URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

13. Juli 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zuständigkeit in Fragen elterlicher Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 10 und 15 – Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das den Fall besser beurteilen kann – Voraussetzungen – Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde – Haager Übereinkommen von 1980 – Wohl des Kindes“

In der Rechtssache C‑87/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesgericht Korneuburg (Österreich) mit Beschluss vom 4. Jänner 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Februar 2022, in dem Verfahren

TT

gegen

AK

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin), des Richters J.‑C. Bonichot und der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Jänner 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von TT, vertreten durch Z. Gáliková und M. Hrabovská, Advokátky, sowie Rechtsanwalt P. Hajek und Rechtsanwältin P. Rosenich,

von AK, vertreten durch Rechtsanwalt S. Lenzhofer und Rechtsanwältin L. Stelzer Páleníková,

der slowakischen Regierung, vertreten durch S. Ondrášiková und B. Ricziová als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Leupold und W. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. März 2023

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen TT, einem in Österreich wohnhaften slowakischen Staatsangehörigen, und AK, einer slowakischen Staatsangehörigen, über die Obsorge für die beiden gemeinsamen Kinder, die bei AK in der Slowakei wohnhaft sind.

Rechtlicher Rahmen

Haager Übereinkommen von 1980

3

In Art. 6 des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) heißt es:

„Jeder Vertragsstaat bestimmt eine zentrale Behörde, welche die ihr durch dieses Übereinkommen übertragenen Aufgaben wahrnimmt.“

4

Art. 8 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 Buchst. f dieses Übereinkommens sieht vor:

„Macht eine Person, Behörde oder sonstige Stelle geltend, ein Kind sei unter Verletzung des Sorgerechts verbracht oder zurückgehalten worden, so kann sie sich entweder an die für den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zuständige zentrale Behörde oder an die zentrale Behörde eines anderen Vertragsstaats wenden, um mit deren Unterstützung die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.

Der Antrag kann wie folgt ergänzt oder es können ihm folgende Anlagen beigefügt werden:

f)

eine Bescheinigung oder eidesstattliche Erklärung (Affidavit) über die einschlägigen Rechtsvorschriften des betreffenden Staates; sie muss von der zentralen Behörde oder einer sonstigen zuständigen Behörde des Staates, in dem sich das Kind gewöhnlich aufhält, oder von einer dazu befugten Person ausgehen“.

5

Art. 16 des Haager Übereinkommens von 1980 bestimmt:

„Ist den Gerichten oder Verwaltungsbehörden des Vertragsstaats, in den das Kind verbracht oder in dem es zurückgehalten wurde, das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten des Kindes im Sinn des Artikels 3 mitgeteilt worden, so dürfen sie eine Sachentscheidung über das Sorgerecht erst treffen, wenn entschieden ist, dass das Kind aufgrund dieses Übereinkommens nicht zurückzugeben ist, oder wenn innerhalb angemessener Frist nach der Mitteilung kein Antrag nach dem Übereinkommen gestellt wird.“

Verordnung Nr. 2201/2003

6

Die Erwägungsgründe 12, 13, 17 und 33 der Verordnung Nr. 2201/2003 lauten:

„(12)

Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.

(13)

Nach dieser Verordnung kann das zuständige Gericht den Fall im Interesse des Kindes ausnahmsweise und unter bestimmten Umständen an das Gericht eines anderen Mitgliedstaats verweisen, wenn dieses den Fall besser beurteilen kann. Allerdings sollte das später angerufene Gericht nicht befugt sein, die Sache an ein drittes Gericht weiterzuverweisen.

(17)

Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das Haager Übereinkommen [von] 1980, das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, sollten dessen Rückgabe in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können. Jedoch sollte eine solche Entscheidung durch eine spätere Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats ersetzt werden können, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Sollte in dieser Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet werden, so sollte die Rückgabe erfolgen, ohne dass es in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, eines besonderen Verfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung bedarf.

(33)

Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der [Charta der Grundrechte] … zu gewährleisten.“

7

In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

7.

‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;

9.

‚Sorgerecht‘ die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes;

11.

‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn

a)

dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b)

das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.“

8

Die Verordnung Nr. 2201/2003 enthält ein Kapitel II („Zuständigkeit“), dessen Abschnitt 2 („Elterliche Verantwortung“) die Art. 8 bis 15 der Verordnung umfasst.

9

Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor:

„(1)   Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)   Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.“

10

Art. 10 („Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und

a)

jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat

oder

b)

das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

i)

Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird;

ii)

ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i) genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;

iii)

ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Artikel 11 Absatz 7 abgeschlossen;

iv)

von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird.“

11

Art. 11 („Rückgabe des Kindes“) Abs. 1 bis 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„(1)   Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens [von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(2)   Bei Anwendung der Artikel 12 und 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ist sicherzustellen, dass das Kind die Möglichkeit hat, während des Verfahrens gehört zu werden, sofern dies nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erscheint.

