lautet Art. 3881 der Zivilprozessordnung, der durch das Gesetz von 2022 in die Zivilprozessordnung eingefügt wurde, wie folgt:

„§ 1.   In auf der Grundlage des [Haager Übereinkommens von 1980] geführten Rechtssachen über die Wegnahme einer Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, wird die Vollstreckung eines Beschlusses über die Wegnahme der Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, von Rechts wegen ausgesetzt, wenn eine in Art. 5191 § 22 genannte Stelle innerhalb einer Frist von höchstens zwei Wochen ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft dieses Beschlusses bei dem in Art. 5182 § 1 bezeichneten Gericht einen entsprechenden Antrag stellt.

§ 2.   Die Aussetzung der Vollstreckung des in § 1 angeführten Beschlusses endet, wenn die in Art. 5191 § 22 genannte Stelle innerhalb von zwei Monaten ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft dieses Beschlusses keine Kassationsbeschwerde einlegt.

§ 3.   Legt die in Art. 5191 § 22 genannte Stelle innerhalb von zwei Monaten ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft des in § 1 angeführten Beschlusses eine Kassationsbeschwerde ein, so wird die Aussetzung der Vollstreckung dieses Beschlusses von Rechts wegen bis zum Abschluss des Kassationsverfahrens verlängert.

§ 4.   Die Stelle, die den Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung des in § 1 angeführten Beschlusses gestellt hat, kann diesen Antrag innerhalb von zwei Monaten ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft des Beschlusses zurücknehmen, es sei denn, eine der in Art. 5191 § 22 genannten Stellen hat eine Kassationsbeschwerde eingelegt.

§ 5.   Durch die Rücknahme des Antrags auf Aussetzung der Vollstreckung des in § 1 angeführten Beschlusses wird dieser Beschluss vollstreckbar.“

22

In Art. 3883 der Zivilprozessordnung, der durch das Gesetz von 2022 in die Zivilprozessordnung eingefügt wurde, heißt es:

„Die Einlegung einer außerordentlichen Beschwerde im Sinne von Art. 89 der Ustawa o Sądzie Najwyższym [(Gesetz über das Oberste Gericht)] vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2021, Position 1904, und 2022, Position 480) in einer auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 geführten Rechtssache über die Wegnahme einer Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, hat zur Folge, dass die Vollstreckung des Beschlusses über die Wegnahme der Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, von Rechts wegen bis zum Abschluss des Verfahrens über diese Beschwerde ausgesetzt wird.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

23

Die polnischen Staatsangehörigen T. C. und M. C. sind die Eltern der minderjährigen Kinder N. C. und M. C.(1) (im Folgenden zusammen: minderjährige Kinder), die 2011 bzw. 2017 in Irland geboren wurden. Diese Familie wohnt seit mehreren Jahren in diesem Mitgliedstaat, wo T. C. und M. C. eine feste Beschäftigung haben. M. C. ist jedoch zurzeit wegen einer Erkrankung längerfristig arbeitsunfähig.

24

Im Sommer 2021 fuhr M. C. mit Zustimmung von T. C. mit den minderjährigen Kindern in die Ferien nach Polen. Im September 2021 teilte M. C. T. C. mit, dass sie mit den Kindern dauerhaft in diesem Mitgliedstaat bleiben werde. T. C. hat einer solchen dauerhaften Verbringung der Kinder nie zugestimmt.

25

Am 18. November 2021 beantragte T. C. beim Sąd Okręgowy we Wrocławiu (Regionalgericht Wrocław [Breslau]) auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980, M. C. aufzugeben, die Rückgabe der minderjährigen Kinder nach Irland sicherzustellen. Mit Beschluss vom 15. Juni 2022 gab dieses Gericht M. C. auf, diese Rückgabe innerhalb von sieben Tagen ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft dieses Beschlusses sicherzustellen.

26

M. C. legte gegen diesen Beschluss beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau), dem vorlegenden Gericht, Beschwerde ein. Dieses Gericht wies die Beschwerde mit Beschluss vom 21. September 2022 als unbegründet zurück, da M. C. sich auf keinen der Gründe für die Ablehnung der Anordnung der Rückgabe der minderjährigen Kinder nach Irland berufen könne. Dieser Beschluss wurde am 28. September 2022 vollstreckbar, ohne dass M. C. der Anordnung, die Rückgabe der Kinder nach Irland sicherzustellen, nachgekommen wäre.

