URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

22. März 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungssysteme – Richtlinie 94/19/EG – Art. 1 Nr. 1 – Einlagen – Zwischenpositionen im Rahmen von normalen Bankgeschäften – Richtlinie 97/9/EG – Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 – Gelder, die einem Anleger geschuldet werden oder gehören und für dessen Rechnung im Zusammenhang mit Wertpapiergeschäften gehalten werden – Kreditinstitut, das Wertpapiere ausgibt – Gelder, die Privatpersonen bei dem Kreditinstitut für die Zeichnung neuer Wertpapiere eingezahlt haben – Anwendung der Richtlinie 2004/39/EG – Insolvenz des Kreditinstituts vor Ausgabe der Wertpapiere – Öffentliches Unternehmen, das für die Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungssysteme zuständig ist – Möglichkeit, sich gegenüber diesem Unternehmen auf die Richtlinien 94/19/EG und 97/9/EG zu berufen“

In den verbundenen Rechtssachen C‑688/15 und C‑109/16

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof, Litauen) mit Entscheidungen vom 18. Dezember 2015 (C‑688/15) und vom 12. Februar 2016 (C‑109/16), beim Gerichtshof eingegangen am 21. Dezember 2015 bzw. 25. Februar 2016, in den Verfahren

Agnieška Anisimovienė u. a.,

Beteiligte:

AB bankas „Snoras“, in Abwicklung,

„Indėlių ir investicijų draudimas“ VĮ,

AB bankas „Finasta“ (C‑688/15),

und

„Indėlių ir investicijų draudimas“ VĮ,

Beteiligte:

Alvydas Raišelis,

AB bankas „Snoras“, in Abwicklung (C‑109/16),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça (Berichterstatter), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano, der Richter E. Levits und A. Borg Barthet sowie der Richterin M. Berger,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. März 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Frau Anisimovienė u. a., vertreten durch A. Mamontovas und A. Bambalas, advokātai,

der „Indėlių ir investicijų draudimas“ VĮ, vertreten durch V. Impolevičienė im Beistand von S. Urbonavičius und A. Šekštelo, advokātai,

der AB bankas „Snoras“, in Abwicklung, vertreten durch A. Pilipavičius und V. Drizga, advokātai,

der litauischen Regierung, vertreten durch R. Krasuckaitė und G. Taluntytė als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch K.‑P. Wojcik und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Juni 2017

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 1 Nr. 1, Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 1994 über Einlagensicherungssysteme (ABl. 1994, L 135, S. 5) in der durch die Richtlinie 2009/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2009 (ABl. 2009, L 68, S. 3) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 94/19) und von Art. 1 Nrn. 1 und 4 und Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 97/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. März 1997 über Systeme für die Entschädigung der Anleger (ABl. 1997, L 84, S. 22).

2

Sie ergehen im Rahmen von Verfahren, die Frau Agnieška Anisimovienė und weitere 256 Personen (im Folgenden: Frau Anisimovienė u. a.) sowie der „Indėlių ir investicijų draudimas“ VĮ (im Folgenden: IID) angestrengt haben. Gegenstand der Verfahren sind Schadensersatzansprüche, die Frau Anisimovienė u. a. und Herr Alvydas Raišelis wegen bei der AB bankas „Snoras“ (im Folgenden: Snoras) für die Zeichnung neuer Aktien und Schuldverschreibungen eingezahlter Gelder geltend machen. Die Aktien und Schuldverschreibungen sollten von Snoras selbst ausgegeben werden. Wegen der Insolvenz des Kreditinstituts wurden sie nicht ausgegeben.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 94/19

3

In den Erwägungsgründen 1, 2 und 4 der Richtlinie 94/19 heißt es:

„Gemäß den Zielen des Vertrages empfiehlt es sich, die harmonische Entwicklung der Tätigkeiten der Kreditinstitute in der [Union] durch die Aufhebung aller Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs zu fördern und gleichzeitig die Stabilität des Bankensystems und den Schutz der Sparer zu erhöhen.

Werden die Beschränkungen der Tätigkeiten von Kreditinstituten aufgehoben, so ist es zweckmäßig, sich zugleich mit der Situation zu befassen, die im Falle des Nichtverfügbarwerdens der Einlagen in einem Kreditinstitut mit Zweigstellen in anderen Mitgliedstaaten entstehen kann. Ein Mindestmaß an Harmonisierung der Einlagensicherung muss gewährleistet sein ohne Rücksicht darauf, wo in der Gemeinschaft die Einlagen lokalisiert sind. Für die Vollendung des einheitlichen Bankenmarktes ist die Einlagensicherung genauso wichtig wie die aufsichtsrechtlichen Vorschriften.

Die den Kreditinstituten aus der Teilnahme an einem Sicherungssystem erwachsenden Kosten stehen in keinem Verhältnis zu denjenigen, die bei einem massiven Abheben von Einlagen nicht nur bei dem sich in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmen, sondern auch bei an sich gesunden Unternehmen entstehen würden, wenn das Vertrauen der Einleger in die Stabilität des Bankensystems erschüttert wird.“

4

Art. 1 der Richtlinie enthält folgende Begriffsbestimmungen:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeuten:

1.

Einlage: ein Guthaben, das sich aus auf einem Konto verbliebenen Beträgen oder aus Zwischenpositionen im Rahmen von normalen Bankgeschäften ergibt und vom Kreditinstitut nach den geltenden gesetzlichen und vertraglichen Bedingungen zurückzuzahlen ist, sowie Forderungen, die das Kreditinstitut durch Ausstellung einer Urkunde verbrieft hat.

4.

Kreditinstitut: ein Unternehmen, dessen Tätigkeit darin besteht, Einlagen oder andere rückzahlbare Gelder des Publikums entgegenzunehmen und Kredite für eigene Rechnung zu gewähren;

…“

5

In Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie ist bestimmt:

„(1)   Für den Fall, dass Einlagen nicht verfügbar sind, gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Deckungssumme für die Gesamtheit der Einlagen desselben Einlegers mindestens 50000 [Euro] beträgt.

(1a)   Ab 31. Dezember 2010 gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Deckungssumme für die Gesamtheit der Einlagen desselben Einlegers auf 100000 [Euro] festgesetzt ist, wenn die Einlagen nicht verfügbar sind.

(2)   Die Mitgliedstaaten können jedoch vorsehen, dass bestimmte Einleger oder bestimmte Einlagen von dieser Sicherung ausgenommen oder in geringerem Umfang gesichert werden. Die Liste dieser Ausnahmen ist in Anhang I beigefügt.“

6

In Anhang I der Richtlinie sind unter Nr. 12 „Schuldverschreibungen des Kreditinstituts“ aufgeführt.

Richtlinie 97/9

7

In den Erwägungsgründen 2, 3, 4 und 8 der Richtlinie heißt es:

„(2)

Die Richtlinie 93/22/EWG [des Rates vom 10. Mai 1993 über Wertpapierdienstleistungen (ABl. 1993, L 141, S. 27)] enthält Aufsichtsvorschriften, die Wertpapierfirmen jederzeit beachten müssen; zu diesen zählen auch die Vorschriften, die dazu dienen, die Rechte der Anleger in Bezug auf ihnen gehörende Gelder oder Instrumente möglichst weitgehend zu schützen.

(3)

Kein Aufsichtssystem kann jedoch einen vollständigen Schutz bieten, vor allem in Fällen, in denen Betrügereien begangen werden.

(4)

Der Schutz der Anleger und die Erhaltung des Vertrauens in das Finanzsystem sind wichtige Aspekte der Vollendung und des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts in diesem Bereich, weshalb es wichtig ist, dass in allen Mitgliedstaaten Anlegerentschädigungssysteme vorhanden sind, die zumindest für Kleinanleger einen harmonisierten Mindestschutz für den Fall gewährleisten, dass eine Wertpapierfirma nicht in der Lage ist, ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Anleger-Kunden nachzukommen.

(8)

Alle Mitgliedstaaten sollten daher verpflichtet sein, ein Anlegerentschädigungssystem oder ‑systeme zu haben, denen alle diese Wertpapierfirmen angehören. Das System sollte Gelder oder Instrumente abdecken, die von einer Wertpapierfirma im Rahmen der Wertpapiergeschäfte eines Anlegers gehalten werden und die in dem Fall, dass eine Wertpapierfirma nicht in der Lage ist, ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Anleger-Kunden nachzukommen, nicht an den Anleger zurückgegeben werden können. …“

8

Art. 1 der Richtlinie enthält folgende Begriffsbestimmungen:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.

‚Wertpapierfirma‘ eine Wertpapierfirma gemäß Artikel 1 Nummer 2 der Richtlinie 93/22/EWG,

die nach deren Artikel 3 zugelassen ist oder

die als Kreditinstitut gemäß der [Ersten Richtlinie 77/780/EWG des Rates vom 12. Dezember 1977 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute (ABl. 1977, L 322, S. 30)] und der [Zweiten Richtlinie 89/646/EWG des Rates vom 15. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute und zur Änderung der Richtlinie 77/780/EWG (ABl. 1989, L 386, S. 1)] zugelassen wurde und deren Zulassung eine oder mehrere der Wertpapierdienstleistungen abdeckt, die in Abschnitt A des Anhangs zur Richtlinie 93/22/EWG aufgeführt sind;

2.