(3)   Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Absatz 1 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts.

Unbeschadet des Unterabsatzes 1 erlässt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.“

12

Nach Art. 12 („Vereinbarung über die Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 2201/2003 ist unter bestimmten Voraussetzungen das Gericht des Mitgliedstaats, das über einen Antrag auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe zu entscheiden hat, für alle Entscheidungen betreffend die elterliche Verantwortung zuständig.

13

Art. 15 („Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(1)   In Ausnahmefällen und sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht, kann das Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls besser beurteilen kann,

a)

die Prüfung des Falls oder des betreffenden Teils des Falls aussetzen und die Parteien einladen, beim Gericht dieses anderen Mitgliedstaats einen Antrag gemäß Absatz 4 zu stellen, oder

b)

ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ersuchen, sich gemäß Absatz 5 für zuständig zu erklären.

(2)   Absatz 1 findet Anwendung

a)

auf Antrag einer der Parteien oder

b)

von Amts wegen oder

c)

auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung gemäß Absatz 3 hat.

Die Verweisung von Amts wegen oder auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats erfolgt jedoch nur, wenn mindestens eine der Parteien ihr zustimmt.

(3)   Es wird davon ausgegangen, dass das Kind eine besondere Bindung im Sinne des Absatzes 1 zu dem Mitgliedstaat hat, wenn

a)

nach Anrufung des Gerichts im Sinne des Absatzes 1 das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erworben hat oder

b)

das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hatte oder

c)

das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt oder

d)

ein Träger der elterlichen Verantwortung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hat oder

e)

die Streitsache Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung oder der Erhaltung des Vermögens des Kindes oder der Verfügung über dieses Vermögen betrifft und sich dieses Vermögen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet.

(4)   Das Gericht des Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, setzt eine Frist, innerhalb deren die Gerichte des anderen Mitgliedstaats gemäß Absatz 1 angerufen werden müssen.

Werden die Gerichte innerhalb dieser Frist nicht angerufen, so ist das befasste Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(5)   Diese Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats können sich, wenn dies aufgrund der besonderen Umstände des Falls dem Wohl des Kindes entspricht, innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Anrufung gemäß Absatz 1 Buchstabe a) oder b) für zuständig erklären. In diesem Fall erklärt sich das zuerst angerufene Gericht für unzuständig. Anderenfalls ist das zuerst angerufene Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(6)   Die Gerichte arbeiten für die Zwecke dieses Artikels entweder direkt oder über die nach Artikel 53 bestimmten Zentralen Behörden zusammen.“

14

Art. 20 („Einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(1)   Die Gerichte eines Mitgliedstaats können in dringenden Fällen ungeachtet der Bestimmungen dieser Verordnung die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen oder Vermögensgegenstände auch dann anordnen, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache gemäß dieser Verordnung ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.

(2)   Die zur Durchführung des Absatzes 1 ergriffenen Maßnahmen treten außer Kraft, wenn das Gericht des Mitgliedstaats, das gemäß dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, die Maßnahmen getroffen hat, die es für angemessen hält.“

15

In Art. 60 der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„Im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten hat diese Verordnung vor den nachstehenden Übereinkommen insoweit Vorrang, als diese Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind:

e) Haager Übereinkommen [von 1980].“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16

TT, der Antragsteller des Ausgangsverfahrens, und AK, die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens, beide slowakische Staatsangehörige, sind die Eltern von V und M, die im Jahr 2012 unehelich in der Slowakei geboren wurden. Die Obsorge für die Kinder steht nach slowakischem Recht beiden Eltern gemeinsam zu.

17

2014 zog die Familie nach Österreich, wo die Kinder erst eine Kinderkrippe und dann einen Kindergarten besuchten. Im Jahr 2017 wurden die Kinder in der Slowakei eingeschult, wohnten aber weiterhin in Österreich und legten täglich den Weg zwischen ihrem Wohnsitz in Österreich und ihrer neuen Schule zurück. Die Kinder verständigen sich mit ihren Eltern und Großeltern auf Slowakisch und beherrschen nur wenige Worte der deutschen Sprache.

18

TT und AK trennten sich Anfang des Jahres 2020. Im Juli 2020 brachte AK die Kinder ohne die Zustimmung von TT zu sich in die Slowakei.

19

TT beantragte nach Art. 8 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 Buchst. f des Haager Übereinkommens von 1980 die Rückgabe der Kinder; dieses Verfahren ist beim Okresný súd Bratislava I (Bezirksgericht Bratislava I, Slowakei) anhängig.

20

Gleichzeitig beantragte er beim Bezirksgericht Bruck an der Leitha (Österreich) die Übertragung der alleinigen Obsorge für die beiden Kinder an ihn. Er machte im Wesentlichen geltend, dass AK durch das widerrechtliche Verbringen der beiden Kinder von Österreich in die Slowakei deren Wohl gefährdet habe und ihren Kontakt zum Vater unterbinde.

