URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

25. November 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Scheidungsantrag – Art. 3 Abs. 1 Buchst. a – Begriff ‚gewöhnlicher Aufenthalt‘ des Antragstellers“

In der Rechtssache C‑289/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) mit Entscheidung vom 13. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juni 2020, in dem Verfahren

IB

gegen

FA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie des Richters N. Wahl,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von IB, vertreten durch F. Ingold und E. Ravin, avocats,

von FA, vertreten durch A. Boiché, avocat,

der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier, T. Stehelin, D. Dubois und A. Daniel als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und U. Bartl als Bevollmächtigte,

von Irland, vertreten durch M. Browne, A. Joyce und J. Quaney als Bevollmächtigte,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, S. Duarte Afonso, P. Barros da Costa und L. Medeiros als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch M. Heller, W. Wils und M. Wilderspin, dann durch M. Heller und W. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Juli 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Ehegatten IB und FA über einen Antrag auf Auflösung ihrer Ehe.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung (EG) Nr. 1347/2000

3

In den Erwägungsgründen 4, 8 und 12 der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten (ABl. 2000, L 160, S. 19), die ab dem 1. März 2005 durch die Verordnung Nr. 2201/2003 aufgehoben wurde, hieß es:

„(4)

Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Zuständigkeitsregeln und bestimmten Rechtsvorschriften über die Vollstreckung von Entscheidungen erschweren sowohl den freien Personenverkehr als auch das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Es ist daher gerechtfertigt, Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Ehesachen und in Verfahren über die elterliche Verantwortung zu vereinheitlichen und die Formalitäten im Hinblick auf eine rasche und unkomplizierte Anerkennung von Entscheidungen und deren Vollstreckung zu vereinfachen.

(8)

In der vorliegenden Verordnung sind kohärente und einheitliche Maßnahmen vorzusehen, die einen möglichst umfassenden Personenverkehr ermöglichen. …

(12)

Die Zuständigkeitskriterien gehen von dem Grundsatz aus, dass zwischen dem Verfahrensbeteiligten und dem Mitgliedstaat, der die Zuständigkeit wahrnimmt, eine tatsächliche Beziehung bestehen muss. Die Auswahl dieser Kriterien ist darauf zurückzuführen, dass sie in verschiedenen einzelstaatlichen Rechtsordnungen bestehen und von den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden.“

Verordnung Nr. 2201/2003

4

Der erste Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„Die Europäische Gemeinschaft hat sich die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Hierzu erlässt die Gemeinschaft unter anderem die Maßnahmen, die im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich sind.“

5

Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt in Abs. 1:

„Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

a)

die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und die Ungültigerklärung einer Ehe,

…“

6

Art. 3 („Allgemeine Zuständigkeit“) dieser Verordnung lautet:

„(1)   Für Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig,

a)

in dessen Hoheitsgebiet

beide Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben oder

die Ehegatten zuletzt beide ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, sofern einer von ihnen dort noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder

der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder

im Fall eines gemeinsamen Antrags einer der Ehegatten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder

der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens einem Jahr unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat, oder

der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat und entweder Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist oder, im Fall des Vereinigten Königreichs [Großbritannien und Nordirland] und Irlands, dort sein ‚domicile‘ hat;

b)

dessen Staatsangehörigkeit beide Ehegatten besitzen, oder, im Fall des Vereinigten Königreichs und Irlands, in dem sie ihr gemeinsames ‚domicile‘ haben.

(2)   Der Begriff ‚domicile‘ im Sinne dieser Verordnung bestimmt sich nach dem Recht des Vereinigten Königreichs und Irlands.“

7

Art. 6 („Ausschließliche Zuständigkeit nach den Artikeln 3, 4 und 5“) der Verordnung hat folgenden Wortlaut:

„Gegen einen Ehegatten, der

a)

seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat oder

b)

Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist oder im Fall des Vereinigten Königreichs und Irlands sein ‚domicile‘ im Hoheitsgebiet eines dieser Mitgliedstaaten hat,

darf ein Verfahren vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur nach Maßgabe der Artikel 3, 4 und 5 geführt werden.“

