URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

8. Juli 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 96/71/EG – Art. 1 Abs. 1 sowie Art. 3 und 5 – Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen – Kraftfahrer im internationalen Verkehr – Einhaltung der Mindestlohnsätze des Landes der Entsendung – Tagegeld – Verordnung (EG) Nr. 561/2006 – Art. 10 – Den Arbeitnehmern in Abhängigkeit vom verbrauchten Treibstoff gewährte Vergütung“

In der Rechtssache C‑428/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Gyulai Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Gyula, Ungarn) mit Entscheidung vom 20. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juni 2019, in dem Verfahren

OL,

PM,

RO

gegen

Rapidsped Fuvarozási és Szállítmányozási Zrt.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot sowie des Richters L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin C. Toader und der Richter M. Safjan und N. Jääskinen,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von OL, PM und RO, vertreten durch Gy. Lupkovics, ügyvéd,

der Rapidsped Fuvarozási és Szállítmányozási Zrt., vertreten durch D. Kaszás, ügyvéd,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquières und C. Mosser als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und P. Huurnink als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch W. Mölls, B.‑R. Killmann und L. Havas, dann durch B.‑R. Killmann und L. Havas als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Mai 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 sowie von Art. 3 und 5 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) und von Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates (ABl. 2006, L 102, S. 1).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen OL, PM und RO auf der einen Seite und der Rapidsped Fuvarozási és Szállítmányozási Zrt. (im Folgenden: Rapidsped) auf der anderen Seite über einen Antrag von OL, PM und RO in ihrer Eigenschaft als Kraftfahrer im internationalen Verkehr, von Rapidsped, ihrem Arbeitgeber, die Zahlung eines Lohns zu erhalten, der den französischen Mindestlohn für die in Frankreich verrichtete Arbeitszeit berücksichtigt.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 96/71

3

Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 96/71 bestimmt:

(1)   Diese Richtlinie gilt für Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat, die im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer gemäß Absatz 3 in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsenden.

(2)   Diese Richtlinie gilt nicht für Schiffsbesatzungen von Unternehmen der Handelsmarine.

(3)   Diese Richtlinie findet Anwendung, soweit die in Absatz 1 genannten Unternehmen eine der folgenden länderübergreifenden Maßnahmen treffen:

a)

einen Arbeitnehmer in ihrem Namen und unter ihrer Leitung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats im Rahmen eines Vertrags entsenden, der zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem in diesem Mitgliedstaat tätigen Dienstleistungsempfänger geschlossen wurde, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht,

…“

4

Art. 2 („Begriffsbestimmung“) dieser Richtlinie lautet wie folgt:

„(1)   Im Sinne dieser Richtlinie gilt als entsandter Arbeitnehmer jeder Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet.

(2)   Für die Zwecke dieser Richtlinie wird der Begriff des Arbeitnehmers in dem Sinne verwendet, in dem er im Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird, gebraucht wird.“

5

Art. 3 („Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der nachstehenden Aspekte die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird,

durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder

durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche im Sinne des Absatzes 8, sofern sie die im Anhang genannten Tätigkeiten betreffen, festgelegt sind:

c)

Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze; dies gilt nicht für die zusätzlichen betrieblichen Altersversorgungssysteme;

Zum Zweck dieser Richtlinie wird der in Unterabsatz 1 Buchstabe c) genannte Begriff der Mindestlohnsätze durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird.

(7)   Die Absätze 1 bis 6 stehen der Anwendung von für die Arbeitnehmer günstigeren Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen nicht entgegen.

Die Entsendungszulagen gelten als Bestandteil des Mindestlohns, soweit sie nicht als Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Kosten wie z. B. Reise‑, Unterbringungs- und Verpflegungskosten gezahlt werden.

…“

6

Art. 5 („Maßnahmen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen geeignete Maßnahmen für den Fall der Nichteinhaltung dieser Richtlinie vor.

