52008DC0679

Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über seltene Krankheiten - Eine Herausforderung für Europa {SEK(2008)2713} {SEK(2008)2712} /* KOM/2008/0679 endg. */


[pic] | KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN |

Brüssel, den 11.11.2008

KOM(2008) 679 endgültig

MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT, DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN

über seltene Krankheiten – eine Herausforderung für Europa

{SEK(2008)2713}{SEK(2008)2712}

MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT, DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN

über seltene Krankheiten – eine Herausforderung für Europa

1. EINLEITUNG

Seltene Krankheiten sind Erkrankungen mit besonders geringer Prävalenz. Die Europäische Union betrachtet Krankheiten als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10 000 Menschen in der Europäischen Union davon betroffen sind. Dies bedeutet immerhin, dass schätzungsweise 29 Mio. Menschen in der Europäischen Union an 5 000 bis 8 000 verschiedenen seltenen Krankheiten leiden oder erkranken werden.

Aufgrund der Besonderheiten seltener Krankheiten – geringe Zahl von Patienten sowie begrenzte Erkenntnisse und Erfahrungswerte – stellen sie unverkennbar einen Bereich dar, in dem sich ein hoher europäischer Mehrwert erzielen lässt. Europäische Zusammenarbeit kann dazu beitragen, die wenigen vorhandenen Erkenntnisse zusammenzutragen und Ressourcen gemeinsam so effizient wie möglich zu nutzen, um seltene Krankheiten wirksam in ganz Europa zu bekämpfen.

Die Kommission hat bereits in vielen Bereichen Schritte unternommen, um die Problematik seltener Krankheiten aufzugreifen. Darauf aufbauend soll die vorliegende Mitteilung über die Herausforderungen, vor denen Europa im Bereich der seltenen Krankheiten steht, ein integriertes Konzept darlegen und den aktuellen und künftigen Gemeinschaftstätigkeiten in diesem Bereich eine klare Richtung weisen, wie die flächendeckende Prävention, Diagnose und Behandlung für Patienten, die unter einer seltenen Krankheit leiden, EU-weit verbessert werden kann.

2. PROBLEMSTELLUNG

Die meisten seltenen Krankheiten sind genetische Krankheiten; des Weiteren gehören dazu seltene Krebserkrankungen, Autoimmunerkrankungen, angeborene Missbildungen, toxische Krankheiten und Infektionskrankheiten. Die Erforschung seltener Krankheiten hat sich als sehr sinnvoll erwiesen, um die Entstehungsmechanismen verbreiteter Störungen wie Adipositas und Diabetes zu erhellen, die häufig ein Störungsmuster eines einzigen biologischen Wegs aufweisen. Doch sind die Forschungsarbeiten zu seltenen Krankheiten nicht nur zahlenmäßig gering, sondern zudem auch über verschiedene Labors in der ganzen EU verteilt.

Da spezifische Gesundheitsstrategien für seltene Krankheiten fehlen und nur wenige Erfahrungswerte vorliegen, werden Diagnosen verzögert und der Zugang zur Versorgung erschwert. Dies führt zu weiteren körperlichen, psychischen und mentalen Beeinträchtigungen, unzureichender oder sogar schädlicher Behandlung und einem Verlust des Vertrauens ins Gesundheitssystem, obwohl einige seltene Krankheiten durchaus mit einem normalen Leben vereinbar sind, sofern sie frühzeitig erkannt und richtig behandelt werden. Fehlende oder falsche Diagnosen bilden die größte Hürde für die Verbesserung der Lebensqualität Tausender Patienten mit seltenen Krankheiten.

Die einzelstaatlichen Gesundheitsleistungen zur Diagnose, Behandlung und Rehabilitation von Patienten mit seltenen Krankheiten unterscheiden sich erheblich, was Verfügbarkeit und Qualität anbelangt. Je nachdem, in welchem Mitgliedstaat bzw. in welcher Region die EU-Bürger leben, haben sie unterschiedlichen Zugang zu spezialisierten Leistungen und verfügbaren Versorgungsoptionen. Manche Mitgliedstaaten haben einige der durch die Seltenheit der Krankheiten entstehenden Probleme erfolgreich in Angriff genommen, andere hingegen haben noch nicht geprüft, welche Lösungen in Frage kommen.