8

Art. 19 („Rechtshängigkeit und abhängige Verfahren“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1:

„Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Anträge auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe zwischen denselben Parteien gestellt, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.“

9

In Art. 66 („Mitgliedstaaten mit zwei oder mehr Rechtssystemen“) der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„Für einen Mitgliedstaat, in dem die in dieser Verordnung behandelten Fragen in verschiedenen Gebietseinheiten durch zwei oder mehr Rechtssysteme oder Regelwerke geregelt werden, gilt Folgendes:

a)

Jede Bezugnahme auf den gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat betrifft den gewöhnlichen Aufenthalt in einer Gebietseinheit.

…“

Verordnung (EG) Nr. 4/2009

10

Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (ABl. 2009, L 7, S. 1) sieht vor:

„Zuständig für Entscheidungen in Unterhaltssachen in den Mitgliedstaaten ist

c)

das Gericht, das nach seinem Recht für ein Verfahren in Bezug auf den Personenstand zuständig ist, wenn in der Nebensache zu diesem Verfahren über eine Unterhaltssache zu entscheiden ist, es sei denn, diese Zuständigkeit begründet sich einzig auf der Staatsangehörigkeit einer der Parteien …

…“

Verordnung (EU) 2016/1103

11

Die Erwägungsgründe 15 und 49 der Verordnung (EU) 2016/1103 des Rates vom 24. Juni 2016 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen des ehelichen Güterstands (ABl. 2016, L 183, S. 1) sehen Folgendes vor:

„(15)

Damit für verheiratete Paare Rechtssicherheit in Bezug auf ihr Vermögen und ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit in Bezug auf das anzuwendende Recht gegeben ist, sollten alle Regelungen, welche auf die ehelichen Güterstände anzuwenden sind, in einem einzigen Rechtsinstrument erfasst werden.

(49)

Wird keine Rechtswahl getroffen, so sollte diese Verordnung im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit des anzuwendenden Rechts mit den tatsächlichen Lebensumständen des Paares die Einführung harmonisierter Kollisionsnormen vorsehen, die sich auf eine Rangfolge der Anknüpfungspunkte stützen, anhand deren sich das auf das gesamte Vermögen der Ehegatten anzuwendende Recht bestimmen lässt. So sollte der erste gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Ehegatten kurz nach der Eheschließung erster Anknüpfungspunkt noch vor der gemeinsamen Staatsangehörigkeit der Ehegatten zum Zeitpunkt der Eheschließung sein. …“

12

Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Wird ein Gericht eines Mitgliedstaats zur Entscheidung über eine Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebands oder Ungültigerklärung der Ehe nach der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 angerufen, so sind unbeschadet des Absatzes 2 die Gerichte dieses Staates auch für Fragen des ehelichen Güterstands in Verbindung mit diesem Antrag zuständig.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

13

Die Ehe des französischen Staatsangehörigen IB und seiner Frau FA, die die irische Staatsangehörigkeit besitzt, wurde 1994 in Bray (Irland) geschlossen. Sie haben drei nunmehr volljährige Kinder.

14

Am 28. Dezember 2018 reichte IB beim Tribunal de grande instance de Paris (Landgericht Paris, Frankreich) eine Scheidungsklage ein.

15

Mit Beschluss vom 11. Juli 2019 erklärte sich der für Familiensachen zuständige Richter an diesem Gericht entsprechend den Anträgen von FA zur Entscheidung über die Scheidung der Ehegatten für örtlich unzuständig. Die bloße Festlegung des Arbeitsorts von IB in Frankreich reiche nämlich nicht aus, um dessen Willen zu bestimmen, dort ungeachtet der steuerrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Folgen sowie der daraus folgenden Lebensgewohnheiten seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen.