Sie stellen insbesondere sicher, dass den Arbeitnehmern und/oder ihren Vertretern für die Durchsetzung der sich aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen geeignete Verfahren zur Verfügung stehen.“

7

In Art. 6 („Gerichtliche Zuständigkeit“) der Richtlinie 96/71 heißt es:

„Zur Durchsetzung des Rechts auf die in Artikel 3 gewährleisteten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen kann eine Klage in dem Mitgliedstaat erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt ist oder war; dies berührt nicht die Möglichkeit, gegebenenfalls gemäß den geltenden internationalen Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit in einem anderen Staat Klage zu erheben.“

Richtlinie 2003/59/EG

8

Im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2003 über die Grundqualifikation und Weiterbildung der Fahrer bestimmter Kraftfahrzeuge für den Güter- oder Personenkraftverkehr und zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates und der Richtlinie 91/439/EWG des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 76/914/EWG des Rates (ABl. 2003, L 226, S. 4) heißt es, dass sich die Entwicklung eines defensiven Fahrstils, der mit einem rationelleren Kraftstoffverbrauch einhergeht, sowohl auf die Gesellschaft als auch auf das Straßentransportgewerbe selbst positiv auswirken wird.

9

Art. 1 („Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie gilt für das Führen von Fahrzeugen

a)

durch Staatsangehörige eines Mitgliedstaats,

b)

durch Staatsangehörige eines Drittlands, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmen beschäftigt oder eingesetzt werden,

nachstehend ‚Kraftfahrer‘ genannt, die auf öffentlichen Verkehrswegen innerhalb der Union Beförderungen durchführen mit

Fahrzeugen, für die ein Führerschein der Klasse C1, C1+E, C oder C+E im Sinne der Richtlinie 91/439/EWG [des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein (ABl. 1991, L 237, S. 1)] oder ein als gleichwertig anerkannter Führerschein erforderlich ist,

…“

10

Anhang I dieser Richtlinie trägt die Überschrift „Mindestanforderungen an Qualifikation und Ausbildung“. Gemäß Nr. 1.3 in Abschnitt 1 dieses Anhangs müssen sich die Kenntnisse, die für die Feststellung der Grundqualifikation und Weiterbildung des Fahrers durch die Mitgliedstaaten zu berücksichtigen sind, u. a. auf die Optimierung des Treibstoffverbrauchs im Zusammenhang mit den Führerscheinklassen C, C + E, C1, C1 + E erstrecken.

Richtlinie 2006/126/EG

11

Die Richtlinie 91/439 wurde durch die Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (ABl. 2006, L 403, S. 18) mit Wirkung vom 19. Januar 2013 aufgehoben und ersetzt. Art. 4 der Richtlinie 2006/126 in Verbindung mit der Entsprechungstabelle in Anhang III der Richtlinie 2003/59 ist zu entnehmen, dass die in dieser letztgenannten Richtlinie erwähnten Führerscheinklassen C, C + E, C1, C1 + E Kraftfahrzeuge betreffen, die u. a. zur Güterbeförderung im Straßenverkehr genutzt werden und deren zulässige Gesamtmasse 3,5 t übersteigt.

12

Nach Art. 17 Abs. 3 der Richtlinie 2006/126 gelten Verweisungen auf die aufgehobene Richtlinie 91/439 als Verweisungen auf die Richtlinie 2006/126.

Verordnung Nr. 561/2006

13

Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 561/2006 gilt diese u. a. für die Güterbeförderung im Straßenverkehr mit Fahrzeugen, deren zulässige Höchstmasse einschließlich Anhänger oder Sattelanhänger 3,5 t übersteigt.

14

Art. 10 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Verkehrsunternehmen dürfen angestellten oder ihnen zur Verfügung gestellten Fahrern keine Zahlungen in Abhängigkeit von der zurückgelegten Strecke und/oder der Menge der beförderten Güter leisten, auch nicht in Form von Prämien oder Lohnzuschlägen, falls diese Zahlungen geeignet sind, die Sicherheit im Straßenverkehr zu gefährden und/oder zu Verstößen gegen diese Verordnung ermutigen.“

Verordnung (EG) Nr. 44/2001

15

Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) sah in ihrem Abs. 1 vor, dass diese Verordnung im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten an die Stelle des Abkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der durch die nachfolgenden Übereinkommen über den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen geänderten Fassung (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) außer hinsichtlich bestimmter Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten tritt, und in Abs. 2, dass, soweit diese Verordnung die Bestimmungen des Brüsseler Übereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten ersetzt, Verweise auf dieses Übereinkommen als Verweise auf die vorliegende Verordnung gelten.