27

Am 29. September 2022 beantragte T. C. bei dem vorlegenden Gericht, ihm eine Ausfertigung des Beschlusses vom 21. September 2022 mit einem Vermerk über seine Vollstreckbarkeit zu übersenden.

28

Am 30. September 2022 und am 5. Oktober 2022 stellten der Beauftragte für Kinderrechte und der Generalstaatsanwalt gemäß Art. 3881 § 1 der Zivilprozessordnung in der durch das Gesetz von 2022 geänderten Fassung Anträge auf Aussetzung der Vollstreckung der rechtskräftigen Beschlüsse vom 15. Juni und vom 21. September 2022.

29

Am 21. November 2022 legten der Beauftragte für Kinderrechte und der Generalstaatsanwalt gegen den Beschluss vom 21. September 2022 Kassationsbeschwerden beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) ein.

30

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass Sachentscheidungen eines zweitinstanzlichen Gerichts im Allgemeinen rechtskräftig und vollstreckbar seien, auch wenn gegen sie eine Kassationsbeschwerde beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eingelegt werden könne. Vor dem Inkrafttreten des Gesetzes von 2022 sei die einzige Ausnahme von dieser Regel in Art. 388 der Zivilprozessordnung vorgesehen gewesen. Nach diesem Artikel könne das zweitinstanzliche Gericht die Vollstreckbarkeit einer rechtskräftigen Entscheidung bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) aussetzen, wenn die Vollstreckung dieser Entscheidung einer Partei einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen könne.

31

Nach Art. 3881 der Zivilprozessordnung, der durch das Gesetz von 2022 in die Zivilprozessordnung eingefügt worden sei, hätten indessen der Generalstaatsanwalt, der Beauftragte für Kinderrechte und der Beauftragte für Bürgerrechte (im Folgenden zusammen: befugte Stellen) nunmehr die Möglichkeit, die Aussetzung der Vollstreckung einer Entscheidung zu erwirken, mit der die Rückgabe von Kindern nach dem Haager Übereinkommen von 1980 angeordnet werde, wenn sie dies innerhalb einer Frist von höchstens zwei Wochen ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft der Entscheidung beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) beantragten. Aus den vom vorlegenden Gericht übermittelten Informationen geht hervor, dass die befugten Stellen nicht verpflichtet sind, ihren Antrag zu begründen. Ein solcher Antrag führt zu einer Aussetzung von Rechts wegen für einen Zeitraum von mindestens zwei Monaten.

32

Wenn diese Stellen nämlich in diesem Zeitraum keine Kassationsbeschwerde gegen eine Rückgabeentscheidung beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einlegen, endet die Aussetzung ihrer Vollstreckung. Wird dagegen innerhalb dieses Zeitraums eine Kassationsbeschwerde eingelegt, wird die Aussetzung gemäß Art. 3881 § 3 der Zivilprozessordnung in der durch das Gesetz von 2022 geänderten Fassung von Rechts wegen bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) verlängert.

33

Darüber hinaus könnten diese Stellen nach den Angaben des vorlegenden Gerichts, selbst wenn der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) die Kassationsbeschwerde zurückweisen sollte, auf der Grundlage von Art. 3883 der Zivilprozessordnung in der durch das Gesetz von 2022 geänderten Fassung erneut eine entsprechende Aussetzung erwirken, indem sie eine außerordentliche Beschwerde nach diesem Artikel einlegten.

34

In Anbetracht dieser Erwägungen fragt sich das vorlegende Gericht, ob Art. 3881 der Zivilprozessordnung in der durch das Gesetz von 2022 geänderten Fassung mit dem der Verordnung Nr. 2201/2003 zugrunde liegenden Beschleunigungsgebot und insbesondere mit Art. 11 Abs. 3 dieser Verordnung vereinbar ist.

35

Im Übrigen sähen die geltenden polnischen Rechtsvorschriften im Wesentlichen vor, dass Stellen, die nicht als Gericht eingestuft werden könnten, die Möglichkeit hätten, die Aussetzung der Vollstreckung einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung herbeizuführen, ohne dass die Ausübung dieser Befugnis irgendeiner gerichtlichen Kontrolle unterliege. Dies werfe Fragen hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Rechtsvorschriften mit Art. 47 der Charta auf, da den Parteien eines Rückgabeverfahrens dadurch ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz genommen werde.