‚Wertpapiergeschäft‘ jede Wertpapierdienstleistung im Sinne des Artikels 1 Nummer 1 der Richtlinie 93/22/EWG und die in Abschnitt C Nummer 1 von deren Anhang genannte Dienstleistung;

4.

‚Anleger‘ eine Person, die einer Wertpapierfirma im Zusammenhang mit Wertpapiergeschäften Gelder oder Instrumente anvertraut hat;

…“

9

In Art. 2 Abs. 2 und 3 der Richtlinie ist bestimmt:

„(2)   …

Es muss eine Deckung für die Forderungen gewährt werden, die dadurch entstanden sind, dass eine Wertpapierfirma nicht in der Lage war, entsprechend den einschlägigen Rechtsvorschriften und Vertragsbedingungen

Gelder zurückzuzahlen, die Anlegern geschuldet werden oder gehören und für deren Rechnung im Zusammenhang mit Wertpapiergeschäften gehalten werden, …

(3)   Forderungen gemäß Absatz 2 an ein Kreditinstitut, welche in einem Mitgliedstaat sowohl unter diese Richtlinie als auch die Richtlinie 94/19/EG fallen, werden nach dem Ermessen dieses Staates gemäß der einen oder der anderen Richtlinie einem System zugeordnet. Keine Forderung darf aufgrund der beiden Richtlinien doppelt entschädigt werden.“

MiFID-Richtlinie

10

In den Erwägungsgründen 2, 5 und 44 der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates (ABl. 2004, L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2006/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006 (ABl. 2006, L 114, S. 60) geänderten Fassung (im Folgenden: MiFID-Richtlinie) heißt es:

„(2)

… [E]s [ist] erforderlich, eine Harmonisierung in dem Umfang vorzunehmen, der notwendig ist, um Anlegern ein hohes Schutzniveau zu bieten …

(5)

Es ist erforderlich, die Ausführung von Geschäften mit Finanzinstrumenten – unabhängig von den für den Abschluss dieser Geschäfte verwendeten Handelsmethoden – umfassend zu regeln, damit bei der Ausführung der entsprechenden Anlegeraufträge eine hohe Qualität gewährleistet ist und die Integrität und Gesamteffizienz des Finanzsystems gewahrt werden. …

(44)

In Anbetracht des zweifachen Ziels, die Anleger zu schützen und gleichzeitig ein reibungsloses Funktionieren der Wertpapiermärkte zu gewährleisten, muss für die Transparenz der Geschäfte gesorgt werden sowie dafür, dass die zu diesem Zweck festgelegten Regeln für Wertpapierfirmen gelten, wenn sie auf den Märkten tätig sind. …“

11

Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie lautet:

„(1)   Diese Richtlinie gilt für Wertpapierfirmen und geregelte Märkte.

(2)   Folgende Bestimmungen gelten auch für Kreditinstitute, die gemäß der Richtlinie 2000/12/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute (ABl. 2000, L 126, S. 1)] zugelassen sind, wenn sie eine oder mehrere Wertpapierdienstleistungen erbringen und/oder Anlagetätigkeiten ausüben:

Artikel 2 Absatz 2, die Artikel 11, 13 und 14

Titel II Kapitel II, ausgenommen Artikel 23 Absatz 2 Unterabsatz 2

Titel II Kapitel III, ausgenommen Artikel 31 Absätze 2 bis 4 und Artikel 32 Absätze 2 bis 6 und Absätze 8 und 9

die Artikel 48 bis 53, die Artikel 57, 61 und 62 und

Artikel 71 Absatz 1.“

12

Art. 4 Abs. 1 der MiFID-Richtlinie enthält folgende Begriffsbestimmungen:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.

Wertpapierfirma: jede juristische Person, die im Rahmen ihrer üblichen beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit gewerbsmäßig eine oder mehrere Wertpapierdienstleistungen für Dritte erbringt und/oder eine oder mehrere Anlagetätigkeiten ausübt.

2.

Wertpapierdienstleistungen und Anlagetätigkeiten: jede in Anhang I Abschnitt A genannte Dienstleistung und Tätigkeit, die sich auf eines der Instrumente in Anhang I Abschnitt C bezieht.

5.

Ausführung von Aufträgen im Namen von Kunden: die Tätigkeit zum Abschluss von Vereinbarungen, ein oder mehrere Finanzinstrumente im Namen von Kunden zu kaufen oder zu verkaufen.

6.

Handel für eigene Rechnung: den Handel unter Einsatz des eigenen Kapitals, der zum Abschluss von Geschäften mit einem oder mehreren Finanzinstrumenten führt.

18.

Übertragbare Wertpapiere: die Gattungen von Wertpapieren, die auf dem Kapitalmarkt gehandelt werden können, mit Ausnahme von Zahlungsinstrumenten, wie

a)

Aktien …

b)

Schuldverschreibungen …

…“

13

Art. 69 („Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG“) der Richtlinie lautet:

„Die Richtlinie 93/22/EWG wird mit Wirkung vom 1. November 2007 aufgehoben. Bezugnahmen auf die Richtlinie 93/22/EWG gelten als Bezugnahmen auf die vorliegende Richtlinie. Bezugnahmen auf Begriffsbestimmungen oder Artikel der Richtlinie 93/22/EWG gelten als Bezugnahmen auf die entsprechenden Begriffsbestimmungen oder Artikel der vorliegenden Richtlinie.“

14

Abschnitt A („Wertpapierdienstleistungen und Anlagetätigkeiten“) des Anhangs I der Richtlinie enthält folgende Aufzählung:

„1.

Annahme und Übermittlung von Aufträgen, die ein oder mehrere Finanzinstrument(e) zum Gegenstand haben

2.

Ausführung von Aufträgen im Namen von Kunden

3.

Handel für eigene Rechnung

4.

Portfolio-Verwaltung

5.

Anlageberatung

6.

Übernahme der Emission von Finanzinstrumenten und/oder Platzierung von Finanzinstrumenten mit fester Übernahmeverpflichtung

7.

Platzierung von Finanzinstrumenten ohne feste Übernahmeverpflichtung

8.

Betrieb eines multilateralen Handelssystems (MTF)“

15

In Abschnitt C des Anhangs I der Richtlinie sind unter den Finanzinstrumenten „[ü]bertragbare Wertpapiere“ (Nr. 1) genannt.

Richtlinie 2006/48

16

In Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2006/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute (ABl. 2006, L 177, S. 1) in der durch die Richtlinie 2009/110/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. 2009, L 267, S. 7) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/48) wird Kreditinstitut definiert als „ein Unternehmen, dessen Tätigkeit darin besteht, Einlagen oder andere rückzahlbare Gelder des Publikums entgegenzunehmen und Kredite für eigene Rechnung zu gewähren“.

17

Art. 23 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die in der Liste in Anhang I aufgeführten Tätigkeiten in ihrem Hoheitsgebiet gemäß Artikel 25, Artikel 26 Absätze 1 bis 3, Artikel 28 Absätze 1 und 2 sowie den Artikeln 29 bis 37 sowohl über eine Zweigstelle als auch im Wege des Dienstleistungsverkehrs von jedem Kreditinstitut ausgeübt werden können, das durch die zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats zugelassen ist und kontrolliert wird, soweit die betreffenden Tätigkeiten durch die Zulassung abgedeckt sind.“

18

Anhang I („Liste der Tätigkeiten, für die die gegenseitige Anerkennung gilt“) der Richtlinie enthält folgende Aufzählung:

„…

7.

Handel für eigene Rechnung oder im Auftrag der Kundschaft:

e)

Wertpapiergeschäfte

8.

Teilnahme an der Wertpapieremission und den diesbezüglichen Dienstleistungen

14.

Die Dienstleistungen und Tätigkeiten gemäß Anhang I Abschnitte A und B der [MiFID-Richtlinie], die sich auf Finanzinstrumente gemäß Anhang I Abschnitt C jener Richtlinie beziehen, sind Gegenstand der gegenseitigen Anerkennung im Einklang mit der vorliegenden Richtlinie.

…“

Litauisches Recht

19

Art. 2 Abs. 3, 4, 11 und 12 des Indėlių ir įsipareigojimų investuotojams draudimo įstatymas (Gesetz über die Versicherung von Einlagen und Verpflichtungen gegenüber Investoren) vom 20. Juni 2002 (Žin., 2002, Nr. 65‑2635) in der Fassung, die vom 18. November 2011 bis zum 1. Dezember 2012 galt (im Folgenden: Gesetz über die Versicherung von Einlagen und Verpflichtungen gegenüber Investoren), enthält folgende Begriffsbestimmungen:

„3.   ‚Einleger‘: eine natürliche oder juristische Person, die über eine Einlage bei einer Bank, einer Zweigstelle einer Bank oder einer Genossenschaftsbank verfügt, mit Ausnahme der Personen, deren Einlagen nach diesem Gesetz nicht Gegenstand der Versicherung sein können. Hält eine natürliche oder juristische Person (mit Ausnahme der Verwaltungsgesellschaften, die gemeinsame Anlagefonds oder Rentenfonds verwalten) die Einlage treuhänderisch, gilt der Treuhänder als Einleger. Ist hingegen eine Gruppe von Personen aufgrund eines Vertrags Inhaberin von Ansprüchen an den Geldern, wird jede dieser Personen als Einleger angesehen und die Gelder werden zu gleichen Teilen unter ihnen aufgeteilt, sofern nicht die Verträge, auf die ihre Ansprüche zurückgehen, oder eine gerichtliche Entscheidung etwas anderes vorsehen.