21

AK sprach sich gegen diesen Obsorgeantrag aus und stützte sich auf die internationale Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts, da sich der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder durchgehend in der Slowakei befunden habe und sie am Ort der Familienwohnung in Österreich nicht sozial integriert gewesen seien.

22

Mit Beschluss vom 4. Jänner 2021 wies das Bezirksgericht Bruck an der Leitha den Antrag von TT zurück und gab der von AK geltend gemachten Einrede der internationalen Unzuständigkeit statt.

23

TT erhob Rekurs an das Landesgericht Korneuburg (Österreich), das mit Beschluss vom 23. Februar 2021 den erstinstanzlichen Beschluss abänderte und die Einrede der internationalen Unzuständigkeit der Mutter verwarf. Diese Entscheidung wurde infolge eines außerordentlichen Revisionsrekurses durch Beschluss des Obersten Gerichtshofs (Österreich) vom 23. Juni 2021 bestätigt.

24

Am 23. September 2021 beantragte AK beim Bezirksgericht Bruck an der Leitha, dass dieses gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. b, Art. 15 Abs. 2 Buchst. a und Art. 15 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2201/2003 ein Gericht der Slowakischen Republik ersuchen möge, sich hinsichtlich des Sorgerechts für die Kinder für zuständig zu erklären. In diesem Zusammenhang machte sie geltend, dass zum einen neben dem Verfahren zur Rückgabe der Kinder, das TT gemäß dem Haager Übereinkommen von 1980 beim Okresný súd Bratislava I (Bezirksgericht Bratislava I) eingeleitet habe, mehrere Verfahren beim Okresný súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V, Slowakei) anhängig seien, die sowohl von TT als auch von ihr selbst eingeleitet worden seien, und dass zum anderen die slowakischen Gerichte aufgrund der zahlreichen Beweise, die sie bereits gesammelt hätten, Fragen der elterlichen Verantwortung für die beiden Kinder besser beurteilen könnten.

25

TT trat diesem Antrag im Wesentlichen mit der Begründung entgegen, dass die in Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene Zuständigkeit nicht übertragen werden könne, wenn bei den Gerichten des anderen Mitgliedstaats, die sich für zuständig erklären sollten, ein Antrag auf Rückgabe nach dem Haager Übereinkommen von 1980 anhängig sei, worauf Art. 11 dieser Verordnung Bezug nehme.

26

Das Bezirksgericht Bruck an der Leitha gab dem Antrag von AK statt. Es vertrat die Ansicht, dass der Okresný súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V), der bereits mehrere Entscheidungen zum Umgangsrecht von TT mit den Kindern getroffen habe, am besten in der Lage sei, über die elterliche Verantwortung und das Umgangsrecht in Bezug auf die beiden Kinder zu entscheiden, die sich seit Juli 2020 mit der Mutter in der Slowakei aufhielten und in Österreich sozial nicht integriert seien. Darüber hinaus würde die Durchführung des Verfahrens vor einem österreichischen Gericht dadurch erschwert, dass bei Untersuchungen durch den österreichischen Kinder- und Jugendhilfeträger oder durch die bestellten kinderpsychologischen Sachverständigen sämtlichen Befragungen und Erhebungen ein gerichtlich beeideter Dolmetscher beizuziehen sei.

27

TT erhob gegen diesen Beschluss Rekurs an das Landesgericht Korneuburg.

28

Das vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass die Frage, in welcher Beziehung Art. 15 Abs. 1 und Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 stehen, vom Gerichtshof noch nicht geklärt worden sei. Insoweit fragt es sich, ob das Gericht eines Mitgliedstaats, das in der Hauptsache für die Entscheidung über das Sorgerecht für ein Kind zuständig ist, diese Zuständigkeit nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung auf ein Gericht des Mitgliedstaats übertragen darf, in dem das Kind in der Zwischenzeit infolge eines widerrechtlichen Verbringens seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat. Für den Fall, dass der Gerichtshof diese Frage bejahen sollte, möchte das vorlegende Gericht zweitens wissen, ob die in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 genannten Voraussetzungen abschließend sind oder ob angesichts der Besonderheit des widerrechtlichen Verbringens andere Umstände berücksichtigt werden können.

29

Vor diesem Hintergrund hat das Landesgericht Korneuburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen, dass das Ersuchen eines Gerichts eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls besser beurteilen kann, sich für zuständig zu erklären, auch dann zulässig ist, wenn es sich bei dem anderen Mitgliedstaat um einen Mitgliedstaat handelt, in dem das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt nach einem widerrechtlichen Verbringen erlangt hat?

2.