36

Angesichts der Tatsache, dass der Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes von 2022 nur einige Tage vor dem Geltungsbeginn der Verordnung 2019/1111 liegt, die das der Verordnung Nr. 2201/2003 zugrunde liegende Beschleunigungsgebot verstärkt, wirft das vorlegende Gericht außerdem die Frage auf, ob die durch dieses Gesetz in die Zivilprozessordnung eingefügten Bestimmungen mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit vereinbar sind.

37

Schließlich fragt sich das vorlegende Gericht für den Fall, dass der Gerichtshof bestätigen sollte, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 diesem Gesetz entgegensteht, ob es verpflichtet ist, dieses Gesetz gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet zu lassen.

38

Unter diesen Umständen hat der Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 sowie Art. 22, Art. 24, Art. 27 Abs. 6 und Art. 28 Abs. 1 und 2 der Verordnung 2019/1111 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift entgegen, wonach in auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 geführten Rechtssachen über die Wegnahme einer Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, auf Antrag [der befugten Stellen], der beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) innerhalb von zwei Wochen ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft des Beschlusses über die Wegnahme der Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, eingereicht wird, die Vollstreckung dieses Beschlusses von Rechts wegen ausgesetzt wird?

Zum Antrag auf Anwendung des Eilvorabentscheidungsverfahrens

39

Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

40

Zur Begründung seines Antrags hat dieses Gericht Gründe angeführt, die mit dem Wohl der minderjährigen Kinder zusammenhängen. Insbesondere bestehe die Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens für das Eltern-Kind-Verhältnis und das Wohlergehen dieser Kinder aufgrund der Trennung von ihrem Vater, die dadurch verlängert werde, dass der Beauftragte für Kinderrechte und der Generalstaatsanwalt von ihrer Befugnis Gebrauch gemacht hätten, die Aussetzung der Vollstreckung der Entscheidung über die Rückgabe nach Irland zu erwirken.

41

Erstens ist festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung insbesondere der Bestimmungen der u. a. auf der Grundlage von Art. 61 Buchst. c EG, jetzt Art. 67 AEUV, erlassenen Verordnung Nr. 2201/2003 und der Bestimmungen der auf der Grundlage von Art. 81 Abs. 3 AEUV erlassenen Verordnung 2019/1111 betrifft. Diese Rechtsakte fallen daher unter Titel V des Dritten Teils des AEU-Vertrags über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Folglich kann diese Vorlage dem Eilvorabentscheidungsverfahren unterworfen werden.

42

Was zweitens die Voraussetzung der Dringlichkeit betrifft, geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die minderjährigen Kinder seit mehr als einem Jahr von ihrem Vater getrennt sind und dass die Verlängerung dieser Situation ihre künftige Beziehung zu ihrem Vater ernsthaft beeinträchtigen könnte.

43

Unter diesen Umständen hat die Dritte Kammer des Gerichtshofs am 26. Oktober 2022 auf Vorschlag der Berichterstatterin und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

44

Der Generalstaatsanwalt und – im Wesentlichen – M. C. halten das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig.

45

Erstens sei, so der Generalstaatsanwalt, die Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts hypothetisch und für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erforderlich. Dieser sei nämlich bereits rechtskräftig entschieden, und das vorlegende Gericht verfüge über keinerlei Zuständigkeit in Bezug auf die Aussetzung der Vollstreckung der im ersten und im zweiten Rechtszug erlassenen rechtskräftigen Beschlüsse über die Rückgabe, da diese Aussetzung von Rechts wegen erfolge.

46

Zweitens macht der Generalstaatsanwalt geltend, dass die Frage unzulässig sei, soweit das vorlegende Gericht um die Auslegung der Verordnung 2019/1111 ersuche, obwohl diese Verordnung im vorliegenden Fall in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar sei.