4.   ‚Einlage‘: der Gesamtbetrag der Gelder (einschließlich der Zinsen) eines Einlegers, die sich aufgrund eines Depotvertrags und/oder einer Kontovereinbarung bei einer Bank, einer Zweigstelle einer Bank oder einer Genossenschaftsbank befinden, sowie andere Gelder, auf die der Einleger aufgrund der Verpflichtung des Kreditinstituts, mit den Geldern des Einlegers Geschäfte durchzuführen oder Wertpapierdienstleistungen zu erbringen, einen Anspruch hat.

11.   ‚Anleger‘: eine natürliche oder juristische Person, die dem Versicherungsnehmer Gelder oder Wertpapiere zur Verfügung gestellt hat, um dessen Wertpapierdienstleistungen in Anspruch nehmen zu können. …

12.   ‚Pflichten gegenüber dem Anleger‘: Verpflichtung des Versicherungsnehmers, der Wertpapierdienstleistungen für einen Anleger erbringt, ihm die ihm zustehenden Gelder oder Wertpapiere zurückzugeben.“

20

Gegenstand der Versicherung gemäß dem Gesetz über die Versicherung von Einlagen und Verpflichtungen gegenüber Investoren sind nach dessen Art. 3 die Einlagen der Einleger in nationaler Währung und in Fremdwährungen bei einem Kreditinstitut (Abs. 1), nicht aber von einem Kreditinstitut ausgegebene Schuldverschreibungen (Abs. 4).

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rechtssache C‑688/15

21

Am 21. Dezember 2010 wurde in der Hauptversammlung der Aktionäre von Snoras eine Erhöhung des Grundkapitals beschlossen. Hierzu sollten neue Aktien ausgegeben und öffentlich angeboten werden.

22

Der entsprechende Prospekt wurde von der Wertpapieraufsichtsbehörde (Vertybinių popierių komisija) am 3. Februar 2011 gebilligt.

23

Am 1. März 2011 eröffnete Snoras bei einem anderen Kreditinstitut, der AB bankas „Finasta“ (im Folgenden: Finasta), für die von den Zeichnern der neuen Aktien zu zahlenden Ausgabebeträge ein Treuhandkonto.

24

In der Zeit vom 9. März 2011 bis zum 16. Mai 2011 schlossen Frau Anisimovienė u. a. mit Snoras Verträge über die Zeichnung der neuen Aktien. Der Ausgabebetrag der Aktien wurde dann von den Konten von Frau Anisimovienė u. a. abgebucht und auf das Konto von Snoras bei Finasta übertragen. In einigen Fällen wurden die Buchungen von Snoras vorgenommen, in anderen Fällen ging die Initiative von den Kunden aus.

25

Am 5. Mai 2011 beantragte Snoras bei der Lietuvos Bankas (Bank von Litauen), die Eintragung der durch die anstehende Kapitalerhöhung bedingten Änderungen der Satzung in das Gesellschaftsregister zu genehmigen.

26

Am 16. November 2011 ordnete die Bank von Litauen die vorübergehende Einstellung des Geschäftsbetriebs von Snoras bis zum 16. Januar 2012 an. Das Kreditinstitut wurde mit Dekret der litauischen Regierung vom 16. November 2011 im öffentlichen Interesse verstaatlicht. Mit Entscheidung vom 22. November 2011 lehnte die Bank von Litauen den Antrag von Snoras auf Genehmigung der Eintragung der Änderungen der Satzung in das Gesellschaftsregister ab. Mit Entscheidung vom 24. November 2011 hob sie die Erlaubnis von Snoras zum Betreiben von Bankgeschäften auf. Am 7. Dezember 2011 wurde die Abwicklung von Snoras mit Wirkung ab dem 20. Dezember 2011 beschlossen.

27

Zu der geplanten Ausgabe neuer Aktien kam es deshalb nicht mehr. Frau Anisimovienė u. a. erhoben daraufhin beim Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius, Litauen) Klage auf Feststellung, dass sie im Sinne des Gesetzes über die Versicherung von Einlagen und Verpflichtungen gegenüber Investoren „Einleger“ von Snoras sind.

28

Die Klage wurde mit Urteil vom 29. September 2014 abgewiesen. Das Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius) begründete seine Entscheidung u. a. damit, dass Frau Anisimovienė u. a. nicht als Einleger, sondern als Anleger anzusehen seien, und dass die Gelder, die sie für die Zeichnung der Aktien, die von Snoras ausgegeben werden sollten, gezahlt hätten, nicht als Einlagen im Sinne des Gesetzes über die Versicherung von Einlagen und Verpflichtungen gegenüber Investoren angesehen werden könnten.

29

Das erstinstanzliche Urteil wurde vom Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgerichtshof, Litauen) mit Beschluss vom 12. März 2015 bestätigt. Daraufhin legten Frau Anisimovienė u. a. beim Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof) eine Kassationsbeschwerde ein.

30

In diesem Verfahren ist aus Sicht des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof) vor allem fraglich, ob die Gelder, die Frau Anisimovienė u. a. an Snoras für die Zeichnung von Aktien gezahlt haben, die von diesem Kreditinstitut letztlich nicht ausgegeben wurden, als „Einlagen“ im Sinne von Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 angesehen werden können.

31

Der Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof) hat das Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist die Richtlinie 94/19 dahin auszulegen, dass Gelder, die mit Zustimmung der betreffenden Personen auf ein Konto, das auf den Namen eines Kreditinstituts eröffnet wurde und bei einem anderen Kreditinstitut geführt wird, gebucht oder von diesen Personen selbst überwiesen oder eingezahlt wurden, als Einlage im Sinne dieser Richtlinie angesehen werden können?

2.

Ist Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 94/19 dahin zu verstehen, dass an jede Person, deren Anspruch vor dem Zeitpunkt festgestellt werden kann, zu dem die in Art. 1 Abs. 3 Ziff. i und ii der Richtlinie genannte Feststellung getroffen bzw. Entscheidung erlassen wird, eine Zahlung bis zur Höhe des in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie genannten Betrags aus der Einlagensicherung zu erfolgen hat?

3.

Ist für die Zwecke der Richtlinie 94/19 die Definition des „normalen Bankgeschäfts“ für die Auslegung des Begriffs der Einlage als Guthaben, das sich aus Bankgeschäften ergibt, relevant? Ist diese Definition auch bei der Auslegung des Begriffs der Einlage in nationalen Rechtsvorschriften, mit denen die Richtlinie 94/19 umgesetzt wurde, heranzuziehen?

4.

Falls die Frage 3 bejaht wird: Wie ist der in Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 verwendete Begriff des normalen Bankgeschäfts zu verstehen und auszulegen?

a)

Welche Bankgeschäfte sind als normal anzusehen oder welche Kriterien bilden die Grundlage für die Feststellung, ob es sich bei einem bestimmten Bankgeschäft um ein normales handelt?

b)

Ist der Begriff des normalen Bankgeschäfts unter Berücksichtigung des Zwecks der vorgenommenen Bankgeschäfte oder der Parteien, zwischen denen solche Bankgeschäfte durchgeführt werden, zu beurteilen?

c)

Ist der in der Richtlinie 94/19 verwendete Begriff der Einlage als Guthaben, das sich aus normalen Bankgeschäften ergibt, dahin auszulegen, dass er nur Fälle erfasst, in denen alle Geschäfte, die zur Bildung eines Guthabens führen, als normal anzusehen sind?

5.

Wenn Gelder nicht unter die Definition einer Einlage nach der Richtlinie 94/19 fallen, der Mitgliedstaat sich aber dafür entschieden hat, die Richtlinien 94/19 und 97/9 auf eine Weise in nationales Recht umzusetzen, dass Gelder, auf die der Einleger aufgrund einer Verpflichtung des Kreditinstituts, Wertpapierdienstleistungen zu erbringen, Ansprüche hat, auch als Einlage anzusehen sind, kann die Einlagendeckung dann nur angewandt werden, nachdem festgestellt wurde, dass das Kreditinstitut in einem konkreten Fall als Wertpapierfirma gehandelt hat und ihm Beträge überwiesen wurden, damit es Wertpapiergeschäfte/Anlagetätigkeiten im Sinne der Richtlinie 97/9 und der MiFID-Richtlinie durchführt?

Rechtssache C‑109/16

32

Mit Entscheidungen vom 16. Juni 2011 und vom 14. Juli 2011 genehmigte die Wertpapieraufsichtsbehörde (Vertybinių popierių komisija) einen Prospekt über neue Schuldverschreibungen, die Snoras ausgeben und öffentlich anbieten wollte. Nach dem Prospekt konnte Snoras vorbehaltlich der vorherigen Veröffentlichung der für die jeweilige Ausgabe geltenden endgültigen Bedingungen mehrmals mittelfristige Schuldverschreibungen ausgeben.