Ist Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen, dass die darin genannten Kriterien für die Zuständigkeitsverschiebung abschließend geregelt sind, ohne dass es weiterer Kriterien mit Rücksicht auf ein eingeleitetes Verfahren nach Art. 8 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 Buchst. f des Haager Übereinkommens von 1980 bedarf?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

30

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das nach Art. 10 dieser Verordnung für die Entscheidung in Fragen der elterlichen Verantwortung in der Hauptsache zuständig ist, die in Art. 15 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung vorgesehene Verweisung des Falls an ein Gericht des Mitgliedstaats beantragen kann, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde.

31

Zunächst ist festzustellen, dass diese Frage auf der doppelten Prämisse beruht, dass zum einen das Verbringen der Kinder durch AK von Österreich in die Slowakei ein „widerrechtliches Verbringen“ im Sinne von Art. 2 Nr. 11 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 darstellt, da es ohne die Zustimmung von TT erfolgte, und dass zum anderen das vorlegende Gericht als Gericht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Kinder unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, nach Art. 10 dieser Verordnung für die Entscheidung in Fragen der elterlichen Verantwortung für diese Kinder in der Hauptsache zuständig ist.

32

Nach dieser Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 in Abschnitt 2 ihres Kapitels II Zuständigkeitsvorschriften für Entscheidungen in Fragen der elterlichen Verantwortung, insbesondere betreffend das Sorgerecht, festlegt.

33

Aus dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 geht hervor, dass diese Zuständigkeitsvorschriften mit dem Ziel erlassen wurden, dem Wohl des Kindes zu entsprechen, weshalb sie dem Kriterium der räumlichen Nähe den Vorzug geben. Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung setzt dieses Ziel um, indem er eine allgemeine Zuständigkeitsregel zugunsten der Gerichte des Mitgliedstaats aufstellt, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Denn wegen ihrer räumlichen Nähe sind diese Gerichte im Allgemeinen am besten in der Lage, die zum Wohl des Kindes zu erlassenden Maßnahmen zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. April 2023, CM [Umgangsrecht mit einem Kind nach seinem Umzug], C‑372/22, EU:C:2023:364, Rn. 21 und 22 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt jedoch, dass die Zuständigkeitsvorschrift von Art. 8 Abs. 1 vorbehaltlich u. a. von Art. 10 dieser Verordnung Anwendung findet.

35

Nach diesem Art. 10 sind für Entscheidungen in Fragen der elterlichen Verantwortung im Allgemeinen die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

36

Diese Bestimmung dient der Umsetzung eines der Ziele der Verordnung Nr. 2201/2003, nämlich darauf hinzuwirken, dass von rechtswidrigem Verbringen oder Zurückhalten von Kindern zwischen Mitgliedstaaten Abstand genommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, EU:C:2009:810, Rn. 49). Sie soll also die Wirkung neutralisieren, die die Anwendung der in Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung aufgestellten allgemeinen Zuständigkeitsvorschrift im Fall eines widerrechtlichen Verbringens des betroffenen Kindes hätte, nämlich den Übergang der Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat, in dem das Kind infolge des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat. Da dieser Zuständigkeitsübergang dem widerrechtlich Handelnden einen prozessualen Vorteil verschaffen könnte, sieht Art. 10 dieser Verordnung vor, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, grundsätzlich für die Entscheidung in der betreffenden Hauptsache zuständig bleiben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Juli 2010, Povse, C‑211/10 PPU, EU:C:2010:400, Rn. 41 und 44, sowie vom 24. März 2021, MCP, C‑603/20 PPU, EU:C:2021:231, Rn. 45).

37

Gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 kann das Gericht eines Mitgliedstaats, das in Fragen der elterlichen Verantwortung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in Ausnahmefällen die Verweisung des Falls oder eines bestimmten Teils des Falls an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats beantragen, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, wenn dieses Gericht den Fall besser beurteilen kann und dies dem Wohl des Kindes entspricht.

38

Zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage ist daher zu prüfen, ob von der Möglichkeit nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003, in Ausnahmefällen eine Verweisung zu beantragen, Gebrauch gemacht werden kann, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats nach Art. 10 dieser Verordnung in einem Fall betreffend eine Frage der elterlichen Verantwortung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist und sich das Gericht, an das dieser Fall verwiesen würde, in dem Mitgliedstaat befindet, in den das betreffende Kind widerrechtlich von einem Elternteil verbracht wurde.

39

Es ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2014, E., C‑436/13, EU:C:2014:2246, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Als Erstes ist zu Wortlaut und Zusammenhang von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung erstens die in den Art. 8 bis 14 dieser Verordnung enthaltenen Zuständigkeitsvorschriften durch einen Mechanismus der Zusammenarbeit vervollständigt, der dem Gericht eines Mitgliedstaats, das nach einer dieser Vorschriften für die Entscheidung über die Rechtssache zuständig ist, in Ausnahmefällen eine Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2015, P, C‑455/15 PPU, EU:C:2015:763, Rn. 44).