47

An erster Stelle ist darauf hinzuweisen, dass nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. November 2022, Varhoven administrativen sad [Aufhebung der angefochtenen Vorschrift], C‑289/21, EU:C:2022:920, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts kann demnach vom Gerichtshof nur dann zurückgewiesen werden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits in keinem Zusammenhang steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 24. November 2022, Varhoven administrativen sad [Aufhebung der angefochtenen Vorschrift], C‑289/21, EU:C:2022:920, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Wendung „Erlass seines Urteils“ im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV das gesamte Verfahren umfasst, das zu dem Urteil des vorlegenden Gerichts führt. Diese Wendung ist weit auszulegen, um zu verhindern, dass zahlreiche Verfahrensfragen als unzulässig angesehen werden und nicht Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof sein können und dieser nicht über die Auslegung aller Vorschriften des Unionsrechts entscheiden kann, die das vorlegende Gericht anwenden muss (Urteil vom 21. November 2019, Procureur-Generaal bij de Hoge Raad der Nederlanden, C‑678/18, EU:C:2019:998, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Insoweit ergibt sich erstens aus der Vorlageentscheidung und den Erklärungen der Parteien in der mündlichen Verhandlung zum einen, dass T. C. bei dem vorlegenden Gericht einen Antrag gestellt hat, um die Vollstreckung des Beschlusses vom 21. September 2022 zu erwirken, mit dem dieses Gericht die Rückgabe der minderjährigen Kinder nach Irland angeordnet hat. Zum anderen wäre dieses Gericht nach Art. 3881 der Zivilprozessordnung in der durch das Gesetz von 2022 geänderten Fassung verpflichtet, den Anträgen des Generalstaatsanwalts und des Beauftragten für Kinderrechte auf Aussetzung dieser Vollstreckung stattzugeben.

51

Unter diesen Umständen zeigt sich, wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausführt, dass das vorlegende Gericht mit widerstreitenden Anträgen befasst ist, die zum einen von T. C. und zum anderen vom Generalstaatsanwalt und vom Beauftragten für Kinderrechte gestellt wurden. Diese Anträge spiegeln das Vorliegen eines „Rechtsstreits“ zwischen diesen Parteien wider, der die Vollstreckung des Beschlusses vom 21. September 2022 über die Rückgabe betrifft und in Bezug auf den dieses Gericht im Rahmen der genannten Anträge ein Urteil im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV zu erlassen hat.

52

Was zweitens den Zusammenhang zwischen der Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts und den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits betrifft, geht aus der Vorlageentscheidung klar hervor, dass diese Frage dem vorlegenden Gericht die Feststellung ermöglichen soll, ob die Bestimmungen der Verordnungen Nr. 2201/2003 und 2019/1111 dahin auszulegen sind, dass sie Art. 3881 der Zivilprozessordnung in der durch das Gesetz von 2022 geänderten Fassung entgegenstehen, und ob es diesen Artikel gegebenenfalls unangewendet lassen muss. Damit legt das vorlegende Gericht hinreichend dar, dass eine Antwort des Gerichtshofs auf die Frage im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV „erforderlich“ ist, damit es über eine etwaige Aussetzung der Vollstreckung der in Rede stehenden Rückgabeentscheidung befinden kann.

53

An zweiter Stelle kann die Zulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens nicht durch das Vorbringen des Generalstaatsanwalts in Frage gestellt werden, dass die Verordnung 2019/1111 im vorliegenden Fall in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar sei. Wenn nämlich nicht offensichtlich ist, dass die Auslegung eines Rechtsakts der Union in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, dann betrifft der Einwand der Unanwendbarkeit dieses Rechtsakts auf das Ausgangsverfahren nicht die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, sondern den Inhalt der gestellten Fragen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a.,C‑295/04 bis C‑298/04, EU:C:2006:461, Rn. 30, und vom 19. Dezember 2019, Dobersberger, C‑16/18, EU:C:2019:1110, Rn. 21).

54

Unter diesen Umständen ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zur Vorlagefrage

55

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die Vorlagefrage zwar sowohl die Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 als auch der Bestimmungen der Verordnung 2019/1111 betrifft, dass jedoch in zeitlicher Hinsicht nur die erste dieser Verordnungen auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist. Aus Art. 100 Abs. 2 der Verordnung 2019/1111 ergibt sich nämlich, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 nach dem Inkrafttreten der Verordnung 2019/1111 weiterhin für vor dem 1. August 2022 eingeleitete Verfahren gilt. Im vorliegenden Fall hat T. C., wie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils ausgeführt, seinen Antrag beim Sąd Okręgowy we Wrocławiu (Regionalgericht Wrocław) am 18. November 2021 gestellt.

56

Insoweit ist der Antrag von T. C., mit dem die Vollstreckung des Beschlusses vom 21. September 2022 über die Rückgabe erwirkt werden soll, zwar nach dem 1. August 2022 gestellt worden, doch geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen hervor, dass dieser Antrag kein unabhängiges Verfahren darstellt, sondern einen Abschnitt des Rückgabeverfahrens, das auf dem von T. C. am 18. November 2021 gestellten Antrag auf Anordnung der Rückgabe der minderjährigen Kinder nach Irland beruht.