16

Am 30. Juli 2019 legte IB gegen diesen Beschluss bei der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) Berufung ein und beantragte u. a., das Tribunal de grande instance de Paris (Landgericht Paris) zur Entscheidung über die Scheidung der betroffenen Ehegatten für örtlich zuständig zu erklären. Hierzu macht IB geltend, dass er seit dem Jahr 2010 sowie seit Mai 2017 dauerhaft und beständig seine beruflichen Tätigkeiten in Frankreich ausübe, wo er sich in einer Wohnung, die seinem Vater gehöre, niedergelassen habe. Er führe dort ein gesellschaftliches Leben. Die Weigerung seiner Ehefrau, nach Frankreich zu ziehen, obwohl sie sich dort regelmäßig in der Pariser Wohnung oder in dem 2017 erworbenen Ferienhaus aufhalte, sei der Grund dafür, dass sie ein paralleles Alltagsleben führen würden.

17

FA trägt vor, es sei nie beabsichtigt worden, dass sich die Familie in Frankreich niederlasse. Der gewöhnliche Aufenthalt der Familie befinde sich daher in Irland. IB habe nie seinen Aufenthalt geändert, sondern nur die Adresse seines Arbeitsortes. Dass IB seit mehr als sechs Monaten in Frankreich arbeite und dort seine Einkünfte beziehe, reiche im Übrigen nicht für die Annahme aus, dass er dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 habe. IB sei vielmehr bis Ende 2018 weiterhin zum Wohnsitz der Familie in Irland gekommen, wo er das gleiche Leben wie zuvor geführt habe. Er habe sich auch an einen Rechtsanwalt in Irland gewendet, als die Ehegatten ab September 2018 eine Scheidung in Betracht gezogen hätten.

18

Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts steht fest, dass sich der Familienwohnsitz der betroffenen Ehegatten in Irland befinde, wo sich die Familie 1999 niedergelassen und eine Immobilie erworben habe, die als ehelicher Wohnsitz diene. Zudem habe FA zum Zeitpunkt der Einleitung des Scheidungsverfahrens durch IB ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Irland behalten, habe vor der Einleitung dieses Verfahrens keine Trennung stattgefunden und gebe es keine Anhaltspunkte, dass die Ehegatten den gemeinsamen Willen gehabt hätten, den ehelichen Wohnsitz nach Frankreich zu verlegen; zahlreiche Sachverhaltsmerkmale ließen die persönliche und familiäre Verbindung von IB zu Irland erkennen, wohin er sich jedes Wochenende begeben habe, um seine Ehefrau und seine Kinder wiederzusehen.

19

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Verbindung von IB zu Irland allerdings eine Verbindung zu Frankreich nicht ausschließe, wohin er ab 2017 jede Woche zur Arbeit zurückkehre. Es stellt in Übereinstimmung mit dem erstinstanzlichen Gericht fest, dass IB tatsächlich an zwei Orten einen Aufenthalt habe, aus familiären Gründen in Irland und seit vielen Jahren aus beruflichen Gründen in Frankreich. Folglich sei die Verbindung von IB zu Frankreich weder gelegentlich noch umstandsbezogen: Zumindest ab dem 15. Mai 2017 habe IB den Mittelpunkt seiner beruflichen Interessen in Frankreich begründet.

20

Insoweit weist das vorlegende Gericht jedoch darauf hin, dass zwar davon ausgegangen werden könne, dass IB zumindest sechs Monate vor der Anrufung des Tribunal de grande instance de Paris (Landgericht Paris) in Frankreich einen festen und dauerhaften Aufenthalt begründet habe; allerdings habe er seinen Aufenthalt in Irland nicht aufgegeben, wo er weiterhin familiäre Beziehungen gepflegt und sich aus persönlichen Gründen regelmäßig aufgehalten habe. Hieraus zog das vorlegende Gericht den Schluss, dass die irischen und die französischen Gerichte gleichermaßen zur Entscheidung über die Scheidung der betroffenen Ehegatten zuständig seien.

21

Der Grundsatz, dass derselbe Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit in zwei Mitgliedstaaten erfüllt sein kann, sei vom Gerichtshof im Urteil vom 16. Juli 2009, Hadadi (C‑168/08, EU:C:2009:474), aufgestellt worden. Die Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen sei, habe aber die Anwendung des Kriteriums der Staatsangehörigkeit betroffen, das objektiv definiert sei und darauf hinauslaufe, dass beide Ehegatten Staatsangehörige zweier Mitgliedstaaten sein könnten, während im Ausgangsverfahren der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in Rede stehe, dessen Definition selbst einer Auslegung bedürfe.