33

In dem Prospekt war erstens angegeben, dass die neuen Schuldverschreibungen von Snoras selbst ausgegeben würden und interessierte Privatpersonen sie bei den Zweigstellen, Agenturen und sonstigen Dienstleistern von Snoras erwerben könnten, zweitens, dass der Ausgabepreis für die Schuldverschreibungen am Tag des Abschlusses des Zeichnungsvertrags zu entrichten sei, wofür der Erwerber über den entsprechenden Betrag auf einem bei Snoras eröffneten Konto verfügen und die Bank ermächtigen müsse, den Betrag von dem Konto abzuheben, drittens, dass das in den endgültigen Ausgabebedingungen angegebene Datum als Datum der Ausgabe der Schuldverschreibungen gelte, und viertens, dass die Schuldverschreibungen in einem bei Snoras auf den Namen des Erwerbers geführten Wertpapierdepot verbucht werden müssten.

34

Am 2. November 2011 veröffentlichte Snoras die endgültigen Bedingungen der elften Ausgabe mittelfristiger Schuldverschreibungen.

35

Am 10. November 2011 schloss Herr Raišelis mit Snoras einen Vertrag über Investmentdienstleistungen und einen Vertrag über die Zeichnung von 40 Schuldverschreibungen der elften Ausgabe. Am selben Tag zahlte er auf sein persönliches Bankkonto bei Snoras den Ausgabebetrag der Schuldverschreibungen ein. Am folgenden Tag schloss er mit Snoras einen weiteren Vertrag über die Zeichnung von Schuldverschreibungen, der sich vom ersten lediglich hinsichtlich des für die Zeichnung und Zahlung der Schuldverschreibungen vorgesehenen Datums unterschied, das auf den 11. November 2011 verlegt wurde. Am 11. November 2011 buchte Snoras vom Konto von Herrn Raišelis den Ausgabebetrag ab und schrieb ihn einem bei ihr auf ihren Namen eröffneten Konto für die Zahlung der Schuldverschreibungen gut.

36

Snoras wurde jedoch insolvent, noch bevor sie die Schuldverschreibungen ausgeben konnte.

37

Herr Raišelis erhob daraufhin beim Vilniaus miesto 2-asis apylinkės teismas (zweites Bezirksgericht von Vilnius, Litauen) gegen IID, das öffentliche Unternehmen, das in Litauen für Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungssysteme zuständig ist, Klage. Er machte geltend, er habe Anspruch auf die in dem Gesetz über die Versicherung von Einlagen und Verpflichtungen gegenüber Investoren vorgesehene Entschädigung.

38

Der Vilniaus miesto 2-asis apylinkės teismas (zweites Bezirksgericht von Vilnius) wies die Klage von Herrn Raišelis am 7. September 2012 ab. Zur Begründung führte er aus, Herr Raišelis hätte nur dann Anspruch auf die Entschädigung gehabt, wenn Snoras die Gelder ohne seine Zustimmung verwendet hätte, was nicht der Fall gewesen sei. Abgesehen davon bestehe bei Schuldverschreibungen wie denen, die Snoras habe ausgeben wollen, ohnehin kein Anspruch auf die Entschädigung.

39

Im Berufungsverfahren hob der Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius) die erstinstanzliche Entscheidung mit Urteil vom 17. Oktober 2013 auf und sprach Herrn Raišelis die beantragte Entschädigung zu. Herr Raišelis sei als Einleger im Sinne des Gesetzes über die Versicherung von Einlagen und Verpflichtungen gegenüber Investoren anzusehen und sein Guthaben auf dem auf den Namen von Snoras lautenden Konto als „Einlage“, für die die in diesem Gesetz vorgesehene Garantie gelte. IID legte beim Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof) Kassationsbeschwerde ein.

40

Nach Auffassung des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof) hängt der Ausgang des Rechtsstreits zunächst davon ab, ob die Gelder, die Herr Raišelis für die Zeichnung der betreffenden Schuldverschreibungen an Snoras gezahlt hat, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 94/19 bzw. der Richtlinie 97/9 fallen.

41

Für den Fall, dass der Gerichtshof dies bejahen sollte, ist aus Sicht des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof) fraglich, ob Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 97/9 richtig ins Litauische übersetzt ist und mit dem Gesetz über die Versicherung von Einlagen und Verpflichtungen gegenüber Investoren richtig umgesetzt worden ist.

42

Weiter ist in diesem Fall aus Sicht des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof) fraglich, ob die Gelder, die Herr Raišelis gezahlt hat, als „Einlage“ im Sinne von Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie eingestuft werden können.

43

Der Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof) hat das Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Wenn ein Kreditinstitut als Wertpapierfirma tätig ist, der Geldmittel zum Erwerb von Schuldverschreibungen, die ebendieses Kreditinstitut ausgeben sollte, überlassen worden sind, diese Schuldverschreibungen aber tatsächlich nicht ausgegeben und dem Geldgeber nicht übereignet werden, wobei das Geld schon vom Bankkonto des Geldgebers abgebucht und auf ein im Namen des Kreditinstituts eröffnetes Konto weitergeleitet wurde und nicht zurückgezahlt werden kann, und die Intention des nationalen Rechts in einem solchen Fall im Hinblick auf die Anwendung eines spezifischen Schutzsystems nicht eindeutig ist, sind dann Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 und Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 97/9 unmittelbar anwendbar, um das anwendbare Schutzsystem zu bestimmen, und ist die beabsichtigte Verwendung des Geldes insoweit das entscheidende Kriterium? Sind die Bestimmungen dieser Richtlinien hinreichend klar, genau und unbedingt und schaffen sie subjektive Rechte, so dass Einzelpersonen vor nationalen Gerichten ihre Entschädigungsklagen gegen die Versicherungsschutz gewährende staatliche Einrichtung auf sie stützen können?

2.

Ist Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 97/9, in dem festgelegt wird, welche Arten von Ansprüchen vom System für die Entschädigung der Anleger erfasst sind, dahin gehend zu verstehen und auszulegen, dass auch Ansprüche auf Erstattung von Beträgen, die eine Wertpapierfirma Anlegern schuldet und die nicht für Rechnung der Anleger gehalten werden, erfasst sind?

3.

Falls Frage 2 bejaht wird, ist Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 97/9, in dem festgelegt wird, welche Arten von Ansprüchen vom System für die Entschädigung der Anleger erfasst sind, hinreichend klar, genau und unbedingt und schafft er subjektive Rechte, so dass sich Einzelpersonen vor nationalen Gerichten ihre Entschädigungsklagen gegen die Versicherungsschutz gewährende staatliche Einrichtung auf ihn stützen können?

4.

Ist Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 dahin zu verstehen und auszulegen, dass die Definition der „Einlage“ im Sinne dieser Richtlinie auch solche Beträge einschließt, die von einem persönlichen Konto mit Einverständnis des Inhabers dieses Kontos auf ein Konto übertragen werden, das im Namen des Kreditinstituts bei ebendiesem Kreditinstitut geführt wird und zur Bezahlung der zukünftigen Ausgabe von Schuldverschreibungen durch dieses Institut dienen soll?

5.

Sind Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 94/19 zusammengenommen dahin auszulegen, dass eine Leistung der Einlagenversicherung bis zum in Art. 7 Abs. 1 festgelegten Betrag an jede Person erfolgen muss, die vor dem Zeitpunkt, zu dem die Feststellung oder Entscheidung im Sinne von Art. 1 Nr. 3 Ziff. i und ii der Richtlinie 94/19 getroffen wurde, nachweislich einen Anspruch hatte?

Verfahren vor dem Gerichtshof

44

Der Präsident des Gerichtshofs hat die Anträge des vorlegenden Gerichts, die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 105 seiner Verfahrensordnung dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, mit Beschlüssen vom 15. Februar 2016, Anisimovienė u. a. (C‑688/15, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:92), und vom 13. April 2016, Indėlių ir investicijų draudimas (C‑109/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:267), zurückgewiesen.

45

Er hat mit Beschlüssen vom 20. Januar 2016 und vom 29. Februar 2016 entschieden, dass die Rechtssachen C‑688/15 und C‑109/16 gemäß Art. 53 Abs. 3 seiner Verfahrensordnung mit Vorrang entschieden werden.

46

Ferner hat er am 29. Februar 2016 entschieden, die beiden Rechtssachen wegen ihres Zusammenhangs zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Endurteil zu verbinden.

Zu den Vorlagefragen

Zu den Fragen 1, 2, 3 und 4 der Rechtssache C‑688/15 und den Fragen 2, 4 und 5 der Rechtssache C‑109/16

47

Als Erstes sind zusammen die Fragen 1, 2, 3 und 4 der Rechtssache C‑688/15 und die Fragen 2, 4 und 5 der Rechtssache C‑109/16 zu prüfen. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Richtlinien 97/9 und 94/19 dahin auszulegen sind, dass Ansprüche in Bezug auf Gelder, die für die Zeichnung von Wertpapieren, die von einem Kreditinstitut ausgegeben werden sollten, von Konten von Privatpersonen bei dem Kreditinstitut abgebucht und auf Konten des Kreditinstituts übertragen worden sind, unter die Anlegerentschädigungssysteme gemäß der Richtlinie 97/9 und/oder die Einlagensicherungssysteme gemäß der Richtlinie 94/19 fallen, wenn die Wertpapiere wegen Insolvenz des Kreditinstituts nicht ausgegeben wurden.