57

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen Stellen, die nicht den Status eines Gerichts haben, die Aussetzung der Vollstreckung einer auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Rückgabeentscheidung von Rechts wegen für eine Dauer von mindestens zwei Monaten erwirken können, ohne ihren Antrag auf Aussetzung begründen zu müssen.

58

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 ein Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes beantragt wird, sich mit gebotener Eile mit dem Antrag befasst und sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts bedient. Das Gericht hat seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag zu erlassen, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.

59

An erster Stelle sind nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 67).

60

Zunächst geht aus dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 und insbesondere aus der Verwendung der Begriffe „mit gebotener Eile“ und „zügigsten“ hervor, dass die zuständigen Gerichte der Mitgliedstaaten, wenn ein Kind widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem es unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, verpflichtet sind, innerhalb einer besonders kurzen und strikten Frist eine Entscheidung über die Rückgabe des betreffenden Kindes zu erlassen. Eine solche Entscheidung muss grundsätzlich spätestens innerhalb von sechs Wochen nach der Anrufung dieser Gerichte unter Anwendung der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts ergehen. Eine Abweichung von dieser Regel ist nur unter „außergewöhnlichen Umständen“ möglich.

61

Sodann wird diese Auslegung durch den Kontext bestätigt, in den sich Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 einfügt, und insbesondere durch die einschlägigen Bestimmungen des Haager Übereinkommens von 1980.

62

Denn die Verordnung Nr. 2201/2003 ergänzt und präzisiert, insbesondere in ihrem Art. 11, die Regeln des Haager Übereinkommens von 1980 über das Verfahren zur Rückgabe widerrechtlich verbrachter Kinder. Die Art. 8 bis 11 dieses Übereinkommens und Art. 11 dieser Verordnung stellen somit eine untrennbare Gesamtheit von Rechtsnormen für die Verfahren zur Rückgabe innerhalb der Union widerrechtlich verbrachter Kinder dar (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/13 [Beitritt von Drittstaaten zum Haager Übereinkommen] vom 14. Oktober 2014, EU:C:2014:2303, Rn. 77 und 78).

63

Aufgrund der Überschneidung und der engen Verbindung zwischen den Bestimmungen der Verordnung und denen des Übereinkommens sind dessen Bestimmungen demnach geeignet, sich auf den Sinn, die Tragweite und die Wirksamkeit der Vorschriften der Verordnung auszuwirken (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/13 [Beitritt von Drittstaaten zum Haager Übereinkommen] vom 14. Oktober 2014, EU:C:2014:2303, Rn. 85).

64

So wird erstens mit dem Haager Übereinkommen von 1980 nach seiner Präambel und seinem Art. 1 Buchst. a das Ziel einer sofortigen Rückgabe des betreffenden Kindes an seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort verfolgt. Zweitens verpflichtet Art. 2 Satz 2 dieses Übereinkommens die Organe der Vertragsstaaten, bei der Behandlung eines Rückgabeantrags ihre schnellstmöglichen Verfahren anzuwenden. Drittens haben nach Art. 11 Abs. 1 des Übereinkommens die Gerichte oder Verwaltungsbehörden eines jeden Vertragsstaats in Verfahren auf Rückgabe von Kindern mit der gebotenen Eile zu handeln. Viertens zählt Art. 13 des Übereinkommens einschränkend die Fälle auf, in denen das Gericht des ersuchten Vertragsstaats nicht verpflichtet ist, die Rückgabe des Kindes anzuordnen. Insbesondere ist das Gericht nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 nicht verpflichtet, die Rückgabe eines Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

65

Aus der Gesamtheit dieser Bestimmungen ergibt sich, dass nach dem Haager Übereinkommen von 1980 zum einen, wenn ein Kind widerrechtlich von seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort an einen anderen Ort verbracht worden ist, die Rückgabe des Kindes sofort nach den schnellstmöglichen im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren erfolgen muss. Zum anderen kann die Anordnung der Rückgabe nur unter außergewöhnlichen Umständen unterbleiben, insbesondere im Fall einer schwerwiegenden Gefahr für das Kind.

66

Schließlich bestätigen auch die Ziele der Verordnung Nr. 2201/2003 und insbesondere ihres Art. 11 Abs. 3 die Feststellungen in den Rn. 60 und 65 des vorliegenden Urteils.