22

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 ein autonomer Begriff des Unionsrechts, der der Auslegung durch den Gerichtshof bedürfe.

23

Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Wenn sich aus dem Sachverhalt ergibt, dass einer der Ehegatten sein Leben in zwei Mitgliedstaaten verbringt, kann dann im Sinne des Art. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 und für dessen Anwendung davon ausgegangen werden, dass er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in zwei Mitgliedstaaten hat, so dass die Gerichte beider Mitgliedstaaten gleichermaßen zur Entscheidung über die Scheidung zuständig sind, wenn die in diesem Artikel genannten Voraussetzungen in diesen Mitgliedstaaten erfüllt sind?

Verfahren vor dem Gerichtshof

24

In ihrer Vorlageentscheidung hat die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

25

Auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts hat der Präsident des Gerichtshofs diesen Antrag mit Entscheidung vom 15. Juli 2020 zurückgewiesen.

26

Diese Entscheidung beruht auf der Feststellung, dass das vorlegende Gericht abgesehen von einem Verweis auf den Umstand, dass die Lebensgestaltung der betroffenen Ehegatten von der Bestimmung der Zuständigkeit der irischen oder französischen Gerichte abhänge, der jedoch nicht ausreicht, um die vorliegende Rechtssache von anderen Scheidungssachen zu unterscheiden, keinen Umstand dargelegt hat, der den Schluss zuließe, dass es die Art der Rechtssache erfordere, sie gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung rasch zu erledigen.

27

Mit Schreiben vom 17. Februar 2021 hat IB gemäß Art. 76 Abs. 1 der Verfahrensordnung mit einem mit Gründen versehenen Antrag begehrt, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.

28

Auf Nachfrage der Kanzlei des Gerichtshofs im Hinblick auf die Gesundheitskrise hat sich IB mit Schreiben vom 2. März 2021 damit einverstanden erklärt, dass die mündliche Verhandlung durch die Möglichkeit ersetzt wird, auf die schriftlichen Erklärungen der anderen Parteien und Beteiligten im Sinne von Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union schriftlich zu erwidern.

29

Neben IB haben die französische Regierung, Irland und die Europäische Kommission von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und Erklärungen abgegeben.

Zur Vorlagefrage

30

Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass ein Ehegatte, der sein Leben in zwei Mitgliedstaaten verbringt, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesen beiden Mitgliedstaaten haben kann, so dass die Gerichte beider Mitgliedstaaten für die Entscheidung über den Antrag auf Auflösung der Ehe zuständig sein könnten.

31

Die Verordnung Nr. 2201/2003 trägt laut ihrem ersten Erwägungsgrund zur Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bei, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Zu diesem Zweck legt sie in ihren Kapiteln II und III u. a. Regeln über die Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidungen im Bereich der Auflösung einer Ehe fest, wobei diese Regeln die Rechtssicherheit gewährleisten sollen (Urteil vom 13. Oktober 2016, Mikołajczyk, C‑294/15, EU:C:2016:772, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

In diesem Zusammenhang legt Art. 3 dieser Verordnung, der in deren Kapitel II enthalten ist, allgemeine Zuständigkeitskriterien im Bereich der Ehescheidung, der Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und der Ungültigerklärung einer Ehe fest. Diese objektiven, alternativen und abschließenden Kriterien beruhen auf der Notwendigkeit einer an die spezifischen kollisionsrechtlichen Bedürfnisse im Bereich der Auflösung einer Ehe angepassten Regelung (Urteil vom 13. Oktober 2016, Mikołajczyk, C‑294/15, EU:C:2016:772, Rn. 40).

33

Während Art. 3 Abs. 1 Buchst. a erster bis vierter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 ausdrücklich auf die Kriterien des gewöhnlichen Aufenthalts der Ehegatten bzw. des Antragsgegners Bezug nimmt, erlauben Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter Gedankenstrich sowie Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich dieser Verordnung die Anwendung der Zuständigkeitsregel des Klägergerichtsstands (Urteil vom 13. Oktober 2016, Mikołajczyk, C‑294/15, EU:C:2016:772, Rn. 41).