48

Zur Beantwortung der Fragen ist zunächst die Richtlinie 97/9, dann die Richtlinie 94/19 auszulegen.

Zur Richtlinie 97/9 – Anlegerentschädigungssysteme

49

Wie sich aus den Erwägungsgründen 4 und 8 der Richtlinie 97/9 ergibt, sollen die in dieser Richtlinie vorgesehenen Anlegerentschädigungssysteme die Gelder und die Instrumente abdecken, die von einer Wertpapierfirma im Rahmen der Wertpapiergeschäfte ihrer Kunden gehalten werden und die in dem Fall, dass die Wertpapierfirma nicht in der Lage ist, ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Kunden nachzukommen, nicht an diese zurückgegeben werden können. Es geht dabei sowohl um den Schutz der Anleger als auch um die Erhaltung des Vertrauens der Öffentlichkeit in das Finanzsystem.

50

Durch die Anlegerentschädigungssysteme muss eine Deckung für die Forderungen gewährt werden, die dadurch entstanden sind, dass eine Wertpapierfirma nicht in der Lage war, entsprechend den einschlägigen Rechtsvorschriften und Vertragsbedingungen Gelder zurückzuzahlen, die Anlegern geschuldet werden oder gehören und für deren Rechnung im Zusammenhang mit Wertpapiergeschäften gehalten werden (Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 97/9).

51

Um festzustellen, ob es sich bei Forderungen wie denen, um die es im Ausgangsverfahren geht, um solche Forderungen handelt, ist zu bestimmen, was mit den Ausdrücken „Wertpapierfirma“ und „Wertpapiergeschäfte“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 97/9 gemeint ist, und ob die Deckung voraussetzt, dass die betreffenden Gelder einem Konto gutgeschrieben sind, das auf den Namen des Anlegers lautet, der die Deckung beansprucht.

– Zu den Ausdrücken „Wertpapierfirma“ und „Wertpapiergeschäfte“ im Sinne der Richtlinie 97/9

52

Gegenstand der Forderungen, für die durch die Anlegerentschädigungssysteme Deckung gewährt werden muss, sind Gelder, die einem „Anleger“ geschuldet werden oder gehören und für dessen Rechnung im Zusammenhang mit einem oder mehreren „Wertpapiergeschäften“ gehalten werden (Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 97/9).

53

Nach Art. 1 der Richtlinie 97/9 bezeichnet der Ausdruck „Anleger“ für die Zwecke der Richtlinie eine Person, die einer „Wertpapierfirma“ im Zusammenhang mit „Wertpapiergeschäften“ Gelder oder Instrumente anvertraut hat (Nr. 4). Hinsichtlich des Ausdrucks „Wertpapiergeschäfte“ wird auf die Begriffsbestimmung in der Richtlinie 93/22 verwiesen (Nr. 1), hinsichtlich des Ausdrucks „Wertpapierfirma“ auf die Wertpapierdienstleistungen, wie sie in der Richtlinie 93/22 definiert und in deren Anhang genannt sind (Nr. 2).

54

Die Richtlinie 93/22, mit der die Regeln eingeführt wurden, die in der Union auf Wertpapierfirmen anwendbar sind, ist jedoch mit Wirkung ab dem 1. November 2007 durch die MiFID-Richtlinie ersetzt worden. Nach deren Art. 69 gelten Bezugnahmen auf Begriffsbestimmungen der Richtlinie 93/22 als Bezugnahmen auf die entsprechenden Begriffsbestimmungen der MiFID-Richtlinie. Im vorliegenden Fall ist für die Auslegung der Richtlinie 97/9 also die Bestimmung der Begriffe „Wertpapierfirma“ und „Wertpapierdienstleistungen und Anlagetätigkeiten“ in Art. 4 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 der MiFID-Richtlinie maßgeblich.

55

Nach Art. 4 Abs. 1 Nr. 1 der MiFID-Richtlinie ist eine Wertpapierfirma eine juristische Person, die im Rahmen ihrer üblichen beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit „gewerbsmäßig eine oder mehrere Wertpapierdienstleistungen für Dritte erbringt und/oder eine oder mehrere Anlagetätigkeiten ausübt“. Entsprechend bestimmt Art. 1 Abs. 2 der MiFID-Richtlinie, dass bestimmte Bestimmungen der Richtlinie auch für zugelassene Kreditinstitute gelten, „wenn sie eine oder mehrere Wertpapierdienstleistungen erbringen und/oder Anlagetätigkeiten ausüben“.

56

Bei der Prüfung der Frage, ob Forderungen wie die, die Frau Anisimovienė u. a. und Herrn Raišelis gegen Snoras haben, in den Anwendungsbereich der Anlegerentschädigungssysteme gemäß der Richtlinie 97/9 fallen, ist also darauf abzustellen, ob die Gelder, die Gegenstand der Forderungen sind, dem Kreditinstitut im Zusammenhang mit von ihm erbrachten Wertpapierdienstleistungen oder von ihm ausgeübten Anlagetätigkeiten im Sinne der MiFID-Richtlinie zur Verfügung gestellt worden sind.

57

Nach Art. 4 Abs. 1 Nr. 2 der MiFID-Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „Wertpapierdienstleistungen und Anlagetätigkeiten“ jede in Anhang I Abschnitt A der Richtlinie genannte Dienstleistung und Tätigkeit, die sich auf eines der Instrumente in Anhang I Abschnitt C der Richtlinie bezieht.

58

Es besteht kein Zweifel daran, dass Aktien und Schuldverschreibungen wie die, die Snoras ausgeben wollte, zu den Finanzinstrumenten im Sinne von Anhang I Abschnitt C der MiFID-Richtlinie zählen. Dort sind in Nr. 1 „übertragbare Wertpapiere“ genannt. Das sind nach Art. 4 Abs. 1 Nr. 18 der MiFID-Richtlinie Wertpapiere, die auf dem Kapitalmarkt gehandelt werden können, u. a. Aktien und Schuldverschreibungen.

59

Zu der Voraussetzung, dass die Dienstleistung oder Tätigkeit in Anhang I Abschnitt A der MiFID-Richtlinie genannt sein muss, macht die litauische Regierung geltend, dass ein Kreditinstitut, wenn es von ihm selbst ausgegebene Finanzinstrumente öffentlich anbiete, u. a. seinen Kunden, keine der in Anhang I Abschnitt A der MiFID-Richtlinie genannten Dienstleistungen und Tätigkeiten erbringe bzw. ausübe. Indem es von ihm selbst ausgegebene Finanzinstrumente öffentlich anbiete, handele das Kreditinstitut nicht als Finanzmittler, sondern wie jede andere Gesellschaft, die Wertpapiere ausgebe.

60

Die litauische Regierung weist zu Recht darauf hin, dass das öffentliche Anbieten selbst ausgegebener Finanzinstrumente durch ein Kreditinstitut an sich keine Wertpapierdienstleistung oder Anlagetätigkeit im Sinne der Richtlinie darstellt. Es wird in Anhang I Abschnitt A der MiFID-Richtlinie nicht genannt.

61

Schließt das Kreditinstitut mit seinen Kunden Verträge über die Zeichnung selbst ausgegebener Finanzinstrumente, übt es aber zwangsläufig Anlagetätigkeiten im Sinne der MiFID-Richtlinie aus. Wie Herr Raišelis und die Europäische Kommission geltend machen, ist der Abschluss solcher Verträge u. a. ein Fall der „Ausführung von Aufträgen im Namen von Kunden“ im Sinne von Anhang I Abschnitt A Nr. 2 der MiFID-Richtlinie.

62

Der Ausdruck „Ausführung von Aufträgen im Namen von Kunden“ in Anhang I Abschnitt A Nr. 2 der MiFID-Richtlinie hat dieselbe Bedeutung wie der Ausdruck „Ausführung von Aufträgen im Namen von Kunden“, der in Art. 4 Abs. 1 Nr. 5 der Richtlinie definiert ist. Beide Ausdrücke beziehen sich in der MiFID-Richtlinie offensichtlich auf ein und dieselbe Dienstleistung. Im Übrigen wird in den meisten Sprachfassungen der Richtlinie an beiden Stellen derselbe Ausdruck verwendet.

63

Nach der Definition in Art. 4 Abs. 1 Nr. 5 der MiFID-Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „Ausführung von Aufträgen im Namen von Kunden“ die Tätigkeit zum Abschluss von Vereinbarungen, ein oder mehrere Finanzinstrumente im Namen von Kunden zu kaufen oder zu verkaufen.

64

Ein Vertrag über die Zeichnung von Finanzinstrumenten stellt zweifellos eine solche Vereinbarung dar. Zum Tatbestandsmerkmal „im Namen von Kunden“ ist festzustellen, dass dieser Ausdruck abstrakt dahin verstanden werden könnte, dass das Tatbestandsmerkmal nicht erfüllt ist, wenn das Kreditinstitut beim Abschluss der Vereinbarung nicht lediglich als Vermittler fungiert, sondern als Ausgeber der Finanzinstrumente, die der Kunde erwerben möchte, gleichzeitig auch Partei der Vereinbarung ist.

