URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

9. März 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft – Richtlinie 98/34/EG – Art. 1 Nr. 4 – Begriff der sonstigen Vorschrift – Art. 1 Nr. 11 – Begriff der technischen Vorschrift – Art. 8 Abs. 1 – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission jeden Entwurf einer technischen Vorschrift zu übermitteln – Innerstaatliche Rechtsvorschrift, nach der Straßenverkehrskraftstoffen zu einem bestimmten Anteil Biokraftstoffe beizumischen sind – Art. 10 Abs. 1, dritter Gedankenstrich – Begriff der in einem verbindlichen Unionsrechtsakt enthaltenen Schutzklausel – Nichteinbeziehung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2009/30/EG“

In der Rechtssache C‑604/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Administrativo e Fiscal de Braga (Verwaltungs- und Finanzgericht Braga, Portugal) mit Entscheidung vom 14. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. September 2021, in dem Verfahren

Vapo Atlantic SA

gegen

Entidade Nacional para o Setor Energético E. P. E.,

Beteiligte:

Fundo Ambiental,

Fundo de Eficiência Energética (FEE),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Vapo Atlantic SA, vertreten durch N. Franco Bruno, R. Leandro Vasconcelos und M. Martins Pereira, Advogados,

der Entidade Nacional para o Setor Energético E. P. E., vertreten durch G. Capitão, Advogado,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, M. Branco, C. Chambel Alves und J. Reis Silva als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braga da Cruz, B. De Meester und M. Escobar Gómez als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Nr. 3, Art. 8 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1, dritter Gedankenstrich der Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (ABl. 1998, L 204, S. 37) in der durch die Richtlinie 2006/96/EG des Rates vom 20. November 2006 (ABl. 2006, L 363, S. 81) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 98/34), von Art. 7a Abs. 2 der Richtlinie 98/70/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über die Qualität von Otto- und Dieselkraftstoffen und zur Änderung der Richtlinie 93/12/EWG des Rates (ABl. 1998, L 350, S. 58) in der durch die Richtlinie 2009/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 (ABl. 2009, L 140, S. 88) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 98/70), von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2009/30 und von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG (ABl. 2009, L 140, S. 16).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Vapo Atlantic SA und der Entidade Nacional para o Setor Energético E. P. E. (nationale Energiebehörde) (im Folgenden: ENSE) wegen eines Bescheids dieser Behörde, mit dem Vapo Atlantic verpflichtet wurde, einen finanziellen Ausgleich zu zahlen, weil sie nicht nachgewiesen habe, dass sie den Straßenverkehrskraftstoffen, die sie im zweiten Quartal 2020 in den freien Verkehr überführt habe, Biokraftstoffe beigemischt habe.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 98/34

3

Art. 1 der Richtlinie 98/34 bestimmte:

„Für diese Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

3.

‚technische Spezifikation‘[:] Spezifikation, die in einem Schriftstück enthalten ist, das Merkmale für ein Erzeugnis vorschreibt, wie Qualitätsstufen, Gebrauchstauglichkeit, Sicherheit oder Abmessungen, einschließlich der Vorschriften über Verkaufsbezeichnung, Terminologie, Symbole, Prüfungen und Prüfverfahren, Verpackung, Kennzeichnung und Beschriftung des Erzeugnisses sowie über Konformitätsbewertungsverfahren.

4.

‚sonstige Vorschrift‘[:] eine Vorschrift für ein Erzeugnis, die keine technische Spezifikation ist und insbesondere zum Schutz der Verbraucher oder der Umwelt erlassen wird und den Lebenszyklus des Erzeugnisses nach dem Inverkehrbringen betrifft, wie Vorschriften für Gebrauch, Wiederverwertung, Wiederverwendung oder Beseitigung, sofern diese Vorschriften die Zusammensetzung oder die Art des Erzeugnisses oder seine Vermarktung wesentlich beeinflussen können;

6.

‚Norm‘[:] technische Spezifikation, die von einem anerkannten Normungsgremium zur wiederholten oder ständigen Anwendung angenommen wurde, deren Einhaltung jedoch nicht zwingend vorgeschrieben ist und die unter eine der nachstehend genannten Kategorien fällt:

internationale Norm: Norm, die von einer internationalen Normungsorganisation angenommen wird und der Öffentlichkeit zugänglich ist;

europäische Norm: Norm, die von einem europäischen Normungsgremium angenommen wird und der Öffentlichkeit zugänglich ist;

nationale Norm: Norm, die von einem nationalen Normungsgremium angenommen wird und der Öffentlichkeit zugänglich ist;

11.