Im Bereich der Arzneimittel für seltene Krankheiten, der so genannten Orphan Drugs, wird bereits eine Strategie unter der Leitung der Kommission und der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA) durchgeführt. Diese Arzneimittel für seltene Leiden werden auch als Orphan Drugs bezeichnet, weil die pharmazeutische Industrie wenig Interesse daran hat, unter normalen Marktbedingungen Produkte zu entwickeln und zu vermarkten, die nur für eine geringe Anzahl von Patienten bestimmt sind, welche unter sehr seltenen Krankheiten leiden. Die Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden[1] wurde vorgeschlagen, um die Kriterien für die Ausweisung als Orphan Drugs in der EU festzulegen, und beschreibt die Anreize (z. B. 10 Jahre währendes alleiniges Vertriebsrecht, Unterstützung bei der Erstellung eines Prüfplans, Zugang zum zentralisierten Verfahren für die Marktzulassung); auf diese Weise soll die Erforschung, Entwicklung und Vermarktung von Arzneimitteln zur Behandlung, Prävention oder Diagnose seltener Krankheiten gefördert werden. Die EU-Strategie zur Förderung von Orphan Drugs ist ein Erfolg. Doch haben die Mitgliedstaaten noch nicht für den uneingeschränkten Zugang zu allen zugelassenen und genehmigten Orphan Drugs gesorgt.

3. ZIELE

Die Rolle der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit besteht nach Artikel 152 des Vertrags darin, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern und deren Maßnahmen erforderlichenfalls zu unterstützen. Aufgrund der Besonderheiten seltener Krankheiten – geringe Zahl von Patienten sowie begrenzte Erkenntnisse und Erfahrungswerte – lässt sich in diesem Bereich ein hoher europäischer Mehrwert erzielen . Ziel der vorliegenden Mitteilung ist es, eine allgemeine Gemeinschaftsstrategie für die Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Sicherstellung wirksamer und effizienter Erkennung, Prävention, Diagnose, Behandlung, Versorgung und Erforschung von seltenen Krankheiten in Europa darzulegen.

Dies wird wiederum dazu beitragen, das übergeordnete Ziel zu erreichen, nämlich eine Verbesserung der Gesundheitsergebnisse und damit ein Anstieg der gesunden Lebensjahre, einem Schlüsselindikator der Lissabon-Strategie[2]. Zu diesem Zweck wird diese Mitteilung die operativen Maßnahmen in drei Arbeitsbereiche gliedern.

3.1. Seltene Krankheiten besser erkennen und ins Bewusstsein rücken

Der Schlüssel für bessere Strategien zur Bekämpfung seltener Krankheiten liegt darin, sicherzustellen, dass sie erkannt werden, damit alle weiteren Maßnahmen entsprechend folgen können. Zur Verbesserung der Diagnose und der Versorgung im Bereich seltener Krankheiten muss die richtige Erkennung genaue Informationen nach sich ziehen, die in Bestandslisten und Registerform bereit gestellt und verbreitet werden, welche dem Bedarf der Betroffenen und der Behandelnden entsprechen. Dies wird dazu beitragen, einige der Hauptursachen für die Vernachlässigung der seltenen Krankheiten zu beheben. Deshalb beabsichtigt die Kommission, ein umfassendes Kodierungs- und Klassifizierungssystem auf europäischer Ebene einzurichten, in dessen Rahmen Erkenntnisse leichter ausgetauscht werden können, damit die wissenschaftliche und gesundheitliche Problematik der seltenen Krankheiten in der ganzen EU besser verstanden wird.

3.2. Strategien zur Bekämpfung seltener Krankheiten in den Mitgliedstaaten fördern

Effiziente und wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung seltener Krankheiten hängen von einer kohärenten allgemeinen Strategie ab, die knappe und zersplitterte Ressourcen auf integrierte und deutlich erkennbare Weise zusammenführt und Bestandteil gemeinsamer europäischer Anstrengungen ist. Diese gemeinsamen europäischen Anstrengungen hängen wiederum von einem EU-weit gemeinsamen Ansatz zur Bekämpfung seltener Krankheiten ab, der eine gemeinsame Basis der Zusammenarbeit bildet und dazu beiträgt, den Zugang der Patienten zu Versorgung und Information zu verbessern.