34

Die zuletzt genannten Bestimmungen verleihen den Gerichten des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, unter bestimmten Bedingungen die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Auflösung einer Ehe. So schreibt Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 eine solche Zuständigkeit fest, wenn sich der Antragsteller dort seit mindestens sechs Monaten vor der Antragstellung aufgehalten hat und entweder Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist oder, im Fall Irlands und des Vereinigten Königreichs, dort sein „domicile“ hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2016, Mikołajczyk, C‑294/15, EU:C:2016:772, Rn. 42).

35

Diese Bestimmung soll die Interessen der Ehegatten wahren und entspricht dem Ziel der Verordnung Nr. 2201/2003, da diese flexible Kollisionsregeln eingeführt hat, um auf die Freizügigkeit der Personen Rücksicht zu nehmen und auch die Rechte des Ehegatten zu schützen, der den Mitgliedstaat des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts verlassen hat, gleichzeitig aber auch das Bestehen einer tatsächlichen Beziehung zwischen dem Betroffenen und dem Mitgliedstaat, der die Zuständigkeit wahrnimmt, zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2016, Mikołajczyk, C‑294/15, EU:C:2016:772, Rn. 49 und 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Im vorliegenden Fall hat, wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, der französische Staatsangehörige IB unter Berufung auf Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 beim Tribunal de grande instance de Paris (Landgericht Paris) einen Scheidungsantrag eingereicht. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts hatte IB mindestens sechs Monate zuvor in Frankreich einen dauerhaften und beständigen Aufenthalt begründet. Die Verbindung von IB zu Frankreich sei nämlich nicht gelegentlich oder umstandsbezogen; zumindest seit Mai 2017 habe IB den Mittelpunkt seiner beruflichen Interessen in Frankreich begründet. Das vorlegende Gericht weist jedoch auch darauf hin, dass IB dadurch gleichwohl seinen Aufenthalt in Irland nicht aufgegeben habe, wo er weiterhin familiäre Beziehungen gepflegt und sich aus persönlichen Gründen genauso regelmäßig wie zuvor aufgehalten habe. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hatte IB tatsächlich an zwei Orten einen Aufenthalt – zum einen unter der Woche aus beruflichen Gründen in Paris und zum anderen bei seiner Frau und seinen Kindern in Irland, wo er die restliche Zeit verbracht habe.

37

Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass ein Ehegatte zu einem bestimmten Zeitpunkt nur einen einzigen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne dieser Bestimmung haben kann.

38

Vorab ist festzustellen, dass der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“, insbesondere der gewöhnliche Aufenthalt eines Ehegatten im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003, in dieser Verordnung nicht definiert wird.

39

Mangels einer solchen Definition in der Verordnung Nr. 2201/2003 oder eines ausdrücklichen Verweises auf das Recht der Mitgliedstaaten, um den Sinn und die Tragweite dieses Begriffs zu bestimmen, ist dieser unter Berücksichtigung des Kontexts der Bestimmungen, in denen er genannt wird, und der Ziele der Verordnung Nr. 2201/2003 autonom und einheitlich auszulegen (vgl. entsprechend, zum gewöhnlichen Aufenthalt eines Kindes, Urteil vom 28. Juni 2018, HR, C‑512/17, EU:C:2018:513, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Erstens ist darauf hinzuweisen, dass weder Art. 3 Abs. 1 Buchst. a noch eine andere Bestimmung der Verordnung Nr. 2201/2003 diesen Begriff in einer Pluralform erwähnt. Die Verordnung Nr. 2201/2003 bezieht sich vielmehr auf die Gerichte des Mitgliedstaats des „gewöhnlichen Aufenthalts“ – je nach Fall – des einen und/oder des anderen Ehegatten oder des Kindes. Dabei verwendet sie systematisch den Singular. Dass ein und dieselbe Person gleichzeitig mehrere gewöhnliche Aufenthalte oder einen gewöhnlichen Aufenthalt an mehreren Orten haben kann, ist darin nicht vorgesehen. Insoweit hat der Unionsgesetzgeber im Übrigen in Art. 66 Buchst. a dieser Verordnung klargestellt, dass für einen Mitgliedstaat, in dem die in dieser Verordnung behandelten Fragen in verschiedenen Gebietseinheiten durch zwei oder mehr Rechtssysteme geregelt werden, gilt, dass „[j]ede Bezugnahme auf den gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat … den gewöhnlichen Aufenthalt in einer Gebietseinheit [betrifft]“.