Verordnung (EU) Nr. 1215/2012

16

Im achten Erwägungsgrund der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1) heißt es:

„Am 22. Dezember 2000 nahm der Rat die Verordnung … Nr. 44/2001 an, die das Brüsseler Übereinkommen … im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander mit Ausnahme Dänemarks hinsichtlich der Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten ersetzt, die in den Anwendungsbereich des AEUV fallen. Mit dem Beschluss 2006/325/EG des Rates … [vom 27. April 2006 über den Abschluss des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2006, L 120, S. 22)] schloss die Gemeinschaft mit Dänemark ein Abkommen über die Anwendung der Bestimmungen der Verordnung … Nr. 44/2001 in Dänemark. …“

17

Nach Art. 21 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung kann ein Arbeitgeber, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor den Gerichten des Mitgliedstaats verklagt werden, in dem er seinen Wohnsitz hat.

18

Ist zu entscheiden, ob eine Partei im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Gerichte angerufen sind, einen Wohnsitz hat, so wendet das Gericht nach Art. 62 Abs. 1 dieser Verordnung sein Recht an.

19

Art. 80 der Verordnung Nr. 1215/2012 sieht vor, dass mit dieser Verordnung die Verordnung Nr. 44/2001 aufgehoben wird. Bezugnahmen auf die aufgehobene Verordnung gelten als Bezugnahmen auf die Verordnung Nr. 1215/2012.

Ungarisches Recht

20

§ 3 Abs. 2 des a Munka Törvénykönyvéről szóló 2012. évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 2012 über das Arbeitsgesetzbuch, im Folgenden: Arbeitsgesetzbuch) sieht vor, dass dieses Anwendung findet, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich in Ungarn verrichtet, sofern nichts anderes bestimmt ist.

21

In § 285 des Arbeitsgesetzbuchs heißt es:

„(1)   Arbeitnehmer und Arbeitgeber können ihre Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis oder diesem Gesetz, Gewerkschaften und Betriebsräte ihre Ansprüche aus diesem Gesetz, einem Tarifvertrag oder einer Betriebsvereinbarung vor einem Gericht geltend machen.

(4)   Arbeitnehmer können gemäß den Bestimmungen des § 295 ihre für die Dauer der Beschäftigung in Ungarn bestehenden Ansprüche auch vor einem ungarischen Gericht geltend machen.“

22

§ 295 Abs. 1 dieses Gesetzbuchs bestimmt:

„Beschäftigt ein ausländischer Arbeitgeber – aufgrund einer mit einem Dritten geschlossenen Vereinbarung – einen Arbeitnehmer in Ungarn in einem Arbeitsverhältnis, auf das dieses Gesetz nach § 3 Abs. 2 keine Anwendung findet, sind auf dieses Arbeitsverhältnis – mit Ausnahme der Regelung in Abs. 4 – hinsichtlich

a)

der Dauer der Höchstarbeitszeit und der Mindestruhezeiten,

b)

der Mindestdauer des bezahlten Jahresurlaubs,

c)

der Höhe des Mindestlohns,

d)

der in den §§ 214 bis 222 festgelegten Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften,

e)

der Arbeitsschutzbedingungen,

f)

der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für Schwangere und Mütter von Kleinkindern sowie für jugendliche Arbeitnehmer,

g)

des Gleichbehandlungsgebots

ungarisches Recht, einschließlich der Bestimmungen des für das Arbeitsverhältnis geltenden Kollektivvertrags, anzuwenden.“

23

Gemäß § 299 dieses Gesetzbuchs soll mit diesem u. a. die Richtlinie 96/71 in innerstaatliches Recht umgesetzt werden.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

24

OL, PM und RO (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kraftfahrer) schlossen mit Rapidsped, einer Gesellschaft mit Sitz in Ungarn, jeweils am 12. Juni 2015, am 7. Juli 2016 bzw. am 26. August 2016 einen Arbeitsvertrag über eine Tätigkeit als Lkw-Fahrer.

25

In diesen Verträgen, die einheitlich abgefasst sind, wird festgelegt, dass neben der grenzüberschreitenden zwar auch die nationale Güterbeförderung zu den Aufgaben der Arbeitnehmer gehört, diese jedoch ihre Arbeit normalerweise an Orten zu verrichten haben, die häufig und hauptsächlich im Ausland liegen, ohne dass indessen die Arbeit dauerhaft im Ausland verrichtet würde.

26

Nach ungarischem Recht hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Tagegelder für im Ausland verrichtete Arbeit. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten und insbesondere einem von Rapidsped herausgegebenen Informationspapier für Arbeitnehmer geht hervor, dass diese Tagegelder mit zunehmender Dauer der Entsendung der Arbeitnehmer ins Ausland anstiegen; gemäß dem Vertrag konnte nach Wahl des Arbeitnehmers dieser Entsendungszeitraum grundsätzlich zwischen drei und fünf Wochen liegen. In diesem Papier wurde klargestellt, dass die Tagegelder die im Ausland entstandenen Kosten decken sollten.