Deshalb schlägt die Kommission den Mitgliedstaaten vor, sich mittels der Annahme einer Empfehlung des Rates auf einen gemeinsamen Ansatz bei der Bekämpfung seltener Krankheiten zu stützen, der auf bewährten Verfahren beruht. Der Vorschlag der Kommission für eine Empfehlung des Rates, der dieser Mitteilung beiliegt, empfiehlt den Mitgliedstaaten, Strategien durchzuführen, die Folgendes umfassen:

- Einführung sektorübergreifender einzelstaatlicher Aktionspläne zur Bekämpfung seltener Krankheiten;

- geeignete Mechanismen für Definition, Kodierung und Bestandsaufnahme seltener Krankheiten und die Erstellung von Leitlinien für bewährte Verfahren als Rahmen für die Erkennung seltener Krankheiten und die Weitergabe von Erkenntnissen und Erfahrungswerten;

- Förderung der Erforschung seltener Krankheiten, einschließlich grenzübergreifender Zusammenarbeit zur bestmöglichen Nutzung der wissenschaftlichen Ressourcen in der gesamten EU;

- Sicherstellung des Zugangs zu qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung, insbesondere durch Benennung nationaler und regionaler Fachzentren und Förderung ihrer Beteiligung an europäischen Referenznetzen;

- Sicherstellung von Mechanismen zur Zusammenstellung einzelstaatlichen Expertenwissens über seltene Krankheiten und zu dessen gemeinsamer Nutzung mit den europäischen Partnern;

- Maßnahmen zur Aufklärung und Beteiligung von Patienten und Patientenverbänden;

- Gewährleistung der Nachhaltigkeit dieser Maßnahmen.

3.3. Europäische Zusammenarbeit, Koordinierung und Regelungen im Bereich seltener Krankheiten entwickeln

Gemeinschaftsmaßnahmen werden die Mitgliedstaaten dabei unterstützen, die knappen Ressourcen auf dem Gebiet der seltenen Krankheiten zusammenzuführen, und können den Patienten und den Beschäftigten des Gesundheitswesens dabei helfen, Fachwissen und Informationen weiterzugeben und zu koordinieren. Die Gemeinschaft sollte anstreben, die Maßnahmen und Initiativen auf EU-Ebene besser zu koordinieren und die Zusammenarbeit im Rahmen verschiedener EU-Programme zu stärken, um die für seltene Krankheiten auf Gemeinschaftsebene verfügbaren Ressourcen bestmöglich zu nutzen.

4. OPERATIVE MASSNAHMEN ZUR BESSEREN ANERKENNUNG UND BEWUSSTSEINSBILDUNG FÜR SELTENE KRANKHEITEN

4.1. Definition seltener Krankheiten

Die vorliegende Definition seltener Krankheiten in der EU wurde mit dem Aktionsprogramm der Gemeinschaft betreffend seltene Krankheiten 1999-2003 festgelegt; seltene Krankheiten sind demnach solche, deren Prävalenz nicht mehr als 5 von 10 000 Menschen in der Europäischen Union beträgt. Die gleiche Definition wird in der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 und dementsprechend von der Europäischen Kommission für die Ausweisung von Orphan Drugs verwendet . Die EU wird die aktuelle Definition beibehalten. Eine differenziertere Definition, die sowohl Prävalenz als auch Inzidenz berücksichtigt, wird unter Verwendung von Mitteln aus dem Gesundheitsprogramm und unter Berücksichtigung der internationalen Aspekte des Problems erarbeitet.

4.2. Klassifizierung und Kodierung seltener Krankheiten

Internationale Referenz für die Klassifizierung von Krankheiten ist die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) koordinierte Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD)[3]. Die Kommission wird bei der Überarbeitung der bestehenden ICD (International Classification of Diseases) die Arbeit leiten, um für eine bessere Kodierung und Klassifizierung seltener Krankheiten zu sorgen. Zu diesem Zweck wird die Kommission eine Arbeitsgruppe für die Klassifizierung und Kodierung seltener Krankheiten[4] einsetzen. Diese Arbeitsgruppe könnte von der WHO als Beratende Arbeitsgruppe im laufenden Verfahren zur Überarbeitung der ICD eingesetzt werden.

4.3. Verbreitung von Erkenntnissen und Informationen über seltene Krankheiten

Diagnose und Versorgung im Bereich seltener Krankheiten lassen sich unter anderem vor allem durch die Bereitstellung und Verbreitung genauer Informationen in für die Betroffenen und Behandelnden verständlicher Form verbessern. Die Erstellung einer ausbaufähigen Bestandsaufnahme seltener Krankheiten in der EU wird dazu beitragen, einige der Hauptursachen für die Vernachlässigung seltener Krankheiten und die Unkenntnis, welche Krankheiten selten sind, in Angriff zu nehmen. Die Kommission wird dafür Sorge tragen, dass diese Informationen weiterhin auf europäischer Ebene zur Verfügung stehen, insbesondere aufbauend auf der Datenbank Orphanet[5], die aus den Gemeinschaftsprogrammen gefördert wird.