41

Zweitens sind in Art. 15 Abs. 2 bis 6 der Verordnung Nr. 2201/2003 die Modalitäten einer solchen Verweisung festgelegt. So ist nach Art. 15 Abs. 5 dieser Verordnung das Gericht des Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, nach den Art. 8 bis 14 dieser Verordnung weiterhin zuständig, wenn sich die Gerichte des anderen Mitgliedstaats nicht innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Anrufung für zuständig erklären.

42

Der Unionsgesetzgeber hat somit, wie vom Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt, selbst in Betracht gezogen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, dessen Zuständigkeit auf Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 beruht, von der in Art. 15 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung vorgesehenen Möglichkeit, die Verweisung zu beantragen, Gebrauch machen kann (vgl. entsprechend Urteil vom 27. April 2023, CM [Umgangsrecht mit einem Kind nach seinem Umzug], C‑372/22, EU:C:2023:364, Rn. 38).

43

Drittens kann dem Wortlaut oder dem Zusammenhang von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 auch nicht entnommen werden, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, das nach Art. 10 dieser Verordnung in Fragen der elterlichen Verantwortung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, davon absehen müsste, von der in Art. 15 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung vorgesehenen Möglichkeit der Beantragung einer Verweisung Gebrauch zu machen, wenn sich das Gericht, das sich gegebenenfalls für zuständig erklären soll, in dem Mitgliedstaat befindet, in den das betreffende Kind widerrechtlich von einem Elternteil verbracht wurde.

44

Vielmehr ist darauf hinzuweisen, dass, wenn das in einem Rechtsstreit über die elterliche Verantwortung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständige Gericht diese Zuständigkeit aus Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 ableitet, das Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das im Sinne von Art. 15 dieser Verordnung möglicherweise besser in der Lage ist, über den Rechtsstreit zu entscheiden, in der Regel ein Gericht des Mitgliedstaats sein wird, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde. Auszuschließen, dass Art. 15 auf eine Situation wie die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils beschriebene Anwendung findet, würde die Möglichkeit eines nach Art. 10 dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständigen Gerichts, gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung die Verweisung der Rechtssache an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu beantragen, das den Fall besser beurteilen kann, somit größtenteils ihrer Wirksamkeit berauben.

45

Als Zweites ist zu den mit der Verordnung Nr. 2201/2003 verfolgten Zielen darauf hinzuweisen, dass die in der Verordnung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohl des Kindes entsprechend ausgestaltet wurden, dem vorrangig Rechnung zu tragen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. November 2014, L, C‑656/13, EU:C:2014:2364, Rn. 48, und vom 1. August 2022, MPA [Gewöhnlicher Aufenthalt – Drittstaat], C‑501/20, EU:C:2022:619, Rn. 71 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Im Übrigen steht diese Verordnung, wie ihrem 33. Erwägungsgrund zu entnehmen ist, im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte anerkannt wurden, und zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne von Art. 24 der Charta der Grundrechte zu gewährleisten.

46

Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene Anforderung, wonach die Verweisung eines Falls an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats dem Kindeswohl entsprechen muss, Ausdruck des Leitprinzips ist, dem der Unionsgesetzgeber bei der Ausgestaltung dieser Verordnung gefolgt ist und das die Anwendung der Verordnung in den ihr unterliegenden Verfahren, die die elterliche Verantwortung betreffen, maßgebend bestimmt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 43 und 63).

47

Aufgrund dieser Anforderung ist das in Art. 24 Abs. 3 der Charta der Grundrechte niedergelegte Grundrecht des Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen zwingend zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, EU:C:2009:810, Rn. 56).

48

Ein widerrechtliches Verbringen eines Kindes im Anschluss an eine einseitige Entscheidung eines Elternteils nimmt dem Kind zwar meist die Möglichkeit, regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu dem anderen Elternteil zu pflegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2010, Povse, C‑211/10 PPU, EU:C:2010:400, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Dieser Umstand bedeutet jedoch nicht, dass das nach Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 zuständige Gericht im Hinblick auf das Kindeswohl die starke Vermutung, die für die Beibehaltung seiner eigenen Zuständigkeit nach der Verordnung spricht, nicht widerlegen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 49) und systematisch davon absehen muss, von der in Art. 15 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch zu machen, eine Verweisung zu beantragen, wenn sich das Gericht, an das der Fall verwiesen werden soll, in dem Mitgliedstaat befindet, in den das betroffene Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde.

50

Dagegen setzt dieser Umstand voraus, dass sich das nach Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 für die Entscheidung in der Hauptsache zuständige Gericht anhand der konkreten Umstände des Falls vergewissert, dass die von ihm erwogene Verweisung nicht die Gefahr negativer Auswirkungen auf die emotionalen, familiären und sozialen Beziehungen des Kindes oder auf seine materielle Lage birgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2016, D.,C‑482/15, EU:C:2016:819, Rn. 58 und 59), und dass dieses Gericht in ausgewogener und vernünftiger Weise zum Wohl des Kindes alle auf dem Spiel stehenden Interessen abwägt, die auf objektiven Erwägungen hinsichtlich der Person des Kindes selbst und seiner sozialen Umgebung beruhen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, EU:C:2009:810, Rn. 60). Gelangt das Gericht also zu dem Ergebnis, dass die Verweisung des Falls an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats dem Wohl des Kindes zuwiderläuft, ist eine solche Verweisung auszuschließen.