‚Technische Vorschrift‘: technische Spezifikationen oder sonstige Vorschriften oder Vorschriften betreffend Dienste, einschließlich der einschlägigen Verwaltungsvorschriften, deren Beachtung rechtlich oder de facto für das Inverkehrbringen, die Erbringung des Dienstes, die Niederlassung eines Erbringers von Diensten oder die Verwendung in einem Mitgliedstaat oder in einem großen Teil dieses Staates verbindlich ist, sowie – vorbehaltlich der in Artikel 10 genannten Bestimmungen – die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, mit denen Herstellung, Einfuhr, Inverkehrbringen oder Verwendung eines Erzeugnisses oder Erbringung oder Nutzung eines Dienstes oder die Niederlassung als Erbringer von Diensten verboten werden.

Technische De-facto-Vorschriften sind insbesondere:

die Rechts- oder Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaats, in denen entweder auf technische Spezifikationen oder sonstige Vorschriften oder auf Vorschriften betreffend Dienste oder auf Berufskodizes oder Verhaltenskodizes, die ihrerseits einen Verweis auf technische Spezifikationen oder sonstige Vorschriften oder auf Vorschriften betreffend Dienste enthalten, verwiesen wird und deren Einhaltung eine Konformität mit den durch die genannten Rechts- oder Verwaltungsvorschriften festgelegten Bestimmungen vermuten lässt;

…“

4

Art. 8 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 98/34 bestimmte:

„Vorbehaltlich des Artikels 10 übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission unverzüglich jeden Entwurf einer technischen Vorschrift, sofern es sich nicht um eine vollständige Übertragung einer internationalen oder europäischen Norm handelt; in diesem Fall reicht die Mitteilung aus, um welche Norm es sich handelt. Sie unterrichten die Kommission gleichzeitig in einer Mitteilung über die Gründe, die die Festlegung einer derartigen technischen Vorschrift erforderlich machen, es sei denn, die Gründe gehen bereits aus dem Entwurf hervor.“

5

Art. 10 Abs. 1, dritter Gedankenstrich der Richtlinie 98/34 bestimmte:

„Die Artikel 8 und 9 gelten nicht für Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten oder für freiwillige Vereinbarungen, durch die die Mitgliedstaaten

die Schutzklauseln in Anspruch nehmen, die in verbindlichen Gemeinschaftsrechtsakten enthalten sind“.

Richtlinie 98/70

6

Artikel 7a („Minderung der Treibhausgasemissionen“) der Richtlinie 98/70 bestimmt in den Abs. 1 und 2:

„(1)   Die Mitgliedstaaten benennen den/die Anbieter, der/die für die Überwachung und Berichterstattung der Lebenszyklustreibhausgasemissionen pro Energieeinheit aus gelieferten Kraftstoffen oder Energieträgern verantwortlich ist/sind. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Anbieter elektrischen Stroms zur Verwendung in Straßenfahrzeugen die Möglichkeit haben, einen Beitrag zur Minderungsverpflichtung gemäß Absatz 2 zu leisten, wenn sie nachweisen können, dass sie den elektrischen Strom, der zur Verwendung in diesen Fahrzeugen bereitgestellt wird, ordnungsgemäß messen und überwachen können.

Ab dem 1. Januar 2011 legen die Anbieter jährlich den von den einzelnen Mitgliedstaaten benannten Behörden einen Bericht vor, in dem die Treibhausgasintensität der in dem betreffenden Mitgliedstaat gelieferten Kraftstoffe und Energieträger ausgewiesen wird, und geben dabei mindestens Folgendes an:

a)

die Gesamtmenge jedes Typs von geliefertem Kraftstoff und Energieträger unter Angabe des Erwerbsortes und des Ursprungs; und

b)

die Lebenszyklustreibhausgasemissionen pro Energieeinheit.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Berichte überprüft werden.

Die Kommission stellt gegebenenfalls Leitlinien für die Anwendung dieses Absatzes auf.