4.4. Krankheitsspezifische Informationsnetze

Die bestehenden (oder künftigen) krankheitsspezifischen Informationsnetze haben folgende Prioritäten:

- Gewährleistung des Informationsaustauschs über bestehende europäische Informationsnetze;

- Förderung einer besseren Klassifizierung bestimmter Krankheiten;

- Entwicklung von Strategien und Mechanismen für den Informationsaustausch zwischen den Beteiligten;

- Entwicklung vergleichbarer epidemiologischer Daten auf EU-Ebene;

- Unterstützung des Austauschs bewährter Verfahren und Entwicklung von Maßnahmen für Patientengruppen.

5. OPERATIVE MASSNAHMEN ZUR ENTWICKLUNG EUROPÄISCHER ZUSAMMENARBEIT UND ZUR VERBESSERUNG DES ZUGANGS ZU QUALITATIV HOCHWERTIGER GESUNDHEITSVERSORGUNG IM BEREICH SELTENER KRANKHEITEN

5.1. Verbesserung der flächendeckenden qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung im Bereich seltener Krankheiten, insbesondere durch die Entwicklung nationaler/regionaler Fachzentren und die Errichtung von EU-Referenznetzen

Die Mitgliedstaaten haben sich gemeinsam darauf verpflichtet, auf der Grundlage von Gleichbehandlung und Solidarität[6] eine flächendeckende qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Doch wenn Krankheiten selten sind, fehlt auch die entsprechende Erfahrung. Einige Fachzentren (so genannte Referenzzentren oder Spitzenkompetenzzentren in einigen Mitgliedstaaten) haben Erfahrungen gewonnen, die in den Fachkreisen[7] in ihrem Land oder sogar international weite Verbreitung gefunden haben und die dazu beitragen können, für Patienten, die an seltenen Krankheiten leiden, den Zugang zu geeigneter Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Die EU-Taskforce für seltene Krankheiten empfahl 2006 in ihrem Bericht „ Contribution to policy shaping: For a European collaboration on health services and medical care in the field of RD“ (Beitrag zur Strategieentwicklung: Europaweite Zusammenarbeit im Bereich Gesundheitswesen und medizinische Versorgung im Bereich seltener Krankheiten)[8] an die hochrangige Gruppe, dass die Mitgliedstaaten zur Benennung ihrer Fachzentren beitragen und diese finanziell unterstützen.

Die hochrangige Gruppe für das Gesundheitswesen und die medizinische Versorgung arbeitet seit 2004 an dem Konzept europäischer Referenznetze[9]. Gestützt auf die Arbeit der hochrangigen Gruppe sieht Artikel 15 des Vorschlags einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (KOM(2008)414) vor, dass die Mitgliedstaaten die Entwicklung europäischer Referenznetze erleichtern sollen. Das Referenznetz für seltene Krankheiten wird eine strategische Rolle bei der qualitativen Verbesserung der Versorgung aller Patienten EU-weit spielen, wie sie von den Patientenverbänden gefordert wird[10].

5.2. Zugang zu spezialisierten sozialen Dienstleistungen

Fachzentren können auch eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung oder Förderung spezialisierter sozialer Dienstleistungen spielen, die die Lebensqualität von Menschen, die an seltenen Krankheiten leiden, verbessern. Telefonische Beratungsdienste, Kurzzeitpflege und therapeutische Freizeitprogramme werden bereits unterstützt[11] und müssen nachhaltig sein, damit sie ihre Ziele erreichen: Bewusstseinsbildung, Austausch bewährter Verfahren und Standards, gemeinsame Nutzung von Ressourcen durch das Gesundheitsprogramm und den Aktionsplan zugunsten behinderter Menschen.

5.3. Zugang zu Orphan Drugs

Aufgrund der Seltenheit bildet der Entscheidungsprozess für die Preisgestaltung und die Kostenerstattung ein besonderes Hindernis für den Zugang zu Orphan Drugs. Dies lässt sich ändern durch verstärkte Zusammenarbeit auf europäischer Ebene bei der wissenschaftlichen Bewertung des (zusätzlichen) therapeutischen Nutzens der Arzneimittel für seltene Krankheiten.