27

Außerdem sahen die Arbeitsverträge der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kraftfahrer für diese, wenn sie Treibstoff einsparten, eine im Ermessen des Arbeitgebers stehende Zulage vor, die auf einer Formel beruhte, bei der der Treibstoffverbrauch zur zurückgelegten Strecke ins Verhältnis gesetzt wurde.

28

Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kraftfahrer begaben sich zur Verrichtung ihrer Arbeit mit einem Kleinbus nach Frankreich. Während der gesamten Entsendungsdauer legten die Verteilungsdienststellen von Rapidsped fest, welche Beförderungseinsätze durchzuführen waren, d. h. sie bestimmten, an welchem Datum, mit welchem Fahrzeug und auf welcher Route die Güter befördert werden sollten. Aufgrund der Kabotagevorschriften überquerten die Fahrer mehrfach die Grenze.

29

Zu Beginn jedes Entsendungszeitraums stellte Rapidsped den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kraftfahrern eine von einem ungarischen Notar beglaubigte Erklärung und eine Entsendebescheinigung des französischen Arbeitsministeriums zur Verfügung, aus denen sich ergab, dass ihr Stundenlohn 10,40 Euro pro Stunde betrug und somit höher war als der im Straßenverkehrssektor geltende französische Mindeststundenlohn, der mit 9,76 Euro festgelegt war.

30

Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kraftfahrer erhoben beim vorlegenden Gericht, dem Gyulai Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Gyula, Ungarn), Klage gegen Rapidsped und führten zur Begründung aus, dass ihr Lohn für die in Frankreich geleistete Arbeitszeit nicht den französischen Mindestlohn erreiche.

31

Gemäß den Arbeitsverträgen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kraftfahrer erhielten diese im Jahr 2018 tatsächlich einen Monatslohn von 545 Euro brutto, d. h. 3,24 Euro pro Stunde. Zur Differenz von 6,52 Euro pro Stunde zwischen dem französischen Mindestlohn und dem von den Fahrern erhaltenen Stundenlohn macht Rapidsped vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass diese Differenz mit dem Betrag der Tagegelder und der Treibstoffeinsparungszulage abgegolten sei, die den Fahrern gezahlt worden seien, denn Tagegelder und Zulage seien für sie Lohnbestandteile, was die Fahrer bestreiten.

32

Sollte die Richtlinie 96/71 auf den internationalen Güterkraftverkehr anwendbar sein, wird nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Situation, die Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits ist, von dieser Richtlinie erfasst, da der in Ungarn registrierte Arbeitgeber Rapidsped ungarische Arbeitnehmer, nämlich die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden und nach ungarischem Arbeitsrecht beschäftigten Kraftfahrer, in seinem Auftrag und unter seiner Weisungsbefugnis in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union entsende, um Gütertransportdienstleistungen an Kunden des Entsendungsortes zu erbringen. Für die Arbeitnehmer habe während der gesamten Zeit ein Arbeitsverhältnis mit Rapidsped bestanden, die für die Entsendung verantwortlich gewesen sei.

33

Unter diesen Umständen hat das Gyulai Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Gyula) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 – unter Berücksichtigung ihrer Art. 3 und 5 sowie der §§ 285 und 299 des ungarischen Arbeitsgesetzbuchs – dahin auszulegen, dass sich ungarische Arbeitnehmer gegenüber ihren ungarischen Arbeitgebern in einem vor den ungarischen Gerichten anhängig gemachten Verfahren auf einen Verstoß gegen diese Richtlinie und die französischen Mindestlohnvorschriften berufen können?

2.

Sind Tagegelder, die die Kosten decken sollen, die Arbeitnehmern während ihrer Entsendung ins Ausland entstehen, als Bestandteil des Arbeitsentgelts anzusehen?

3.

Verstößt eine Praxis, nach der ein Arbeitgeber Kraftfahrern bei einer nach dem Verhältnis zwischen zurückgelegter Strecke und Treibstoffverbrauch bemessenen Einsparung eine auf einer Formel beruhende Zuwendung gewährt, die nicht Bestandteil des in ihrem Arbeitsvertrag vereinbarten Arbeitsentgelts ist und auf die auch keine Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge entrichtet werden, gegen Art. 10 der Verordnung Nr. 561/2006, wenn die Treibstoffeinsparung die Kraftfahrer zu einer Fahrweise ermutigt, die die Verkehrssicherheit gefährden könnte (beispielsweise dazu, auf Gefällstrecken so lange wie möglich im Freilauf zu fahren)?