67

So hat der Gerichtshof erstens bereits entschieden, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 auf der Leitidee beruht, dass dem Kindeswohl der Vorrang gebührt. Insbesondere soll die Verordnung darauf hinwirken, dass von Kindesentführungen zwischen Mitgliedstaaten Abstand genommen wird und dass, wenn es zu einer Entführung kommt, die Rückgabe des Kindes unverzüglich erwirkt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2008, Rinau, C‑195/08 PPU, EU:C:2008:406, Rn. 51 und 52).

68

Zweitens sollte nach dem 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden. Außerdem sollten die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, seine Rückgabe nur in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können.

69

Drittens besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eines der Ziele von Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 in der Wiederherstellung des status quo ante, d. h. der Situation vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten des Kindes (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2017, OL, C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 61).

70

Viertens hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass ein Rückgabeverfahren seinem Wesen nach ein Eilverfahren ist, da es, wie in der Präambel des Haager Übereinkommens von 1980 und im 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehen, die unverzügliche Rückgabe des Kindes sicherstellen soll (Urteil vom 8. Juni 2017, OL, C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 57).

71

Somit ergibt sich aus einer wörtlichen, systematischen und teleologischen Auslegung von Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003, dass diese Bestimmung zum einen ein Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem die Rückgabe eines widerrechtlich vom Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts an einen anderen Ort entführten Kindes beantragt wird, verpflichtet, über den entsprechenden Antrag grundsätzlich spätestens innerhalb von sechs Wochen nach seiner Anrufung unter Anwendung der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts zu entscheiden. Zum anderen kann die Anordnung der Rückgabe eines widerrechtlich entführten Kindes nur in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Ausnahmefällen unterbleiben.

72

Zwar betreffen die Verpflichtungen aus Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 das Verfahren zum Erlass einer Rückgabeentscheidung. Wie der Generalanwalt in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist jedoch davon auszugehen, dass das für den Erlass einer Rückgabeentscheidung geltende Gebot der Wirksamkeit und der Zügigkeit für die nationalen Stellen auch im Rahmen der Vollstreckung einer solchen Entscheidung gilt. Art. 11 Abs. 3 würde nämlich seiner praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn das nationale Recht es erlauben würde, die Vollstreckung einer rechtskräftigen Entscheidung, mit der die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird, auszusetzen.

73

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs darf indessen die Anwendung nationaler materiell-rechtlicher und verfahrensrechtlicher Vorschriften die praktische Wirksamkeit der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2008, Rinau, C‑195/08 PPU, EU:C:2008:406, Rn. 82).

74

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 dadurch, dass sie Verpflichtungen auferlegt, die auf den schnellstmöglichen Erlass – und demnach die schnellstmögliche Vollstreckung – einer Entscheidung abzielen, mit der nach einer widerrechtlichen Entführung eine unverzügliche Rückgabe des Kindes an den Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts ermöglicht wird, entsprechend ihrem 33. Erwägungsgrund die Wahrung der mit der Charta garantierten Grundrechte und insbesondere der Grundrechte des Kindes im Sinne von Art. 24 der Charta gewährleisten soll.

75

Insoweit ist in Art. 7 der Charta das Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens niedergelegt. Diese Bestimmung ist in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des durch Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannten Kindeswohls zu lesen. Somit ist das in Art. 24 Abs. 3 der Charta niedergelegte Erfordernis zu berücksichtigen, dass ein Kind regelmäßige persönliche Beziehungen zu seinen beiden Elternteilen unterhält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Belgische Staat [Weiblicher verheirateter minderjähriger Flüchtling], C‑230/21, EU:C:2022:887, Rn. 48).

76

Nach Art. 52 Abs. 3 der Charta haben die in der Charta enthaltenen Rechte, soweit sie den durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Nach Art. 53 der Charta ist keine ihrer Bestimmungen als eine Einschränkung oder Verletzung u. a. der durch die EMRK anerkannten Rechte im Anwendungsbereich des Unionsrechts auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, CJ [Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe wegen Strafverfolgung], C‑492/22 PPU, EU:C:2022:964, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

77

So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK, der Art. 7 der Charta entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 25), entschieden, dass in Rechtssachen, die auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 ergangene Entscheidungen betreffen, die Angemessenheit einer Maßnahme insbesondere danach zu beurteilen ist, wie rasch sie umgesetzt wird. Diese Rechtssachen erfordern eine dringliche Behandlung, da der Zeitablauf nicht wiedergutzumachende Folgen für die Beziehungen zwischen Kindern und dem Elternteil, der nicht mit ihnen zusammenlebt, haben kann. Verzögerungen im Verfahren können als solche die Feststellung erlauben, dass die staatlichen Stellen ihren positiven Verpflichtungen aus der EMRK nicht nachgekommen sind (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 28. April 2015, Ferrari/Rumänien, CE:ECHR:2015:0428JUD000171410, § 49).