Die Kommission wird eine Arbeitsgruppe für den Wissensaustausch zwischen den Mitgliedstaaten und den europäischen Behörden über die wissenschaftliche Bewertung des klinischen Mehrwerts von Orphan Drugs einsetzen Diese Zusammenarbeit könnte zu nicht verbindlichen gemeinsamen Berichten zur Bewertung des klinischen Mehrwerts mit besseren Informationen führen, die die nationalen Preis- und Kostenerstattungsentscheidungen erleichtern, ohne den jeweiligen Behörden vorzugreifen.[12]

Außerdem sollten die Beteiligung der EMEA und der bestehenden internationalen Netze für Gesundheitstechnologiefolgenabschätzung wie Health Technology Assessment International (HTAi)[13], das europäische Netz für Gesundheitstechnologiefolgenabschätzung (EUnetHTA)[14] oder der Ausschuss für die Bewertung von Arzneimitteln (MEDEV)[15] in Erwägung gezogen werden.

5.4. Härtefallprogramme

Ein besseres System für die Abgabe von Arzneimitteln an Patienten mit seltenen Krankheiten vor der Zulassung und/oder die Kostenerstattung für neue Arzneimittel (so genannte Anwendung in Härtefällen) ist erforderlich.

Nach den bestehenden Arzneimittelrechtsvorschriften kann die EMEA Stellungnahmen zum Einsatz eines Produkts in Härtefällen abgeben, um ein gemeinsames Vorgehen in der ganzen Gemeinschaft sicherzustellen.

Die Kommission wird die EMEA auffordern, ihre bestehende Leitlinie dahingehend zu überprüfen, Patienten Zugang zur Behandlung zu verschaffen.

5.5. Medizinprodukte

Die Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden deckt nicht den Bereich der Medizinprodukte ab. Der begrenzte Markt und der begrenzte Investitionsertrag wirken abschreckend. Die Kommission wird prüfen, ob Maßnahmen notwendig sind, um hier Abhilfe zu schaffen, möglicherweise im Rahmen der bevorstehenden Überarbeitung der Richtlinie für Medizinprodukte.

5.6. Anreize für die Entwicklung von Orphan Drugs

Pharmazeutische Unternehmen investieren langfristig enorme Summen, um Medikamente für seltene Krankheiten zu entdecken und bis zur Marktreife zu entwickeln. Für sie müssen sich diese Investitionen dann auch rentieren. Idealerweise sollten sie jedoch diesen Gewinn in die Entwicklung weiterer Arzneimittel reinvestieren. Obwohl in der EU mehr als 45 Behandlungsmöglichkeiten zugelassen sind – einige davon für die gleiche Krankheit –, gibt es für viele Krankheiten immer noch keine Behandlung. Gemäß Artikel 9 der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 sollten zusätzliche Anreize auf einzelstaatlicher oder europäischer Ebene gesucht werden, mit denen sich die Erforschung seltener Krankheiten und die Entwicklung von Orphan Drugs sowie das Bewusstsein der Mitgliedstaaten für diese Produkte fördern lassen.

5.7. Gesundheitstelematik

Gesundheitstelematik kann auf mehrere verschiedene Arten hierzu beitragen, insbesondere durch Folgendes:

- Elektronische Online-Dienste, die von Orphanet und anderen von der EU finanzierten Projekten entwickelt wurden, sind ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) dazu beitragen kann, die Kontakte zwischen Patienten zu fördern und Patientengruppen zu bilden, Datenbanken von verschiedenen Forschungsgruppen miteinander zu verbinden, Daten für klinische Forschung zu erheben, Patienten zu registrieren, die bereit sind, an klinischen Forschungen teilzunehmen, und Experten Fälle vorzulegen, um die Qualität von Diagnose und Behandlung zu verbessern;

- Telemedizin, die telematische Erbringung von Gesundheitsleistungen durch IKT, ist ein weiteres sinnvolles Tool. Sie kann es zum Beispiel ermöglichen, normalen Krankenhäusern oder Arztpraxen hoch spezialisiertes Fachwissen über seltene Krankheiten zugänglich zu machen, beispielsweise zur Einholung einer zweiten Meinung aus einem Spitzenforschungszentrum[16];

- aus dem Siebten Forschungsrahmenprogramm[17] geförderte Forschung im Bereich computergestützter Nachbildung physiologischer und pathologischer Prozesse ist ein vielversprechender Ansatz, um die Faktoren besser zu verstehen, die seltenen Krankheiten zugrunde liegen, Prognosen zu erstellen und möglicherweise neue Behandlungsmöglichkeiten zu finden.