4.

Ist die Richtlinie 96/71 auf den internationalen Güterverkehr anwendbar, insbesondere in Anbetracht dessen, dass die Europäische Kommission gegen Frankreich und Deutschland Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, weil diese ihre Rechtsvorschriften über Mindestlöhne auch auf den Straßenverkehrssektor anwenden?

5.

Kann eine Richtlinie allein – im Fall ihrer Nichtumsetzung in nationales Recht – Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen und somit allein als Grundlage für eine Klage gegen einen Einzelnen in einem bei einem innerstaatlichen Gericht anhängig gemachten Rechtsstreit dienen?

Zu den Vorlagefragen

Zur vierten Frage

34

Mit seiner vierten Frage, die als Erstes zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 96/71 dahin auszulegen ist, dass sie auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist.

35

In Rn. 41 des Urteils vom 1. Dezember 2020, Federatie Nederlandse Vakbeweging (C‑815/18, EU:C:2020:976), hat der Gerichtshof dies bejaht.

36

Daher ist auf die vierte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 96/71 dahin auszulegen ist, dass sie auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist.

Zur ersten Frage

37

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 in Verbindung mit den Art. 3 und 5 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass der Verstoß des in einem Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgebers gegen die Mindestlohnvorschriften eines anderen Mitgliedstaats von entsandten Arbeitnehmern des erstgenannten Mitgliedstaats vor einem Gericht dieses Mitgliedstaats gegen den genannten Arbeitgeber geltend gemacht werden kann.

38

Um sicherzustellen, dass ein Kern zwingender Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz beachtet wird, sieht Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 vor, dass die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat im Rahmen einer länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen den in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandten Arbeitnehmern unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht bezüglich der in dieser Vorschrift aufgeführten Aspekte die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem zweitgenannten Mitgliedstaat gelten, und insbesondere die dortigen Mindestlohnsätze gewähren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2015, Sähköalojen ammattiliitto, C‑396/13, EU:C:2015:86, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 96/71 gibt den Mitgliedstaaten auf, insbesondere sicherzustellen, dass den Arbeitnehmern für die Durchsetzung der sich aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen geeignete Verfahren zur Verfügung stehen. Demzufolge müssen diese Arbeitnehmer die Einhaltung der in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen wie diejenige bezüglich der Mindestlohnsätze gerichtlich geltend machen können.

40

Art. 6 der Richtlinie 96/71 bestimmt, dass – neben der für die entsandten Arbeitnehmer bestehenden Möglichkeit, die in Art. 3 dieser Richtlinie gewährleisteten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in einem Mitgliedstaat, dessen Gerichte gemäß den geltenden internationalen Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit zuständig sind, gerichtlich geltend zu machen – die genannten Arbeitnehmer eine solche Klage auch vor den zuständigen Gerichten desjenigen Mitgliedstaats erheben können, in dessen Hoheitsgebiet sie entsandt sind oder waren.

41

Daraus folgt, dass Art. 3 Abs. 1 sowie die Art. 5 und 6 der Richtlinie 96/71 so auszulegen sind, dass sie unabhängig von dem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht dem entsandten Arbeitnehmer das Recht gewährleisten, sich vor dem einen oder dem anderen der in der vorherigen Randnummer genannten zuständigen Gerichte auf diejenigen Bestimmungen des Aufnahmemitgliedstaats zu berufen und sie geltend zu machen, die sich auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen beziehen, die die in der erstgenannten Bestimmung aufgeführten Bereiche berühren; dies gilt insbesondere für die Mindestlohnsätze.

42

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 21 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012, auf den Art. 6 der Richtlinie 96/71 dadurch indirekt verweist, dass er auf die „geltenden internationalen Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit“ Bezug nimmt, ein Arbeitgeber, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor den Gerichten des Mitgliedstaats verklagt werden kann, in dem er seinen Wohnsitz hat.

43

Des Weiteren sieht Art. 62 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 vor, dass, wenn zu entscheiden ist, ob eine Partei im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Gerichte angerufen sind, einen Wohnsitz hat, das Gericht insoweit sein nationales Recht anwendet.