65

Der Ausdruck „im Namen von Kunden“ ist jedoch in seinem Kontext zu betrachten. Die Ausführung von Aufträgen „im Namen“ von Kunden ist als Gegensatz zum Handel „für eigene Rechnung“ im Sinne von Anhang I Abschnitt A Nr. 3 der MiFID-Richtlinie zu sehen. Darunter ist nach Art. 4 Abs. 1 Nr. 6 der Richtlinie der Handel unter Einsatz des eigenen Kapitals, der zum Abschluss von Geschäften mit einem oder mehreren Finanzinstrumenten führt, zu verstehen.

66

Die MiFID-Richtlinie unterscheidet bei Verträgen über den Kauf oder Verkauf von Finanzinstrumenten mithin danach, ob die Kreditinstitute und Wertpapierfirmen sie im eigenen Interesse unter Einsatz des eigenen Kapitals oder im Interesse der Kunden unter Einsatz von deren Kapital schließen. Demnach ist ein solcher Vertrag vom Kreditinstitut im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Nr. 5 und Anhang I Abschnitt A Nr. 2 der MiFID-Richtlinie „im Namen“ des Kunden geschlossen worden, wenn dieser Nutznießer ist und sein Kapital eingesetzt wird, und zwar auch dann, wenn das Kreditinstitut als Ausgeber der betreffenden Finanzinstrumente selbst Partei des Vertrags ist.

67

Diese Auslegung wird bestätigt durch die Ziele der MiFID-Richtlinie, nämlich den Anlegern ein hohes Schutzniveau zu bieten, die Integrität und Gesamteffizienz des Finanzsystems zu wahren und für die Transparenz der Finanzgeschäfte zu sorgen (vgl. Erwägungsgründe 2, 5 und 44 der Richtlinie).

68

Es kommt deshalb nicht darauf an, ob die Finanzinstrumente, die ein Kreditinstitut öffentlich anbietet, von Dritten oder von dem Kreditinstitut selbst ausgegeben werden.

69

Somit ist festzustellen, dass Verträge, die ein Kreditinstitut mit seinen Kunden über die Zeichnung selbst ausgegebener neuer Wertpapiere schließt, eine Wertpapierdienstleistung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Nr. 2 der MiFID-Richtlinie darstellen. Forderungen, die sich auf Gelder beziehen, die die Kunden im Zusammenhang mit solchen Verträgen an das Kreditinstitut gezahlt haben, können daher gemäß Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 97/9 unter die Deckung der Anlegerentschädigungssysteme fallen.

70

Dem halten die litauische Regierung und IID entgegen, die Forderungen, die Frau Anisimovienė u. a. und Herr Raišelis geltend machten, seien nach der Richtlinie 97/9 nicht entschädigungsfähig. Sie hingen mit der Verwirklichung eines Investmentrisikos zusammen, nämlich der Insolvenz des Ausgebers der Finanzinstrumente, die diese Personen erwerben wollten, gegen das die Richtlinie keinen Schutz biete. Dieses Vorbringen ist nicht stichhaltig.

71

Zwar bezweckt die Richtlinie 97/9 nicht den Schutz der Anleger gegen Risiken, die jede Wertpapieranlage mit sich bringt, wie der Generalanwalt in Nr. 134 seiner Schlussanträge ausgeführt hat. Insbesondere bezweckt sie nicht, die Anleger gegen die Insolvenz der Gesellschaften zu schützen, die ihre Finanzinstrumente ausgegeben haben. Das Risiko der Insolvenz des Ausgebers kann durch die Richtlinie nicht bereits deshalb gedeckt werden, weil bei einem bestimmten Wertpapiergeschäft der Ausgeber zufällig ein Kreditinstitut oder eine Wertpapierfirma ist.

72

Im vorliegenden Fall sind Frau Anisimovienė u. a. und Herr Raišelis aber nie Inhaber der Finanzinstrumente geworden, für die sie die betreffenden Gelder an Snoras gezahlt haben. Die Finanzinstrumente wurden nämlich vor der Insolvenz des Kreditinstituts nicht mehr ausgegeben.

73

Unter solchen Umständen geht es nicht um den Verlust des Wertes der vom Anleger gehaltenen Finanzinstrumente oder darum, dass der Ausgeber der Finanzinstrumente nicht in der Lage wäre, den Anlegern deren Wert zu erstatten. Vielmehr geht es darum, dass das als Wertpapierfirma agierende Kreditinstitut nicht in der Lage ist, seinen Kunden, die Wertpapiere, die sie erwerben wollten, zu liefern und somit seinen Verpflichtungen gegenüber den Kunden nachzukommen. Bei einer solchen Fallgestaltung verwirklicht sich aber ein von der Richtlinie 97/9 gedecktes Risiko.

74

Außerdem entspricht das Ergebnis, zu dem der Gerichtshof gelangt ist, den Zielen der Richtlinie 97/9, insbesondere dem, die Anleger gegen das Risiko des Betrugs, der Verletzung von Berufspflichten oder eines Bearbeitungsfehlers zu schützen, dessentwegen die Wertpapierfirma nicht in der Lage wäre, ihren Kunden ihre Gelder und Wertpapiere zurückzuzahlen bzw. zurückzugeben. Wie die Kommission geltend macht, ist es in Anbetracht dieser Ziele nämlich wichtig, dass die Gelder, die eine Wertpapierfirma oder ein Kreditinstitut von einem Anleger, der Finanzinstrumente erwerben möchte, vor der Ausgabe der Finanzinstrumente hält, geschützt werden, und zwar unabhängig davon, ob die Finanzinstrumente von einem Dritten oder von dem Kreditinstitut ausgegeben werden.

– Zum nicht bestehenden Erfordernis der Gutschrift der betreffenden Gelder auf einem auf den Namen des Anlegers lautenden Konto

75

In der französischen Sprachfassung der Richtlinie 97/9 bestimmt Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 erster Gedankenstrich, dass durch die Anlegerentschädigungssysteme eine Deckung für die Forderungen gewährt werden muss, die dadurch entstanden sind, dass eine Wertpapierfirma nicht in der Lage war, Anlegern „Gelder, die ihnen geschuldet werden oder gehören und für deren Rechnung im Zusammenhang mit Wertpapiergeschäften gehalten werden“ („fonds leur étant dus ou leur appartenant et détenus pour leur compte en relation avec des opérations d’investissement“), entsprechend den einschlägigen Rechtsvorschriften und Vertragsbedingungen zurückzuzahlen (siehe oben, Rn. 50).

76

Die litauische Sprachfassung der Bestimmung ist hingegen wesentlich enger gefasst. Deckung wird danach für Forderungen gewährt, die dadurch entstanden sind, dass eine Wertpapierfirma nicht in der Lage war, Anlegern „Gelder, die ihnen gehören und in ihrem Namen im Zusammenhang mit Wertpapiergeschäften gehalten werden“, entsprechend den einschlägigen Rechtsvorschriften und Vertragsbedingungen zurückzuzahlen („[k]ompensacija turi būti mokama pagal tuos reikalavimus, kurie kilo dėl investicinės įmonės nepajėgumo grąžinti pinigus, priklausančius investuotojams ir laikomus jų vardu ryšium su investicine veikla“).

77

Der Wortlaut der litauischen Sprachfassung könnte dahin verstanden werden, dass durch die Anlegerentschädigungssysteme gemäß der Richtlinie 97/9 Deckung lediglich für Forderungen gewährt werden müsste, die sich auf Gelder beziehen, die von einer Wertpapierfirma oder einem als Wertpapierfirma agierenden Kreditinstitut auf auf den Namen der Anleger lautenden Konten gehalten werden.

78

Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Rechtstexts der Union voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach ständiger Rechtsprechung anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung, zu der sie gehört, ausgelegt werden (vgl. u. a. Urteile vom 30. Mai 2013, Genil 48 und Comercial Hostelera de Grandes Vinos, C‑604/11, EU:C:2013:344, Rn. 38, und vom 17. Mai 2017, ERGO Poist’ovňa, C‑48/16, EU:C:2017:377, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

79

Ziel der Richtlinie 97/9 ist u. a., Anleger dagegen zu schützen, dass eine Wertpapierfirma nicht in der Lage ist, ihren Verpflichtungen gegenüber ihnen nachzukommen. Entsprechend ist der Begriff „Anleger“ in Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie weit gefasst. Es handelt sich danach um eine Person, die einer Wertpapierfirma im Zusammenhang mit Wertpapiergeschäften Gelder oder Instrumente anvertraut hat. Ebenso ist im achten Erwägungsgrund der Richtlinie allgemein die Rede von „Gelder[n] oder Instrumente[n] …, die von einer Wertpapierfirma im Rahmen der Wertpapiergeschäfte eines Anlegers gehalten werden“.

80

Deshalb kann die Deckung durch die in der Richtlinie 97/9 vorgesehenen Anlegerentschädigungssysteme nicht auf Forderungen beschränkt werden, die sich auf Gelder beziehen, die von Wertpapierfirmen oder als Wertpapierfirma agierenden Kreditinstituten auf auf den Namen der Anleger lautenden Konten gehalten werden.