(2)   Die Mitgliedstaaten verpflichten die Anbieter, die Lebenszyklustreibhausgasemissionen pro Energieeinheit des gelieferten Kraftstoffs oder des Energieträgers bis zum 31. Dezember 2020 so stetig wie möglich um bis zu 10 % gegenüber dem in Absatz 5 Buchstabe b genannten Basiswert für Kraftstoffe zu mindern. Diese Minderung ist folgendermaßen aufgeschlüsselt:

a)

6 % bis zum 31. Dezember 2020. Die Mitgliedstaaten können die Anbieter im Hinblick darauf zu folgenden Zwischenzielen verpflichten: 2 % bis 31. Dezember 2014 und 4 % bis 31. Dezember 2017;

b)

weitere 2 % (Richtwert) bis zum 31. Dezember 2020, vorbehaltlich des Artikels 9 Absatz 1 Buchstabe h; dies ist durch eine oder beide der folgenden Methoden zu erreichen:

i)

Bereitstellung von Energie für den Verkehr, die zur Verwendung in allen Arten von Straßenfahrzeugen, mobilen Maschinen und Geräten (einschließlich Binnenschiffen), land- und forstwirtschaftlichen Zugmaschinen sowie Sportbooten bestimmt ist;

ii)

Einsatz von Verfahren jeglicher Art (einschließlich der Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid), die eine Minderung der Lebenszyklustreibhausgasemissionen pro Energieeinheit des Kraftstoffs oder des Energieträgers ermöglichen;

c)

weitere 2 % (Richtwert) bis zum 31. Dezember 2020, vorbehaltlich des Artikels 9 Absatz 1 Buchstabe i. Diese Minderung ist durch die Verwendung von Gutschriften zu erreichen, die im Rahmen des Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung des Kyoto-Protokolls unter den Bedingungen erworben werden, die in der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft [und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. 2003, L 275, S. 32)] für Minderungen im Bereich der Treibstoffversorgung festgelegt sind.“

Richtlinie 2009/30

7

In den Erwägungsgründen 8 und 9 der Richtlinie 2009/30 heißt es:

„(8)

Der Straßenverkehrssektor ist für etwa 20 % der Treibhausgasemissionen in der Gemeinschaft verantwortlich. Eine Möglichkeit, diese Emissionen zu senken, besteht darin, die Lebenszyklustreibhausgasemissionen bei diesen Kraftstoffen zu verringern. Dazu gibt es verschiedene Wege. Mit Blick auf das Ziel der Gemeinschaft, die Treibhausgasemissionen weiter zu senken, und den bedeutenden Anteil der Emissionen des Straßenverkehrs daran, sollte ein System eingeführt werden, das die Kraftstoffanbieter verpflichtet, die Lebenszyklustreibhausgasemissionen für die von ihnen gelieferten Kraftstoffe mitzuteilen und diese Emissionen ab 2011 zu senken. Die Verfahren zur Berechnung der Lebenszyklustreibhausgasemissionen von Biokraftstoffen sollten mit den in der [Richtlinie 2009/28] festgelegten Verfahren zur Berechnung der Auswirkungen auf den Treibhauseffekt übereinstimmen.

(9)

Die Anbieter sollten bis zum 31. Dezember 2020 die Lebenszyklustreibhausgasemissionen pro Energieeinheit der Kraftstoffe oder Energieträger schrittweise um bis zu 10 % verringern. Diese Verringerung sollte sich bis 31. Dezember 2020 auf mindestens 6 % gegenüber dem EU-Durchschnitt der 2010 pro Energieeinheit aus fossilen Kraftstoffen verursachten Lebenszyklustreibhausgasemissionen belaufen und soll durch die Verwendung von Biokraftstoffen und alternativen Kraftstoffen sowie durch die Verringerung des Abfackelns und des Austritts von Gasen an Förderstätten erreicht werden. Vorbehaltlich einer Überprüfung sollten eine Minderung um weitere 2 %, die durch die Verwendung umweltverträglicher Verfahren zur Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid sowie durch den Einsatz elektrischer Fahrzeuge zu erreichen ist, und eine Minderung um weitere 2 % vorgesehen werden, die durch den Erwerb von Gutschriften im Rahmen des Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung des Kyoto-Protokolls zu erreichen ist. Diese zusätzlichen Minderungen sollten für die Mitgliedstaaten oder die Treibstoffanbieter nicht bei Inkrafttreten dieser Richtlinie rechtskräftig werden. Der unverbindliche Charakter sollte Gegenstand der Überprüfung sein.“

8

Art. 4 („Umsetzung“) der Richtlinie 2009/30 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten setzen die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie spätestens bis zum 31. Dezember 2010 nachzukommen.