44

Somit ist es im vorliegenden Fall Sache des vorlegenden Gerichts, für die Feststellung, ob es nach der Verordnung Nr. 1215/2012 zuständig ist, zu prüfen, ob in Bezug auf den Arbeitgeber der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kraftfahrer nach ungarischem Recht davon auszugehen ist, dass er seinen Wohnsitz in Ungarn hat.

45

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 der Richtlinie 96/71 in Verbindung mit deren Art. 5 dahin auszulegen sind, dass sie das Erfordernis aufstellen, dass der Verstoß eines in einem Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgebers gegen die Mindestlohnvorschriften eines anderen Mitgliedstaats von entsandten Arbeitnehmern des erstgenannten Mitgliedstaats vor einem Gericht dieses Mitgliedstaats, sofern es zuständig ist, gegen den genannten Arbeitgeber geltend gemacht werden kann.

Zur zweiten Frage

46

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen ist, dass Tagegelder, die die Kosten decken sollen, die Arbeitnehmern während ihrer Entsendung ins Ausland entstehen, als Bestandteil des Mindestlohns anzusehen sind.

47

Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 für die Bestimmung der Mindestlohnsätze im Sinne ihres Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 ausdrücklich auf die Rechtsvorschriften oder Praktiken des Mitgliedstaats verweist, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird (Urteil vom 12. Februar 2015, Sähköalojen ammattiliitto, C‑396/13, EU:C:2015:86, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Zum anderen bestimmt Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 dieser Richtlinie in Bezug auf die Entsendungszulagen, inwieweit diese Lohnbestandteile im Rahmen der in Art. 3 der Richtlinie festgelegten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen als Bestandteil des Mindestlohns gelten (Urteil vom 12. Februar 2015, Sähköalojen ammattiliitto, C‑396/13, EU:C:2015:86, Rn. 33).

49

Für die Frage, ob ein Tagegeld wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestandteil des Mindestlohns im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 96/71 ist, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 eine Zulage als „Entsendungszulage“, die Bestandteil des Mindestlohns ist, anzusehen ist, wenn sie nicht als Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Kosten gezahlt wird.

50

Auch wenn es im vorliegenden Fall in dem von Rapidsped für ihr Personal erstellten Informationspapier heißt, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Tagegeld die den entsandten Arbeitnehmern im Ausland entstandenen Kosten decken solle, ist die Höhe dieser Entschädigung doch danach gestaffelt, ob die Entsendung drei, vier oder fünf Wochen oder sogar länger dauert. Dieser zweite Gesichtspunkt, insbesondere der pauschale und progressive Charakter der fraglichen Entschädigung, scheint darauf hinzudeuten, dass sie nicht in erster Linie die den Arbeitnehmern im Ausland entstandenen Kosten decken soll, sondern eher, ebenso wie das Tagegeld, das in der Rechtssache in Rede stand, in der das Urteil vom 12. Februar 2015, Sähköalojen ammattiliitto (C‑396/13, EU:C:2015:86, Rn. 48), ergangen ist, die Nachteile ausgleichen soll, die mit der Entsendung einhergehen; diese bestehen darin, dass die Arbeitnehmer von ihrem gewohnten Umfeld entfernt sind.

51

Außerdem geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass dieses Tagegeld als Erstattung von tatsächlich entstandenen Kosten wie Reise‑, Unterbringungs- und Verpflegungskosten gezahlt würde.

52

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Zulagen und Zuschläge, die durch die Rechtsvorschriften oder die Praktiken des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird, nicht als Bestandteile des Mindestlohns definiert werden und die das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers und der von ihm erhaltenen Gegenleistung verändern, nicht aufgrund der Richtlinie 96/71 als derartige Bestandteile betrachtet werden können. Es ist nämlich völlig normal, dass der Arbeitnehmer, der auf Verlangen des Arbeitgebers ein Mehr an Arbeit oder Arbeitsstunden unter besonderen Bedingungen leistet, einen Ausgleich für diese zusätzliche Leistung erhält, ohne dass dieser bei der Berechnung des Mindestlohns berücksichtigt wird (Urteil vom 14. April 2005, Kommission/Deutschland, C‑341/02, EU:C:2005:220, Rn. 39 und 40).

53

Da der Gerichtshof im vorliegenden Fall nicht über alle relevanten Informationen verfügt, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die hierfür erforderlichen Prüfungen anzustellen.