5.8. Reihenuntersuchungen

Reihenuntersuchungen Neugeborener auf Phenylketonurie und angeborene Hypothyreose ist gängige Praxis in Europa und hat sich als hoch wirksam erwiesen, um Behinderungen bei betroffenen Kindern zu vermeiden. Durch die technologische Entwicklung können nun viele Tests auf eine große Zahl seltener Krankheiten, insbesondere Stoffwechselerkrankungen und genetische Krankheiten, zu geringen Kosten durchgeführt werden, auch durch Roboter. Es wird empfohlen, die Zusammenarbeit in diesem Bereich zu fördern, um Nachweise zu erbringen, auf die sich die Entscheidungen auf der Ebene der Mitgliedstaaten stützen sollten. Eine Bewertung derzeitiger Strategien für Reihenuntersuchungen in der Bevölkerung (einschließlich Neugeborener) auf seltene und potenzielle neue Krankheiten wird von der Kommission auf EU-Ebene durchgeführt, um den Mitgliedstaaten Anhaltspunkte (auch für die Lösung ethischer Fragen) zu liefern, auf die sie ihre politischen Entscheidungen stützen können. Die Kommission wird diese Unterstützung als vorrangige Maßnahme betrachten.

5.9. Qualitätsmanagement von Diagnoselabors

Viele seltene Krankheiten lassen sich heute anhand von biologischen Tests diagnostizieren, bei denen es sich oft um Gentests handelt. Diese Tests sind wichtige Bestandteile eines geeigneten Patientenmanagements, da sie eine frühzeitige Diagnose, manchmal ein Familienscreening oder pränatale Tests ermöglichen. Angesichts der großen Zahl von Tests und der Notwendigkeit, für jeden Test eine spezifische Reihe diagnostischer Analysen zu erarbeiten und zu validieren, kann kein Land diese Aufgabe allein effizient bewältigen. Der Austausch von Expertenwissen muss durch klar formulierte, transparente und auf EU-Ebene abgestimmte Standards und Verfahren ermöglicht und erleichtert werden.

Dies ließe sich durch den Aufbau europäischer Referenznetze von Fachdiagnoselabors (wie z. B. EuroGenTest[18]) erreichen. Diese Labors werden dazu angeregt, sich an Eignungsprüfungen, unter besonderer Berücksichtigung der Meldeergebnisse und der Leistung von genetischer Beratung vor und nach den Tests[19], zu beteiligen.

5.10. Primärprävention

Es gibt nur sehr wenige seltene Krankheiten, bei denen die Möglichkeit der Primärprävention besteht. Dennoch werden Maßnahmen der Primärprävention ergriffen, wenn dies möglich ist (beispielsweise Folsäuregabe zur Verhinderung von Neuralrohrdefekten). Maßnahmen in diesem Bereich sollten auf EU-Ebene unter Leitung der Kommission erörtert werden, damit festgestellt wird, bei welchen seltenen Krankheiten Maßnahmen der Primärprävention erfolgreich sein können.

5.11. Register und Datenbanken

Register und Datenbanken bilden Schlüsselinstrumente, um Erkenntnisse über seltene Krankheiten zu vertiefen und die klinische Forschung weiterzuentwickeln. Sie stellen die einzige Möglichkeit dar, Daten zusammenzuführen, um eine ausreichende Menge für die epidemiologische und/oder klinische Forschung zu erreichen. Gemeinsame Anstrengungen zur Datenerhebung und -pflege sollten in Erwägung gezogen werden, sofern diese Ressourcen offen zugänglich sind. Wichtig ist auch, die langfristige Nachhaltigkeit solcher Systeme sicherzustellen, anstatt sie durch eine Projektförderung zu finanzieren, die per se ungesichert ist. Dieser Gedanke wurde auch in dem vom High level Pharmaceutical Forum angenommenen Papier „Improving access to orphan medicines for all affected EU citizens“ ausgeführt.