51

Daher läuft es den mit der Verordnung Nr. 2201/2003 verfolgten Zielen nicht zuwider, dass ein Gericht, das nach Art. 10 dieser Verordnung für Fragen der elterlichen Verantwortung zuständig ist, in Ausnahmefällen und nach angemessener, ausgewogener und vernünftiger Berücksichtigung des Kindeswohls die Verweisung des Falls, mit dem es befasst ist, an ein Gericht des Mitgliedstaats beantragen kann, in den das betreffende Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde.

52

Als Drittes ist insoweit schließlich unerheblich, dass das Gericht, an das eine solche Verweisung erwogen wird, auf der Grundlage von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 dringende einstweilige Maßnahmen in Bezug auf das Umgangsrecht des Vaters dieses Kindes erlassen hat, wie von den Parteien des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof im Hinblick auf die Entscheidungen des Okresný súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V) geltend gemacht worden ist.

53

Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass Art. 20 keine Vorschrift ist, die in einer Frage der elterlichen Verantwortung die Zuständigkeit in der Hauptsache begründet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Juli 2010, Purrucker, C‑256/09, EU:C:2010:437, Rn. 61 und 62, sowie vom 9. November 2010, Purrucker, C‑296/10, EU:C:2010:665, Rn. 69 und 70).

54

Selbst wenn also die Entscheidungen des Okresný súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V) auf der Grundlage von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergangen sein sollten, unterscheidet sich diese Situation gleichwohl von derjenigen, die dem Urteil vom 4. Oktober 2018, IQ (C‑478/17, EU:C:2018:812), zugrunde lag. In der Rechtssache, in der jenes Urteil ergangen ist, waren die angerufenen Gerichte der zwei in Rede stehenden Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 1 bzw. Art. 12 der Verordnung Nr. 2201/2003 nämlich beide für Fragen der elterlichen Verantwortung in der Hauptsache zuständig; der Gerichtshof hat daher die Möglichkeit der Verweisung nach Art. 15 dieser Verordnung im Verhältnis dieser beiden Gerichte untereinander ausgeschlossen.

55

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das nach Art. 10 dieser Verordnung in der Hauptsache für die Entscheidung einer Frage der elterlichen Verantwortung zuständig ist, in Ausnahmefällen die in Art. 15 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung vorgesehene Verweisung des Falls an ein Gericht des Mitgliedstaats beantragen kann, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde.

Zur zweiten Frage

56

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass die Möglichkeit des in Fragen der elterlichen Verantwortung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständigen Gerichts eines Mitgliedstaats, die Verweisung des Falls an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu beantragen, ausschließlich den in dieser Bestimmung ausdrücklich genannten Voraussetzungen unterliegt, oder ob dieses Gericht auch andere Umstände berücksichtigen muss, wie etwa ein nach Art. 8 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 Buchst. f des Haager Übereinkommens von 1980 eingeleitetes Rückgabeverfahren, das noch nicht rechtskräftig abgeschlossen wurde.

57

Wie sich aus dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt, kann das Gericht eines Mitgliedstaats das Gericht eines anderen Mitgliedstaats nur dann ersuchen, sich für zuständig zu erklären, wenn die drei in dieser Bestimmung abschließend aufgezählten kumulativen Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich dass eine „besondere Bindung“ zwischen dem Kind und einem anderen Mitgliedstaat besteht, dass das Gericht, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, der Ansicht ist, dass ein Gericht dieses anderen Mitgliedstaats den Fall „besser“ beurteilen kann, und dass die Verweisung dem Wohl des Kindes entspricht, in dem Sinne, dass sie nicht die Gefahr nachteiliger Auswirkungen auf die Lage des betroffenen Kindes birgt (vgl. in diesem Sinne Urteil von 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 50, 56 und 58, sowie Beschluss vom 10. Juli 2019, EP [Elterliche Verantwortung und Gericht, das den Fall besser beurteilen kann], C‑530/18, EU:C:2019:583, Rn. 31).