54

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 dahin auszulegen ist, dass ein Tagegeld, das je nach Dauer der Entsendung des Arbeitnehmers unterschiedlich hoch ausfällt, eine Entsendungszulage darstellt, die Bestandteil des Mindestlohns ist, es sei denn, das Tagegeld wird als Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Kosten wie z. B. Reise‑, Unterbringungs- und Verpflegungskosten gezahlt oder entspricht einer Zulage, die das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers und der von ihm erhaltenen Gegenleistung verändert.

Zur dritten Frage

55

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 10 der Verordnung Nr. 561/2006 dahin auszulegen ist, dass er es einem Güterkraftverkehrsunternehmen verwehrt, Kraftfahrern eine Zulage zu gewähren, die sich danach bemisst, welche Einsparungen in Form eines in Relation zur zurückgelegten Strecke verringerten Treibstoffverbrauchs erzielt wurden.

56

Nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 561/2006 dürfen Verkehrsunternehmen angestellten oder ihnen zur Verfügung gestellten Fahrern keine Zahlungen in Abhängigkeit von der zurückgelegten Strecke und/oder der Menge der beförderten Güter leisten, auch nicht in Form von Prämien oder Lohnzuschlägen, falls diese Zahlungen geeignet sind, die Sicherheit im Straßenverkehr zu gefährden und/oder zu Verstößen gegen diese Verordnung ermutigen.

57

Die Anwendbarkeit dieser Bestimmung setzt somit voraus, dass zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Zum einen muss die Bezahlung der Fahrer, selbst wenn sie in Form von Prämien oder Lohnzuschlägen erfolgen sollte, in Abhängigkeit von der zurückgelegten Strecke und/oder der Menge der beförderten Güter berechnet werden. Zum anderen muss eine solche Bezahlung geeignet sein, die Sicherheit im Straßenverkehr zu gefährden und/oder zu Verstößen gegen die Verordnung Nr. 561/2006 ermutigen.

58

Außerdem lässt sich feststellen, dass aus der Richtlinie 2003/59 und insbesondere ihrem zehnten Erwägungsgrund sowie ihrem Anhang I in Verbindung mit der Richtlinie 2006/126 hervorgeht, dass das Erfordernis, wonach die Führer von Kraftfahrzeugen mit einer Masse von mehr als 3,5 t, die zur Beförderung von Gütern genutzt werden und unter die Verordnung Nr. 561/2006 fallen, zur Optimierung des Kraftstoffverbrauchs geschult werden, geeignet ist, sich sowohl auf die Gesellschaft als auch auf das Straßentransportgewerbe selbst positiv auszuwirken.

59

Da das Unionsrecht verlangt, dass die Führer dieser Fahrzeuge über die Fähigkeit verfügen, rationell und wirtschaftlich zu fahren, kann mithin nicht davon ausgegangen werden, dass Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 561/2006 es Verkehrsunternehmen grundsätzlich verböte, diesen Fahrstil durch einen finanziellen Anreiz in Form einer Zulage zu fördern.

60

Eine solche Zulage wäre jedoch dann nicht mit dieser Bestimmung vereinbar, wenn sie, anstatt nur an die Treibstoffeinsparung anzuknüpfen, eine solche Einsparung in Relation zur zurückgelegten Strecke und/oder der Menge der beförderten Güter gemäß Modalitäten honorieren würde, die den Kraftfahrer zu Verhaltensweisen verleiten, die geeignet sind, die Sicherheit im Straßenverkehr zu gefährden und/oder Verstöße gegen die Verordnung Nr. 561/2006 zu begehen.

61

Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, in Anbetracht dieser Erwägungen zur Bedeutung von Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 561/2006 die Merkmale und die Auswirkungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zulage zu ermitteln.

62

Für alle Fälle ist darauf hinzuweisen, dass die Treibstoffeinsparung von einer Vielzahl von Faktoren abhängt, so dass die bloße Annahme, dass eine Treibstoffeinsparungszulage bestimmte Fahrer dazu verleiten könnte, auf Gefällstrecken im Freilauf zu fahren, für sich allein genommen nicht den Schluss zulässt, dass eine solche Zulage gegen das in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 561/2006 aufgestellte Verbot verstößt.