78

An zweiter Stelle ist nach Maßgabe der in den vorstehenden Randnummern des vorliegenden Urteils vorgenommenen Auslegung von Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 zu prüfen, ob diese Bestimmung nationalen Rechtsvorschriften wie den in Rn. 57 des vorliegenden Urteils beschriebenen entgegensteht.

79

Nach den dem Gerichtshof übermittelten Informationen wird die Vollstreckung einer Rückgabeentscheidung nach diesen Rechtsvorschriften von Rechts wegen für einen Zeitraum von mindestens zwei Monaten ausgesetzt, wenn eine der befugten Stellen innerhalb von zwei Wochen ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft dieser Entscheidung beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) einen entsprechenden Antrag stellt.

80

Außerdem wird, wenn diese Stelle nach der Stellung des Antrags beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eine Kassationsbeschwerde gegen die Entscheidung einlegt, die Aussetzung ihrer Vollstreckung von Rechts wegen bis zum Abschluss des Kassationsverfahrens vor diesem Gericht verlängert.

81

Erstens bewirkt die Stellung des betreffenden Antrags somit, dass die Vollstreckung einer Entscheidung über die Rückgabe eines Kindes an seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort für einen Zeitraum von mindestens zwei Monaten ausgesetzt wird, obwohl diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist. Die Rückgabe kann über einen viel längeren Zeitraum ausgesetzt bleiben, wenn die befugten Stellen beschließen, gegen die Entscheidung Kassationsbeschwerde einzulegen. In Anbetracht des Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 zugrunde liegenden Beschleunigungsgebots kann die Stellung eines solchen Antrags dieser Bestimmung somit ihre praktische Wirksamkeit nehmen, da sie bewirkt, dass die Vollstreckung einer solchen Rückgabeentscheidung von Rechts wegen ausgesetzt wird. Im Übrigen könnten die befugten Stellen auf der Grundlage von Art. 3883 der Zivilprozessordnung, der durch das Gesetz von 2022 in die Zivilprozessordnung eingefügt wurde, erneut die Aussetzung der Vollstreckung einer Rückgabeentscheidung erwirken, indem sie eine außerordentliche Beschwerde nach diesem Artikel einlegen.

82

Insoweit ist festzustellen, dass eine zweimonatige Aussetzung der Vollstreckung einer rechtskräftigen Rückgabeentscheidung für sich genommen über die Frist hinausgeht, innerhalb deren diese Entscheidung nach Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 zu erlassen ist.

83

Zweitens geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen hervor, dass die Vollstreckung einer Rückgabeentscheidung auf einfachen Antrag der befugten Stellen von Rechts wegen ausgesetzt wird. Diese Stellen, die im Übrigen nicht den Status eines Gerichts haben, sind nicht verpflichtet, ihren Antrag zu begründen, und der Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) ist verpflichtet, dem Antrag stattzugeben, ohne insoweit eine gerichtliche Kontrolle ausüben zu können. Daher können die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften offensichtlich nicht gewährleisten, dass die Rückgabe des Kindes an seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort entsprechend den Ausführungen in Rn. 71 des vorliegenden Urteils nur in besonderen Ausnahmefällen ausgesetzt werden kann, und gewährleisten jedenfalls nicht, dass eine solche Aussetzung ordnungsgemäß begründet wird.

84

Im Übrigen steht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs Art. 47 der Charta dem entgegen, dass eine Behörde die Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung verhindern kann, da das in diesem Artikel verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf illusorisch wäre, wenn die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats es zuließe, dass eine endgültige und bindende gerichtliche Entscheidung zulasten einer Partei wirkungslos bleibt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horaţiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 72 und 73, sowie vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe, C‑752/18, EU:C:2019:1114, Rn. 36).

85

Nach alledem ist festzustellen, dass nationale Rechtsvorschriften wie die in Rn. 57 des vorliegenden Urteils beschriebenen geeignet sind, die praktische Wirksamkeit von Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 zu beeinträchtigen.