41

Zweitens hat der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 bereits entschieden, dass zum einen aus der Verwendung des Adjektivs „gewöhnlich“ geschlossen werden kann, dass der Aufenthalt eine gewisse Beständigkeit oder Regelmäßigkeit haben muss, und zum anderen die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts durch eine Person deren Willen widerspiegelt, dort den ständigen oder gewöhnlichen Mittelpunkt ihrer Interessen in der Absicht zu begründen, ihm Beständigkeit zu verleihen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, Mercredi, C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 44 und 51).

42

Diese Auslegung wird im Übrigen durch den von Frau Borrás erstellten erläuternden Bericht zu dem Übereinkommen über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen, sog. Brüssel‑II‑Übereinkommen (ABl. 1998, C 221, S. 1), gestützt, an dem sich der Wortlaut der Verordnung Nr. 2201/2003 orientiert hat. Aus Nr. 32 dieses Berichts (ABl. 1998, C 221, S. 27) geht nämlich hervor, dass hinsichtlich des gewöhnlichen Aufenthalts als Kriterium für die Zuweisung der Zuständigkeit im Bereich der Auflösung einer Ehe besonders der Definition durch den Gerichtshof in anderen Bereichen Rechnung getragen wurde, wonach dieser Begriff den Ort bezeichnet, den der Betroffene als ständigen oder gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in der Absicht gewählt hat, ihm Dauerhaftigkeit zu verleihen.

43

Die Gleichsetzung des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person, im vorliegenden Fall eines Ehegatten, mit dem ständigen oder gewöhnlichen Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen spricht jedoch nicht für die Annahme, dass mehrere Aufenthaltsorte gleichzeitig diese Eigenschaft aufweisen können.

44

Diese Beurteilung wird drittens durch das Ziel bestätigt, das mit den in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 festgelegten Zuständigkeitsregeln verfolgt wird, nämlich sicherzustellen, dass zwischen der Freizügigkeit der Personen innerhalb der Europäischen Union und der Rechtssicherheit ein Gleichgewicht besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2016, Mikołajczyk, C‑294/15, EU:C:2016:772, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45

Es trifft zu, dass die Verordnung Nr. 2201/2003, um die Freizügigkeit von Personen innerhalb der Union zu fördern, von dem Ziel geleitet ist, die Möglichkeit der Auflösung der Ehe dadurch zu erleichtern, dass in ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a zugunsten des Antragstellers mehrere alternative Kriterien festgelegt werden, deren Anwendung keiner Rangordnung unterliegt. Daher sollen mit dem durch diese Verordnung eingeführten System der Zuständigkeitsverteilung im Bereich der Auflösung einer Ehe mehrfache Zuständigkeiten nicht ausgeschlossen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2016, Mikołajczyk, C‑294/15, EU:C:2016:772, Rn. 46 und 47 und die dort angeführte Rechtsprechung); für ihre Koordinierung sorgen die Regeln über die Rechtshängigkeit in Art. 19 der Verordnung.

46

Ließe man jedoch zu, dass ein Ehegatte gleichzeitig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in mehreren Mitgliedstaaten haben kann, könnte dies die Rechtssicherheit beeinträchtigen und die Schwierigkeiten, im Voraus die Gerichte zu bestimmen, die über die Auflösung der Ehe entscheiden können, verstärken sowie die Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit durch das angerufene Gericht erschweren. Wie der Generalanwalt in Nr. 94 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, bestünde dann die Gefahr, dass die internationale Zuständigkeit letztlich nicht durch das Kriterium des „gewöhnlichen Aufenthalts“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt würde, sondern durch ein Kriterium, das auf dem einfachen Aufenthaltsort eines der Ehegatten beruht, was gegen diese Verordnung verstieße.