63

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 561/2006 dahin auszulegen ist, dass er es einem Güterkraftverkehrsunternehmen grundsätzlich nicht verwehrt, Kraftfahrern eine Zulage zu gewähren, die sich danach bemisst, welche Einsparungen in Form eines in Relation zur zurückgelegten Strecke verringerten Treibstoffverbrauchs erzielt wurden. Eine solche Zulage verstieße jedoch gegen das in dieser Bestimmung aufgestellte Verbot, wenn sie, anstatt nur an die Treibstoffeinsparung anzuknüpfen, eine solche Einsparung in Relation zu der zurückgelegten Strecke und/oder der Menge der beförderten Güter gemäß Modalitäten honorieren würde, die den Kraftfahrer zu Verhaltensweisen verleiten, die geeignet sind, die Sicherheit im Straßenverkehr zu gefährden und/oder Verstöße gegen die Verordnung Nr. 561/2006 zu begehen.

Zur fünften Frage

64

Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Richtlinie, die nicht in nationales Recht umgesetzt wurde, zulasten eines Privaten eine Verpflichtung begründen kann, auf die sich ein anderer Privater gegen ihn vor Gericht berufen kann.

65

Wenn eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts unmöglich ist, kann zwar nach ständiger Rechtsprechung selbst eine klare, genaue und unbedingte Bestimmung einer Richtlinie, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, als solche im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, keine Anwendung finden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. August 2018, Smith, C‑122/17, EU:C:2018:631, Rn. 41 und 43 und die dort angeführte Rechtsprechung); es ist jedoch festzustellen, wie der Generalanwalt in Nr. 74 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass das vorlegende Gericht im vorliegenden Fall weder die Gründe, die es dazu veranlasst haben, die in Rede stehende Frage zu stellen, noch den Zusammenhang erläutert hat, der zwischen den maßgeblichen Bestimmungen der Richtlinie 96/71 – die im Übrigen von diesem Gericht nicht benannt worden sind – und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht besteht.

66

Gemäß Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs muss jedes Vorabentscheidungsersuchen aber u. a. „eine Darstellung der Gründe [enthalten], aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, sowie den Zusammenhang [darstellen], den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt“.

67

Damit der Gerichtshof seine Aufgabe nach den Verträgen im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens erfüllen kann, ist es außerdem nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs unerlässlich, dass die nationalen Gerichte die genauen Gründe darlegen, aus denen sie eine Beantwortung ihrer Fragen für entscheidungserheblich halten (Beschluss vom 14. April 2021, Casa di Cura Città di Parma, C‑573/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:307, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68

Infolgedessen ist die fünfte Frage unzulässig.

Kosten

69

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen ist dahin auszulegen, dass sie auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist.

 

2.

Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 der Richtlinie 96/71 in Verbindung mit deren Art. 5 sind dahin auszulegen, dass sie das Erfordernis aufstellen, dass der Verstoß eines in einem Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgebers gegen die Mindestlohnvorschriften eines anderen Mitgliedstaats von entsandten Arbeitnehmern des erstgenannten Mitgliedstaats vor einem Gericht dieses Mitgliedstaats, sofern es zuständig ist, gegen den genannten Arbeitgeber geltend gemacht werden kann.

 

3.

Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 ist dahin auszulegen, dass ein Tagegeld, das je nach Dauer der Entsendung des Arbeitnehmers unterschiedlich hoch ausfällt, eine Entsendungszulage darstellt, die Bestandteil des Mindestlohns ist, es sei denn, das Tagegeld wird als Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Kosten wie z. B. Reise-, Unterbringungs- und Verpflegungskosten gezahlt oder entspricht einer Zulage, die das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers und der von ihm erhaltenen Gegenleistung verändert.

 

4.

Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates ist dahin auszulegen, dass er es einem Güterkraftverkehrsunternehmen grundsätzlich nicht verwehrt, Kraftfahrern eine Zulage zu gewähren, die sich danach bemisst, welche Einsparungen in Form eines in Relation zur zurückgelegten Strecke verringerten Treibstoffverbrauchs erzielt wurden. Eine solche Zulage verstieße jedoch gegen das in dieser Bestimmung aufgestellte Verbot, wenn sie, anstatt nur an die Treibstoffeinsparung anzuknüpfen, eine solche Einsparung in Relation zu der zurückgelegten Strecke und/oder der Menge der beförderten Güter gemäß Modalitäten honorieren würde, die den Fahrer zu Verhaltensweisen verleiten, die geeignet sind, die Sicherheit im Straßenverkehr zu gefährden und/oder Verstöße gegen die Verordnung Nr. 561/2006 zu begehen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.