81

Für Forderungen wie die von Frau Anisimovienė u. a. und Herrn Raišelis ist, sofern die übrigen Voraussetzungen von Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 97/9 erfüllt sind, also nicht bereits deshalb keine Deckung durch die Anlegerentschädigungssysteme zu gewähren, weil sie sich auf Gelder beziehen, die nicht auf auf den Namen dieser Personen lautenden Konten gehalten werden, sondern auf Konten, deren Inhaber das Kreditinstitut ist.

82

Somit ist festzustellen, dass Forderungen wie die, um die es in den Ausgangsverfahren geht, unter die Anlegerentschädigungssysteme gemäß der Richtlinie 97/9 fallen.

Zur Richtlinie 94/19 – Einlagensicherungssysteme

83

Mit den in der Richtlinie 94/19 vorgesehenen Einlagensicherungssystemen sollen Privatpersonen gegen das Nichtverfügbarwerden der Einlagen in einem Kreditinstitut geschützt werden (vgl. zweiter Erwägungsgrund der Richtlinie). Dabei geht es sowohl darum, die Einleger zu schützen, als auch darum, die Stabilität des Bankensystems zu gewährleisten, indem das massive Abheben von Einlagen nicht nur bei dem sich in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmen, sondern auch bei an sich gesunden Unternehmen, wenn das Vertrauen der Einleger in die Stabilität des Bankensystems erschüttert wird, verhindert wird (vgl. Erwägungsgründe 1 und 4 der Richtlinie).

84

Im Sinne der Richtlinie 94/19 bedeutet „Einlage“ ein Guthaben, das sich aus auf einem Konto verbliebenen Beträgen oder aus Zwischenpositionen im Rahmen von normalen Bankgeschäften ergibt und vom Kreditinstitut nach den geltenden gesetzlichen und vertraglichen Bedingungen zurückzuzahlen ist, sowie Forderungen, die das Kreditinstitut durch Ausstellung einer Urkunde verbrieft hat (Art. 1 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie).

85

Im vorliegenden Fall waren die Gelder, auf die Frau Anisimovienė u. a. und Herr Raišelis Anspruch erheben, zum Zeitpunkt des Nichtverfügbarwerdens der Einlagen bei Snoras nicht mehr auf den auf ihren Namen lautenden Konten bei Snoras gutgeschrieben. Und die von ihnen gezeichneten neuen Wertpapiere, die Snoras ausgeben sollte, wurden vor der Insolvenz von Snoras nicht mehr ausgegeben. Während die Schuldverschreibungen, um die es in der Rechtssache C‑109/16 geht, „Forderungen“ im Sinne von Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 darstellen, handelt es sich bei den Aktien, um die es in der Rechtssache C‑688/15 geht, um Beteiligungen, für die die Richtlinie 94/19 keinerlei Absicherung vorsieht (vgl. Urteil vom 21. Dezember 2016, Vervloet u. a., C‑76/15, EU:C:2016:975, Rn. 66 und 67).

86

Daher bleibt nur zu prüfen, ob Forderungen wie die von Frau Anisimovienė u. a. und Herr Raišelis gegen Snoras im Sinne von Art. 1 Nr. 1 zweite Alternative der Richtlinie 94/19 als „Guthaben, das sich … aus Zwischenpositionen im Rahmen von normalen Bankgeschäften ergibt und vom Kreditinstitut nach den geltenden gesetzlichen und vertraglichen Bedingungen zurückzuzahlen ist“, angesehen werden können.

87

Unter Berücksichtigung der mit der Richtlinie 94/19 verfolgten Ziele (siehe oben, Rn. 83) fallen nach dem Wortlaut ihres Art. 1 Nr. 1 unter die zweite Alternative Forderungen gegen ein Kreditinstitut, die sich auf Gelder von Einlegern beziehen, die mit einem oder mehreren „normalen Bankgeschäften“ zu tun haben und deshalb eine Zwischenposition darstellen.

88

Was als Erstes die Frage angeht, ob sich Forderungen wie die von Frau Anisimovienė u. a. und Herrn Raišelis gegen Snoras auf Gelder beziehen, die mit „normalen Bankgeschäften“ zu tun haben, ist festzustellen, dass die Richtlinie 94/19 nicht definiert, was unter solchen Geschäften zu verstehen ist, und insoweit auch nicht auf das jeweilige nationale Recht verweist.

89

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen (Urteil vom 20. Dezember 2017, Erzeugerorganisation Tiefkühlgemüse, C‑516/16, EU:C:2017:1011, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

90

Allgemeinsprachlich sind mit „normalen Bankgeschäften“ Geschäfte gemeint, die von Kreditinstituten im Rahmen des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs getätigt werden.

91

Nach den gleichlautenden Definitionen in Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 94/19 und Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/48 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute besteht deren charakteristische Tätigkeit darin, Einlagen oder andere rückzahlbare Gelder des Publikums entgegenzunehmen und Kredite für eigene Rechnung zu gewähren.

92

Im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit führen Kreditinstitute aber eine ganze Reihe weiterer Geschäfte durch, die in Anhang I der Richtlinie 2006/48 aufgelistet sind. Da die Richtlinie 94/19 und die Richtlinie 2006/48 beide auf Kreditinstitute Anwendung finden und gleiche Ziele verfolgen, u. a. den Schutz der Sparer und Einleger, ist die Aufzählung der Tätigkeiten in Anhang I der Richtlinie 2006/48 für die Auslegung des Begriffs „normale Bankgeschäfte“ im Sinne von Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 maßgeblich.

93

In Anhang I der Richtlinie 2006/48 sind u. a. der Handel für eigene Rechnung oder im Auftrag der Kundschaft, insbesondere Wertpapiergeschäfte (Nr. 7) und die Teilnahme an der Wertpapieremission und den diesbezüglichen Dienstleistungen (Nr. 8) genannt, ferner konsequenterweise (siehe oben, Rn. 55) auch die „Wertpapierdienstleistungen und Anlagetätigkeiten“, wie sie in der MiFID-Richtlinie definiert sind.

94

Die Zeichnung neuer Wertpapiere für Rechnung von Kunden gehört also zu den Geschäften, die Kreditinstitute im Rahmen ihres gewöhnlichen Geschäftsbetriebs tätigen. In Anbetracht der mit der Richtlinie 94/19 verfolgten Ziele (siehe oben, Rn. 83) ist ein solches Geschäft somit als „normales Bankgeschäft“ im Sinne von Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 einzustufen, sofern es vom Kreditinstitut wie hier mit den Geldern der Einleger durchgeführt wird. Dass das Kreditinstitut die betreffenden Wertpapiere selbst ausgibt, steht dem nicht entgegen (siehe entsprechend oben, Rn. 61 bis 66).

95

Was als Zweites die Frage angeht, ob im Zusammenhang mit den Geschäften der Zeichnung neuer Wertpapiere, um die es in den Ausgangsverfahren geht, „Zwischenpositionen“ im Sinne von Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 entstanden sind, ist festzustellen, dass es sich bei Geldern von Einlegern, die das Kreditinstitut im Rahmen solcher Geschäfte vor der Ausgabe der Wertpapiere vom Bankkonto der Einleger abbucht und auf auf seinen Namen lautende Treuhandkonten überträgt, wo die Gelder verbleiben, bis die Wertpapiere ausgegeben und mit ihnen bezahlt werden, tatsächlich um „Zwischenpositionen“ handelt.

96

Somit ist festzustellen, dass Forderungen wie die, um die es in den Ausgangsverfahren geht, unter die durch die Richtlinie 94/19 vorgesehenen Einlagensicherungssysteme fallen. Sie beziehen sich auf ein „Guthaben, das sich … aus Zwischenpositionen im Rahmen von normalen Bankgeschäften ergibt“ (Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie).

97

Dem steht nicht entgegen, dass in der Rechtssache C‑688/15 das Konto, auf dem die Gelder gutgeschrieben sind, die Frau Anisimovienė u. a. beanspruchen, nicht bei Snoras, sondern bei einem anderen Kreditinstitut geführt wird. Bei einem „Guthaben, das sich … aus Zwischenpositionen im Rahmen von normalen Bankgeschäften ergibt“ (Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19), kommt es nicht darauf an, wo das Konto geführt wird, auf das die Gelder vom Kreditinstitut im Rahmen der normalen Bankgeschäfte übertragen worden sind.

98

Unbedenklich ist ferner, dass in der Rechtssache C‑109/16 die Republik Litauen von der in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 94/19 in Verbindung mit Anhang I Nr. 12 der Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht und Schuldverschreibungen des Kreditinstituts von der Einlagensicherung ausgenommen hat. In der Rechtssache C‑109/16 ist dies ohne Belang, da die Schuldverschreibungen zum Zeitpunkt der Insolvenz von Snoras nicht ausgegeben und nicht von Herrn Raišelis erworben waren.

Ergebnis

99

Nach alledem ist auf die Fragen 1, 2, 3 und 4 der Rechtssache C‑688/15 und auf die Fragen 2, 4 und 5 der Rechtssache C‑109/16 zu antworten, dass die Richtlinien 97/9 und 94/19 dahin auszulegen sind, dass Ansprüche in Bezug auf Gelder, die für die Zeichnung von Wertpapieren, die von einem Kreditinstitut ausgegeben werden sollten, von Konten von Privatpersonen bei dem Kreditinstitut abgebucht und auf Konten des Kreditinstituts übertragen worden sind, wenn die Wertpapiere wegen Insolvenz des Kreditinstituts nicht ausgegeben wurden, sowohl unter die Anlegerentschädigungssysteme gemäß der Richtlinie 97/9 als auch unter die Einlagensicherungssysteme gemäß der Richtlinie 94/19 fallen.