58

In diesem Zusammenhang ist zur eventuellen Berücksichtigung eines Rückführungsantrags nach den Bestimmungen des Haager Übereinkommens von 1980 darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmungen gemäß Art. 60 der Verordnung Nr. 2201/2003 zwar gegenüber den Bestimmungen der Verordnung in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten in den durch diese Verordnung geregelten Bereichen keinen Vorrang haben, aber eine enge Verbindung zu den Bestimmungen der Verordnung aufweisen, so dass sie geeignet sind, sich auf den Sinn, die Tragweite und die Wirksamkeit von deren Bestimmungen auszuwirken (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/13 [Beitritt von Drittstaaten zum Haager Übereinkommen], vom 14. Oktober 2014, EU:C:2014:2303, Rn. 85 und 87, sowie Urteil vom 16. Februar 2023, Rzecznik Praw Dziecka u. a. [Aussetzung der Rückgabeentscheidung], C‑638/22 PPU, EU:C:2023:103, Rn. 63).

59

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das Vorliegen eines auf das Haager Übereinkommen von 1980 gestützten Rückführungsantrags, der in dem Mitgliedstaat, in den das betreffende Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde, noch nicht rechtskräftig entschieden wurde, als solcher der Ausübung der in Art. 15 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Möglichkeit der Beantragung einer Verweisung nicht entgegenstehen kann. Dieser Umstand ist jedoch von dem zuständigen Gericht bei der Beurteilung, ob die drei in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen für die Verweisung der Rechtssache an ein Gericht des anderen Mitgliedstaats erfüllt sind, zu berücksichtigen.

60

Zur konkreten Berücksichtigung eines solchen Umstands im Rahmen der Beurteilung dieser drei Voraussetzungen durch das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständige Gericht sind die nachfolgenden Klarstellungen zu treffen.

61

Als Erstes ist zur Voraussetzung, dass das Kind eine „besondere Bindung“ zu dem Mitgliedstaat haben muss, in dem sich das Gericht befindet, an das die Verweisung erwogen wird, darauf hinzuweisen, dass Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 in seinen Buchst. a bis e abschließend fünf alternative Kriterien aufzählt, anhand deren angenommen werden kann, dass diese Voraussetzung erfüllt ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 10. Juli 2019, EP [Elterliche Verantwortung und Gericht, das den Fall besser beurteilen kann], C‑530/18, EU:C:2019:583, Rn. 27 und 28 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Zu diesen Kriterien zählt jenes gemäß Buchst. c dieser Bestimmung, wonach das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt.

62

Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kinder slowakische Staatsangehörige sind, so dass nach Art. 15 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 2201/2003 davon auszugehen ist, dass sie für die Zwecke von Art. 15 Abs. 1 dieser Verordnung eine besondere Bindung zur Slowakei haben, und zwar unabhängig davon, ob von ihrem Vater ein Rückführungsverfahren nach dem Haager Übereinkommen von 1980 eingeleitet wurde.

63

Als Zweites ist hinsichtlich der Voraussetzung, dass das Gericht, an das die Verweisung erwogen wird, den Fall „besser“ beurteilen können muss, erstens darauf hinzuweisen, dass sich ein Gericht, das eine solche Verweisung erwägt, vergewissern muss, dass diese geeignet ist, im Vergleich zur Beibehaltung seiner eigenen Zuständigkeit einen realen und konkreten Mehrwert für eine das Kind betreffende Entscheidung zu erbringen. In diesem Rahmen kann es neben anderen Gesichtspunkten Verfahrensvorschriften des anderen Mitgliedstaats, wie die Vorschriften über die für die Behandlung des Falls erforderlichen Beweise, berücksichtigen. Hingegen dürfte das zuständige Gericht im Rahmen einer solchen Beurteilung nicht das materielle Recht des anderen Mitgliedstaats berücksichtigen, das von dessen Gericht anzuwenden wäre, wenn der Fall an dieses verwiesen würde. Eine solche Berücksichtigung widerspräche nämlich den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens zwischen Mitgliedstaaten und der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, auf denen die Verordnung Nr. 2201/2003 beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2016, D., C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 57 und 61).

64

Zweitens stünde, wenn die offensichtliche Gefahr besteht, dass die Verweisung nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 dem die Rückgabe des Kindes beantragenden Elternteil die Möglichkeit nimmt, seine Argumente vor dem Gericht, an das die Verweisung erwogen wird, wirksam geltend zu machen, dies der Feststellung entgegen, dass dieses Gericht im Sinne der genannten Bestimmung den Fall „besser“ beurteilen könnte.

65

Im vorliegenden Fall enthalten die dem Gerichtshof vorliegenden Akten keinen Anhaltspunkt dafür, dass TT im Fall einer Verweisung an den Okresný súd Bratislava V (Bezirksgericht Bratislava V) die Möglichkeit genommen würde, seine Argumente wirksam vorzubringen; dies zu prüfen, ist indes Sache des vorlegenden Gerichts.