47

Viertens zieht die Auslegung der Zuständigkeitsregeln in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 Konsequenzen nach sich, die sich nicht auf die Auflösung der Ehe als solche beschränken.

48

Insbesondere verweisen nämlich sowohl Art. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 4/2009 als auch Art. 5 der Verordnung 2016/1103 auf die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 festgelegte Zuständigkeit und sehen im Rahmen von Verfahren zur Auflösung der Ehe akzessorische Zuständigkeiten des angerufenen Gerichts für die Entscheidung über bestimmte Unterhaltsanträge oder über bestimmte Vermögensfragen vor. Einem Ehegatten mehrere gleichzeitige gewöhnliche Aufenthalte zuzuerkennen, könnte mithin auch das Erfordernis der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsregeln gefährden, das diesen Verordnungen gemeinsam ist (vgl. zur Verordnung Nr. 4/2009 Urteil vom 4. Juni 2020, FX [Vollstreckungsabwehr gegenüber einem Unterhaltsanspruch], C‑41/19, EU:C:2020:425, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie zur Verordnung 2016/1103 insbesondere deren Erwägungsgründe 15 und 49).

49

Fünftens werden alle diese Erwägungen nicht durch die im Urteil vom 16. Juli 2009, Hadadi (C‑168/08, EU:C:2009:474, Rn. 56), vorgenommene Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 in Frage gestellt, in Bezug auf den der Gerichtshof anerkannt hat, dass die Gerichte mehrerer Mitgliedstaaten zuständig sein können, wenn die Betroffenen mehrere Staatsangehörigkeiten besitzen.

50

Wie der Generalanwalt in Nr. 92 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, hat es nämlich der Gerichtshof im Urteil Hadadi zwar abgelehnt, das Anknüpfungskriterium des Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003, nämlich die Staatsangehörigkeit der beiden Ehegatten, auf deren „effektive Staatsangehörigkeit“ zu beschränken, jedoch steht dies mit der Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung in keinem Zusammenhang.

51

Nach alledem ist es zwar nicht ausgeschlossen, dass ein Ehegatte im gleichen Zeitraum an mehreren Orten einen Aufenthalt haben kann, doch kann er zu einem bestimmten Zeitpunkt nur einen einzigen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 haben.

52

Da der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Wesentlichen eine Tatsachenfrage darstellt (Urteil vom 8. Juni 2017, OL, C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 51), ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des von IB angerufenen nationalen Gerichts dem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Antragstellers im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 entspricht (vgl. entsprechend Urteile vom 2. April 2009, A, C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 42, und vom 28. Juni 2018, HR, C‑512/17, EU:C:2018:513, Rn. 41).

53

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 über die elterliche Verantwortung davon ausgegangen ist, dass für die Bestimmung des Ortes des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes, insbesondere eines im Alltag von seinen Eltern abhängigen Kleinkindes, der Ort zu ermitteln ist, wo sich diese dauerhaft aufhalten und in ein soziales und familiäres Umfeld integriert sind; dabei kann auch die Absicht der Eltern, sich so an einem bestimmten Ort niederzulassen, berücksichtigt werden, wenn sie sich in äußeren Umständen manifestiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juni 2018, HR, C‑512/17, EU:C:2018:513, Rn. 45 und 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). In dieser Rechtsprechung wird somit das soziale und familiäre Umfeld der Eltern des Kindes, insbesondere eines Kleinkindes, als wesentliches Kriterium für die Bestimmung des Ortes des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes herangezogen.

54

Zwar stimmen die besonderen Umstände, die den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes kennzeichnen, offensichtlich nicht in jeder Hinsicht mit denen überein, die es ermöglichen, den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts eines Ehegatten im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 zu bestimmen.