Zum ersten Teil von Frage 1 der Rechtssache C‑109/16

100

Als Zweites ist der erste Teil von Frage 1 der Rechtssache C‑109/16 zu prüfen. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 97/9 dahin auszulegen ist, dass das angerufene Gericht, wenn Forderungen sowohl unter die Einlagensicherungssysteme gemäß der Richtlinie 94/19 als auch unter die Anlegerentschädigungssysteme gemäß der Richtlinie 97/9 fallen, der nationale Gesetzgeber sie aber nicht einem System gemäß der einen oder anderen Richtlinie unterstellt hat, auf der Grundlage dieser Bestimmungen selbst entscheiden kann oder muss, welches System auf die Inhaber der Forderungen Anwendung findet.

101

Fällt in einem Mitgliedstaat eine Forderung sowohl unter die Einlagensicherungssysteme gemäß der Richtlinie 94/19 als auch unter die Anlegerentschädigungssysteme gemäß der Richtlinie 97/9, hat der betreffende Mitgliedstaat sie nach Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 97/9 „nach [seinem] Ermessen“ einem dieser Systeme zuzuordnen (Satz 1). Keine Forderung darf aufgrund der beiden Richtlinien doppelt entschädigt werden (Satz 2).

102

Bei Forderungen, die sowohl die Voraussetzungen der Richtlinie 94/19 als auch die der Richtlinie 97/9 erfüllen, sieht Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 97/9 für die Zuordnung zu einem System gemäß der einen oder der anderen Richtlinie mithin keine objektiven Kriterien vor. Die Entscheidung wird den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen.

103

Stellt das angerufene Gericht also fest, dass Forderungen, für die eine Entschädigung beantragt wird, sowohl die Voraussetzungen der Richtlinie 94/19 als auch die der Richtlinie 97/9 erfüllen, und dass die Zuordnung solcher Forderungen zu einem System gemäß der einen oder der anderen Richtlinie im nationalen Recht nicht geregelt ist, kann er sich nicht auf Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 97/9 berufen, um selbst zu entscheiden, nach welchem System die Inhaber der Forderungen zu entschädigen sind.

104

In einem solchen Fall müssen die Inhaber der Forderungen entscheiden, nach welchem System, mit dem die Richtlinien 94/19 und 97/9 durchgeführt worden sind, sie entschädigt werden wollen. Denn auch wenn sie Anspruch sowohl auf den Schutz gemäß der Richtlinie 94/19 als auch auf den Schutz gemäß der Richtlinie 97/9 haben, kommt eine doppelte Entschädigung nach Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 97/9 nicht in Betracht.

105

Somit ist auf den ersten Teil von Frage 1 der Rechtssache C‑109/16 zu antworten, dass Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 97/9 dahin auszulegen ist, dass das angerufene Gericht, wenn Forderungen sowohl unter die Einlagensicherungssysteme gemäß der Richtlinie 94/19 als auch unter die Anlegerentschädigungssysteme gemäß der Richtlinie 97/9 fallen, der nationale Gesetzgeber sie aber nicht einem System gemäß der einen oder anderen Richtlinie unterstellt hat, nicht selbst auf der Grundlage dieser Bestimmungen entscheiden darf, welches System auf die Inhaber der Forderungen Anwendung findet. In einem solchen Fall müssen Letztere entscheiden, nach welchem System, mit dem die Richtlinien durchgeführt worden sind, sie entschädigt werden wollen.

Zum zweiten Teil von Frage 1 und zu Frage 3 der Rechtssache C‑109/16

106

Als Letztes sind zusammen der zweite Teil von Frage 1 sowie Frage 3 der Rechtssache C‑109/16 zu prüfen. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 und Art. 1 Nr. 4 und Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 97/9 dahin auszulegen sind, dass sich Privatpersonen vor nationalen Gerichten auf sie berufen können, um gegen ein öffentliches Unternehmen, das in einem Mitgliedstaat für die Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungssysteme zuständig ist, Entschädigungsansprüche geltend zu machen.

107

Hierzu ist als Erstes festzustellen, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 25. Juni 2015, Indėlių ir investicijų draudimas und Nemaniūnas (C‑671/13, EU:C:2015:418, Rn. 58), entschieden hat, dass die Bestimmungen der Richtlinie 97/9 über die Bestimmung der Gelder und der Instrumente, für die die in der Richtlinie vorgesehenen Entschädigungssysteme gelten, u. a. Art. 1 Nr. 4 und Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie, hinreichend klar, genau und unbedingt sind, so dass sich der Einzelne vor nationalen Gerichten unmittelbar auf sie berufen kann.

108

Dasselbe gilt für Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19. Diese Bestimmung definiert die verschiedenen Arten von „Einlagen“, die von der Richtlinie erfasst sind, klar, genau und unbedingt genug, um in einem Rechtsstreit vor einem nationalen Gericht unmittelbar angewandt werden zu können, insbesondere in Anbetracht der Auslegung durch den Gerichtshof in den vorliegenden Rechtssachen.

109

Als Zweites festzustellen, dass sich die Einzelnen auf unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie nicht nur gegenüber einem Mitgliedstaat und allen Trägern seiner Verwaltung berufen können, sondern auch gegenüber Organisationen oder Einrichtungen, die sich von Privatpersonen unterscheiden und dem Staat gleichzustellen sind, entweder weil sie juristische Personen des öffentlichen Rechts sind, die zum Staat im weiteren Sinne gehören, oder weil sie einer öffentlichen Stelle oder deren Aufsicht unterstehen oder weil sie von einer solchen Stelle mit der Erfüllung einer im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe betraut sind und hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet wurden (vgl. Urteil vom 10. Oktober 2017, Farrell, C‑413/15, EU:C:2017:7455, Rn. 33 und 34).

110

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Vorlageentscheidungen der beiden Ausgangsverfahren, dass IID nach litauischem Recht ein „Staatsunternehmen“ ist, d. h. eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, so dass sie, was die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinien 94/19 und 97/9 angeht, dem Staat gleichzustellen ist.

111

Nach alledem ist auf den zweiten Teil von Frage 1 und auf Frage 3 der Rechtssache C‑109/16 zu antworten, dass Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 und Art. 1 Nr. 4 und Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 97/9 dahin auszulegen sind, dass sich Privatpersonen vor nationalen Gerichten auf sie berufen können, um gegen ein öffentliches Unternehmen, das in einem Mitgliedstaat für die Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungssysteme zuständig ist, Entschädigungsansprüche geltend zu machen.

Zu Frage 5 der Rechtssache C‑688/15

112

Mit Frage 5 der Rechtssache C‑688/15 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 94/19 dahin auszulegen ist, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, die Einlagensicherung auf Forderungen zu erstrecken, die weder unter die Richtlinie 94/19 noch unter die Richtlinie 97/9 fallen.

113

In Anbetracht der Antworten auf die zuvor behandelten Fragen, ist Frage 5 der Rechtssache C‑688/15 nicht zu beantworten.

Kosten

114

Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Richtlinie 97/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. März 1997 über Systeme für die Entschädigung der Anleger und die Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 1994 über Einlagensicherungssysteme in der durch die Richtlinie 2009/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2009 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass Ansprüche in Bezug auf Gelder, die für die Zeichnung von Wertpapieren, die von einem Kreditinstitut ausgegeben werden sollten, von Konten von Privatpersonen bei dem Kreditinstitut abgebucht und auf Konten des Kreditinstituts übertragen worden sind, wenn die Wertpapiere wegen Insolvenz des Kreditinstituts nicht ausgegeben worden sind, sowohl unter die Anlegerentschädigungssysteme gemäß der Richtlinie 97/9 als auch unter die Einlagensicherungssysteme gemäß der Richtlinie 94/19 fallen.

 

2.

Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 97/9 ist dahin auszulegen, dass das angerufene Gericht, wenn Forderungen sowohl unter die Einlagensicherungssysteme gemäß der Richtlinie 94/19 als auch unter die Anlegerentschädigungssysteme gemäß der Richtlinie 97/9 fallen, der nationale Gesetzgeber sie aber nicht einen System gemäß der einen oder anderen Richtlinie unterstellt hat, nicht selbst auf der Grundlage dieser Bestimmungen entscheiden darf, welches System auf die Inhaber der Forderungen Anwendung findet. In einem solchen Fall müssen Letztere entscheiden, nach welchem System, mit dem die Richtlinien durchgeführt worden sind, sie entschädigt werden wollen.

 

3.

Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 in der durch die Richtlinie 2009/14 geänderten Fassung und Art. 1 Nr. 4 und Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 97/9 sind dahin auszulegen, dass sich Privatpersonen vor nationalen Gerichten auf sie berufen können, um gegen ein öffentliches Unternehmen, das in einem Mitgliedstaat für die Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungssysteme zuständig ist, Entschädigungsansprüche geltend zu machen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Litauisch.