86

Dieses Ergebnis kann nicht durch das Vorbringen der polnischen Regierung in Frage gestellt werden, mit dem im Wesentlichen geltend gemacht wird, dass solche Rechtsvorschriften unerlässlich seien, um es den befugten Stellen zu ermöglichen, beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eine Kassationsbeschwerde einzulegen und so zu verhindern, dass die betreffenden Kinder einen nicht wiedergutzumachenden Schaden erlitten, der sich aus der Vollstreckbarkeit einer rechtskräftigen Rückgabeentscheidung ergebe, falls diese von diesem Gericht aufgehoben werden sollte.

87

Wie das vorlegende Gericht ausführt, sah nämlich zum einen, bevor durch das Gesetz von 2022 Art. 3881 in die Zivilprozessordnung eingefügt wurde, Art. 388 der Zivilprozessordnung bereits einen Mechanismus vor, der es dem Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) ermöglichte, die Vollstreckung einer rechtskräftigen Rückgabeentscheidung – gegebenenfalls auf Antrag einer der befugten Stellen – auszusetzen, wenn dieses Gericht der Auffassung war, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden sein könnte.

88

Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Rechtsschutz des Kindes vor einer solchen Gefahr grundsätzlich bereits dadurch sichergestellt ist, dass es einen Rechtsbehelf vor einer gerichtlichen Instanz gibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen [Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels], C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 34], und zwar auch dann, wenn das Bestehen einer schwerwiegenden Gefahr im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 geltend gemacht wird.

89

Entsprechend den Ausführungen in den Nrn. 82 bis 84 der Schlussanträge des Generalanwalts ergibt sich folglich aus Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Licht der Art. 24 und 47 der Charta nicht, dass das Unionsrecht die Mitgliedstaaten verpflichtet, einen zusätzlichen Rechtszug gegen eine Rückgabeentscheidung vorzusehen, wenn diese Entscheidung im Rahmen eines Verfahrens erlassen wurde, das bereits zwei Gerichtsinstanzen vorsieht, und dieses Verfahren es ermöglicht, im Fall der Rückgabe des betreffenden Kindes bestehende Gefahren zu berücksichtigen. Erst recht erlaubt es das Unionsrecht den Mitgliedstaaten im Gegensatz zu dem, was Art. 3881 § 3 der Zivilprozessordnung in der durch das Gesetz von 2022 geänderten Fassung offenbar vorsieht, nicht, den gegen eine solche Entscheidung eingelegten Rechtsbehelfen von Rechts wegen aufschiebende Wirkung zu verleihen.

90

Was drittens und letztens die Folgen der in Rn. 85 des vorliegenden Urteils gezogenen Schlussfolgerung betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet ist, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen dieses Rechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 53).

91

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung nach Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemeine Geltung hat und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt. Schon nach ihrer Rechtsnatur und ihrer Funktion im Rechtsquellensystem des Unionsrechts kann sie also Rechte der Einzelnen begründen, die die nationalen Gerichte schützen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2002, Muñoz und Superior Fruiticola, C‑253/00, EU:C:2002:497, Rn. 27).

92

Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 den Mitgliedstaaten eine klare und präzise, an keine Bedingung geknüpfte Ergebnispflicht hinsichtlich des Beschleunigungsgebots auferlegt, dem Verfahren unterliegen, die den Erlass einer Rückgabeentscheidung im Sinne des Haager Übereinkommens von 1980 zum Gegenstand haben. Das vorlegende Gericht wird daher im Rahmen seiner Zuständigkeiten die volle Wirksamkeit dieser unionsrechtlichen Bestimmung zu gewährleisten haben, indem es erforderlichenfalls die nationalen Rechtsvorschriften unangewendet lässt, die die Verwirklichung der praktischen Wirksamkeit dieser Bestimmung beeinträchtigen.

93

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen Stellen, die nicht den Status eines Gerichts haben, die Aussetzung der Vollstreckung einer auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Rückgabeentscheidung von Rechts wegen für eine Dauer von mindestens zwei Monaten erwirken können, ohne ihren Antrag auf Aussetzung begründen zu müssen.

Kosten

94

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

 

dahin auszulegen, dass

 

er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen Stellen, die nicht den Status eines Gerichts haben, die Aussetzung der Vollstreckung einer auf der Grundlage des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ergangenen Rückgabeentscheidung von Rechts wegen für eine Dauer von mindestens zwei Monaten erwirken können, ohne ihren Antrag auf Aussetzung begründen zu müssen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.