55

So kann ein Ehegatte wegen einer Ehekrise beschließen, den früheren gewöhnlichen Aufenthalt des Ehepaars zu verlassen, um sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem des früheren Aufenthalts niederzulassen und dort unter den in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter oder sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Voraussetzungen einen Antrag auf Auflösung der Ehe zu stellen, wobei es ihm völlig freisteht, eine Reihe sozialer und familiärer Verbindungen im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu behalten, in dem sich der frühere gewöhnliche Aufenthalt des Ehepaars befunden hat.

56

Außerdem ist im Unterschied zu einem Kind, insbesondere einem Kleinkind, dessen Umfeld im Allgemeinen weitgehend ein familiäres Umfeld ist (vgl. insoweit Urteil vom 22. Dezember 2010, Mercredi, C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 54), das Umfeld eines Erwachsenen notwendigerweise vielfältiger und besteht aus einem erheblich breiteren Spektrum von Aktivitäten und mannigfaltigen Interessen, insbesondere beruflicher, soziokultureller, vermögensbezogener, privater und familiärer Art. Insbesondere in Anbetracht des Ziels der Verordnung Nr. 2201/2003, Anträge auf Auflösung der Ehe zu erleichtern, indem flexible Kollisionsregeln eingeführt und die Rechte des Ehegatten geschützt werden, der infolge der Ehekrise den Mitgliedstaat des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts verlassen hat, kann insoweit nicht verlangt werden, dass sich diese Interessen auf das Hoheitsgebiet eines einzigen Mitgliedstaats konzentrieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2016, Mikołajczyk, C‑294/15, EU:C:2016:772, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57

Gleichwohl lässt die in Rn. 53 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung für die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 die Annahme zu, dass der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ grundsätzlich durch zwei Elemente gekennzeichnet ist, nämlich zum einen durch den Willen des Betroffenen, den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen an einen bestimmten Ort zu legen, und zum anderen durch eine hinreichend dauerhafte Anwesenheit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats.

58

Daher muss ein Ehegatte, der sich auf den Gerichtsstand nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter oder sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 berufen möchte, zwingend seinen gewöhnlichen Aufenthalt in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem des früheren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts verlegt und mithin zum einen den Willen zum Ausdruck gebracht haben, den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in diesem anderen Mitgliedstaat zu errichten, und zum anderen nachgewiesen haben, dass seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hinreichend dauerhaft ist.

59

Im vorliegenden Fall steht, wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, fest, dass IB, Staatsangehöriger des Mitgliedstaats, in dem das von ihm angerufene nationale Gericht liegt, das Erfordernis eines mindestens sechsmonatigen Aufenthaltes im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats unmittelbar vor Beantragung der Auflösung der Ehe nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 erfüllt hat. Ferner steht fest, dass IB seit 2017 unter der Woche beständig und dauerhaft eine unbefristete berufliche Tätigkeit in Frankreich ausgeübt hat, wo er für die Ausübung dieser Tätigkeit eine Wohnung genommen hatte.

60

Dies deutet darauf hin, dass der Aufenthalt von IB im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats dauerhaft ist und zudem zumindest eine Integration des Betroffenen in ein soziales und kulturelles Umfeld in diesem Mitgliedstaat erkennen lässt.

61

Zwar lassen diese Gesichtspunkte a priori den Schluss zu, dass die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sein könnten, doch ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob alle tatsächlichen Umstände des Einzelfalls tatsächlich die Annahme zulassen, dass der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verlegt hat, in dem dieses Gericht liegt.

62

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass ein Ehegatte, der sein Leben in zwei Mitgliedstaaten verbringt, seinen gewöhnlichen Aufenthalt nur in einem dieser Mitgliedstaaten haben kann, so dass allein die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich dieser gewöhnliche Aufenthalt befindet, für die Entscheidung über den Antrag auf Auflösung der Ehe zuständig sind.

Kosten

63

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass ein Ehegatte, der sein Leben in zwei Mitgliedstaaten verbringt, seinen gewöhnlichen Aufenthalt nur in einem dieser Mitgliedstaaten haben kann, so dass allein die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich dieser gewöhnliche Aufenthalt befindet, für die Entscheidung über den Antrag auf Auflösung der Ehe zuständig sind.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.