66

Drittens kann, wie der Generalanwalt in Nr. 80 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Verweisung einen realen und konkreten Mehrwert für den Erlass einer das Kind betreffenden Entscheidung darstellen, wenn das Gericht, an das die Verweisung erwogen wird, auf Antrag der Parteien des Ausgangsverfahrens und entsprechend den anwendbaren Verfahrensvorschriften insbesondere auf der Grundlage von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine Reihe dringender einstweiliger Maßnahmen erlassen hat. Zwar begründet diese Bestimmung, wie in Rn. 53 des vorliegenden Urteils ausgeführt, keine Zuständigkeit für die Entscheidung in der Hauptsache in einem Fall betreffend die elterliche Verantwortung. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses Gericht im Licht der ihm von den Beteiligten so zur Kenntnis gebrachten Informationen besser in der Lage ist, alle Lebensumstände und Bedürfnisse des betroffenen Kindes zu erfassen und unter Berücksichtigung des Kriteriums der räumlichen Nähe angemessene Entscheidungen für das Kind zu treffen.

67

Viertens kann, wenn bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in den das betreffende Kind widerrechtlich verbracht wurde, gemäß den Bestimmungen des Haager Übereinkommens von 1980 ein Rückführungsantrag gestellt wurde, kein Gericht dieses Mitgliedstaats als das Gericht angesehen werden, das den Fall im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 „[am] bes[ten]“ beurteilen kann, solange die in Art. 11 dieses Übereinkommens und in Art. 11 der Verordnung vorgesehene Frist von sechs Wochen nicht abgelaufen ist. Außerdem kann die erhebliche Verzögerung, mit der die Gerichte dieses Mitgliedstaats über diesen Rückführungsantrag entscheiden, ein Faktor sein, der gegen die Feststellung spricht, dass diese Gerichte besser in der Lage wären, in der Hauptsache über das Sorgerecht zu entscheiden.

68

Nachdem ihnen das widerrechtliche Verbringen des Kindes mitgeteilt wurde, dürfen die Gerichte des Vertragsstaats, in den das Kind verbracht wurde, nach Art. 16 des Haager Übereinkommens von 1980 eine Sachentscheidung über das Sorgerecht erst treffen, wenn insbesondere entschieden ist, dass das Kind aufgrund dieses Übereinkommens nicht zurückzugeben ist. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, diesen Aspekt bei seiner Beurteilung der zweiten Voraussetzung von Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 besonders zu berücksichtigen.

69

Als Drittes gilt dies auch für die Beurteilung der Voraussetzung des Kindeswohls, bei der im Hinblick auf Art. 16 des Haager Übereinkommens von 1980 nicht außer Acht gelassen werden darf, dass es den Gerichten des Mitgliedstaats, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde, so lange unmöglich ist, eine dem Kindeswohl entsprechende Sachentscheidung über das Sorgerecht zu treffen, bis das mit dem Antrag auf Rückgabe des Kindes befasste Gericht dieses Mitgliedstaats zumindest über diesen Antrag entschieden hat.

70

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass die Möglichkeit des in Fragen der elterlichen Verantwortung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständigen Gerichts eines Mitgliedstaats, die Verweisung dieses Falls an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu beantragen, ausschließlich den in dieser Bestimmung ausdrücklich genannten Voraussetzungen unterliegt. Bei der Prüfung derjenigen dieser Voraussetzungen, die den Umstand, dass es in dem anderen Mitgliedstaat ein Gericht gibt, das den Fall besser beurteilen kann, und das Wohl des Kindes betreffen, muss das Gericht des ersten Mitgliedstaats berücksichtigen, ob gemäß Art. 8 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 Buchst. f des Haager Übereinkommens von 1980 ein Verfahren zur Rückgabe dieses Kindes anhängig ist, das in dem Mitgliedstaat, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde, noch nicht rechtskräftig entschieden wurde.

Kosten

71

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000

ist dahin auszulegen, dass

das Gericht eines Mitgliedstaats, das nach Art. 10 dieser Verordnung in der Hauptsache für die Entscheidung einer Frage der elterlichen Verantwortung zuständig ist, in Ausnahmefällen die in Art. 15 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung vorgesehene Verweisung an ein Gericht des Mitgliedstaats beantragen kann, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde.

 

2.

Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003

ist dahin auszulegen, dass

die Möglichkeit des in Fragen der elterlichen Verantwortung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständigen Gerichts eines Mitgliedstaats, die Verweisung dieses Falls an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu beantragen, ausschließlich den in dieser Bestimmung ausdrücklich genannten Voraussetzungen unterliegt. Bei der Prüfung derjenigen dieser Voraussetzungen, die den Umstand, dass es in dem anderen Mitgliedstaat ein Gericht gibt, das den Fall besser beurteilen kann, und das Wohl des Kindes betreffen, muss das Gericht des ersten Mitgliedstaats berücksichtigen, ob gemäß Art. 8 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 Buchst. f des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ein Verfahren zur Rückgabe dieses Kindes anhängig ist, das in dem Mitgliedstaat, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde, noch nicht rechtskräftig entschieden wurde.

 

Lycourgos

Lenaerts

Rossi

Bonichot

Spineanu-Matei

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. Juli 2023.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Der Kammerpräsident

C. Lycourgos


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.