5.12. Forschung und Entwicklung

Für die meisten schweren seltenen Krankheiten, die potenziell behandelbar wären, gibt es einfach derzeit keine spezifische Behandlung. Die Entwicklung von Therapiemöglichkeiten steht vor drei Hindernissen: fehlende Kenntnis der zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen, fehlende Unterstützung in den frühen Phasen der klinischen Entwicklung und fehlende Gewinnaussichten seitens der pharmazeutischen Industrie. Die hohen Kosten der Arzneimittelentwicklung, zusammen mit dem schätzungsweise geringen Investitionsertrag (aufgrund der sehr kleinen Patientenpopulationen) halten die Arzneimittelindustrie in der Regel davon ab, Medikamente für seltene Krankheiten zu entwickeln, trotz der hohen medizinischen Notwendigkeit.

Es sollte ein frühzeitiger Dialog über Arzneimittel, die in der Entwicklung begriffen sind, zwischen diesen Unternehmen und den Behörden stattfinden, die Arzneimittel finanzieren.[20] Dadurch erhielte das sponsernde Unternehmen mehr Sicherheit über seinen potenziellen künftigen Ertrag, und die Behörden erhielten mehr Kenntnisse und Vertrauen hinsichtlich des Werts der Arzneimittel, deren Bewertung und Finanzierung bei ihnen beantragt wird.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten werden Projekte zur Erforschung seltener Krankheiten aus den Rahmenprogrammen der Europäischen Gemeinschaft im Bereich Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration gefördert. Im laufenden Siebten Rahmenprogramm[21] soll das Thema Gesundheit des spezifischen Programms Zusammenarbeit die multinationale Forschungszusammenarbeit in verschiedenen Formen unterstützen. Hauptsächlicher Schwerpunkt des Themas Gesundheit im Bereich der seltenen Krankheiten sind europaweite Studien zum natürlichen Krankheitsverlauf, zur Pathophysiologie und zur Entwicklung von präventiven, diagnostischen und therapeutischen Interventionen.

Der Beratende Ausschuss für seltene Krankheiten der EU (EUACRD, siehe Nr. 7) und der Ausschuss für Arzneimittel für seltene Leiden (COMP) bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA) werden der Kommission eine jährliche gemeinsame Empfehlung zu bestimmten Punkten für die Aufrufe zur Einreichung von Vorschlägen bei der Durchführung der Rahmenprogramme geben.

Koordinierungsprojekte, die auf die optimale Verwendung der begrenzten Ressourcen für die Erforschung seltener Krankheiten abzielen, sollten gefördert werden. Beispielsweise trägt das aus dem Sechsten EU-Rahmenprogramm geförderte ERANet-Projekt (E-Rare)[22], das zurzeit die Forschungsförderungspolitik für seltene Krankheiten in sieben Ländern koordiniert, dazu bei, die Zersplitterung solcher Forschungsbemühungen zu beheben. Solche Ansätze sollten angemessen berücksichtigt werden.

6. INTERNATIONALE ZUSAMMENARBEIT

Die Kommissionspolitik im Bereich seltener Krankheiten sollte darauf abzielen, die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene mit allen interessierten Ländern und in enger Abstimmung mit der Weltgesundheitsorganisation zu fördern. Internationale Zusammenarbeit ist bereits ein integraler Bestandteil der Forschungsrahmenprogramme.

7. VERWALTUNG UND BEGLEITUNG

Die Kommission sollte vom Beratenden Ausschuss für seltene Krankheiten der EU (EUACRD) bei der Umsetzung dieser Mitteilung unterstützt werden. Den Vorsitz des Ausschusses wird die Europäische Kommission führen; ein aus dem Gesundheitsprogramm gefördertes wissenschaftliches Sekretariat wird Unterstützung leisten. Dieser Ausschuss wird die derzeitige EU-Taskforce für seltene Krankheiten ablösen.

Außerdem werden die Organisation eines Europäischen Tages der seltenen Krankheiten (29. Februar, ein seltener Tag) und europäische Konferenzen zur Bewusstseinsbildung bei einschlägigen Berufsgruppen und der breiten Öffentlichkeit gefördert.

Die Kommission wird spätestens fünf Jahre nach Annahme dieser Mitteilung anhand der von den Mitgliedstaaten vorgelegten Informationen einen Durchführungsbericht zu dieser Mitteilung erstellen, der sich an das Europäische Parlament, den Rat, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen wendet. Dieser Bericht sollte gleichzeitig mit dem auf die Empfehlung des Rates hin zu erstellenden Bericht vorgelegt werden.

8. FAZIT

Obwohl jede seltene Krankheit nur eine relativ kleine Anzahl von Patienten und Familien betrifft, stellen sie insgesamt eine schweres Problem für die EU dar. Außerdem bedeutet die Notwendigkeit, Erkenntnisse zusammenzuführen und die begrenzten Ressourcen effizient zu nutzen, dass die europäische Zusammenarbeit im Bereich seltener Krankheiten einen besonderen Mehrwert für die Maßnahmen der Mitgliedstaaten erbringen kann. Die Kommission hat früher bereits einzelne Initiativen ergriffen, wie das Programm zur Bekämpfung seltener Krankheiten, die Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden und die Berücksichtigung seltener Krankheiten im Rahmenprogramm für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration. Es bedarf jedoch weiterer Maßnahmen, um sicherzustellen, dass diese einzelnen Arbeitsbereiche nachhaltig sind und in eine allgemeine Strategie zur Bekämpfung seltener Krankheiten zusammengeführt werden, sowohl auf Gemeinschaftsebene als auch in den Mitgliedstaaten, damit das Potenzial der Zusammenarbeit weitestgehend ausgeschöpft wird.

Mit dieser Mitteilung und dem beiliegenden Vorschlag für eine Empfehlung des Rates möchte die Kommission eine allgemeine Strategie zur Bekämpfung seltener Krankheiten einführen. Diese bietet die Möglichkeit, die Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstützung in diesem wichtigen Bereich in ganz Europa maximal zu nutzen. Sie wird die Mitgliedstaaten dabei unterstützen, ihre eigenen einzelstaatlichen und regionalen Strategien zur Bekämpfung seltener Krankheiten einzuführen. Patienten, die unter seltenen Krankheiten leiden, und ihre Angehörigen werden so einen im täglichen Leben konkret erfahrbaren Nutzen aus der europäischen Integration ziehen können.[pic][pic][pic][pic][pic][pic]

[1] Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden.

[2] Siehe http://ec.europa.eu/health/ph_information/indicators/lifeyears_en.htm.

[3] Siehe http://www.who.int/classifications/icd/en/.

[4] Siehe http://www.who.int/classifications/icd/en/index.html.

[5] Siehe http://www.orpha.net/.

[6] Schlussfolgerungen des Rates zum Thema Gemeinsame Werte und Prinzipien in den Europäischen Union-Gesundheitssystemen, ABl. C 146 vom 22.6.2006, S. 1.

[7] Siehe den Bericht der Taskforce für seltene Krankheiten: “Overview of current Centres of Reference on rare diseases in the EU (2005)”, http://ec.europa.eu/health/ph_threats/non_com/rare_8_en.htm

[8] http://ec.europa.eu/health/ph_threats/non_com/rare_8_en.htm

[9] Siehe den Bericht der hochrangigen Gruppe für das Gesundheitswesen und die gesundheitliche Versorgung über die europäischen Referenznetze: http://ec.europa.eu/health/ph_threats/non_com/rare_8_en.htm

[10] Siehe den Bericht des European Workshop on Centres of Expertise and Reference Networks for Rare Disease, Prag, Juli 2007.http://www.eurordis.org/IMG/pdf/EU_workshop_report_3.pdf.

[11] Ähnlich wie die des von der EU finanzierten Projekts RAPSODY. http://ec.europa.eu/ph_projects/2005/action1/action1_2005_19_en.htm.

[12] Wie in dem vom High level Pharmaceutical Forum angenommenen Papier „Improving access to orphan medicines for all affected EU citizens“ ausgeführt.

[13] http://www.htai.org/

[14] http://www.eunethta.net/

[15] http://www.esip.org/publications/pb51.pdf

[16] Entwurf einer Mitteilung über den Nutzen der Telemedizin für Patienten, Gesundheitssysteme und die Gesellschaft.

[17] http://ec.europa.eu/information_society/activities/health/research/fp7vph/index_en.htm.

[18] Siehe http://www.eurogentest.org/

[19] Unterstützung von Patienten, die mit der Diagnose einer genetischen Krankheit konfrontiert sind, damit sie sowohl die sachlichen Informationen über die Krankheit verstehen, als auch die Auswirkungen, die diese auf ihr Leben haben wird, damit sie selbst Entscheidungen für ihre Zukunft treffen können.

[20] Wie in dem vom High level Pharmaceutical Forum angenommenen Papier „Improving access to orphan medicines for all affected EU citizens“ ausgeführt.

[21] Siehe http://cordis.europa.eu/fp7/home_en.html.

[22] Siehe http://www.e-rare.eu/cgi-bin/index.php.