Sie setzen die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.

Wenn die Mitgliedstaaten diese Vorschriften erlassen, nehmen sie in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten der Bezugnahme.

(2)   Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission den Wortlaut der innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit, die sie auf dem unter diese Richtlinie fallenden Gebiet erlassen.“

Richtlinie 2009/28

9

Die Richtlinie 2009/28 wurde durch die Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (ABl. 2018, L 328, S. 82) mit Wirkung am 1. Juli 2021 aufgehoben. Wegen des Zeitraums, in dem sich der dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt zugetragen hat, gelten für diesen allerdings noch die Vorschriften der Richtlinie 2009/28.

10

In den Erwägungsgründen 8 und 9 der Richtlinie 2009/28 hieß es:

„(8)

In der Mitteilung der Kommission vom 10. Januar 2007‚Fahrplan für erneuerbare Energien – Erneuerbare Energien im 21. Jahrhundert: größere Nachhaltigkeit in der Zukunft‘ wurde dargelegt, dass 20 % als Ziel für den Gesamtanteil von Energie aus erneuerbaren Quellen und 10 % als Ziel für Energie aus erneuerbaren Quellen im Verkehrssektor angemessene und erreichbare Ziele wären und dass ein Rahmen, der verbindliche Ziele enthält, den Unternehmen die langfristige Sicherheit geben dürfte, die sie benötigen, um vernünftige und nachhaltige Investitionen in den Sektor der erneuerbaren Energie zu tätigen, mit denen die Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen verringert und die Nutzung neuer Energietechnologien gefördert werden kann. Dabei handelt es sich um Ziele im Zusammenhang mit der Erhöhung der Energieeffizienz um 20 % bis 2020, die gemäß der vom Europäischen Rat im März 2007 und vom Europäischen Parlament in seiner Entschließung vom 31. Januar 2008 zu jenem Aktionsplan gebilligten Mitteilung der Kommission vom 19. Oktober 2006 mit dem Titel ‚Aktionsplan für Energieeffizienz: das Potenzial ausschöpfen‘ angestrebt wird.

(9)

Auf der Tagung des Europäischen Rates vom März 2007 wurde die Verpflichtung der Gemeinschaft zum gemeinschaftsweiten Ausbau der Energie aus erneuerbaren Quellen über das Jahr 2010 hinaus erneut bekräftigt. Der Rat billigte ein verbindliches Ziel von 20 % für den Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Gesamtenergieverbrauch in der Gemeinschaft bis 2020 und ein von allen Mitgliedstaaten zu erreichendes verbindliches Mindestziel von 10 % für den Anteil von Biokraftstoffen am Benzin- und Dieselkraftstoffverbrauch bis 2020, das kosteneffizient verwirklicht werden sollte. Er erklärte, der verbindliche Charakter des Biokraftstoffziels sei angemessen, sofern die Herstellung auf nachhaltige Weise erfolge, Biokraftstoffe der zweiten Generation kommerziell zur Verfügung stünden und die [Richtlinie 98/70] geändert würde, um geeignete Beimischungsverhältnisse zu ermöglichen. Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung im März 2008 daran erinnert, dass es von wesentlicher Bedeutung ist, wirksame Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe zu entwickeln und zu erfüllen und die kommerzielle Verfügbarkeit von Biokraftstoffen der zweiten Generation zu gewährleisten. Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung im Juni 2008 erneut auf die Nachhaltigkeitskriterien und die Entwicklung von Biokraftstoffen der zweiten Generation hingewiesen und betont, dass die möglichen Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Lebensmittelproduktion bewertet und gegebenenfalls entsprechende Abhilfemaßnahmen ergriffen werden müssen. Ferner hat er darauf hingewiesen, dass eine weiter gehende Bewertung der ökologischen und sozialen Auswirkungen der Produktion und des Verbrauchs von Biokraftstoffen vorgenommen werden sollte.“

11

Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2009/28 bestimmte:

„Mit dieser Richtlinie wird ein gemeinsamer Rahmen für die Förderung von Energie aus erneuerbaren Quellen vorgeschrieben. In ihr werden verbindliche nationale Ziele für den Gesamtanteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch und für den Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen im Verkehrssektor festgelegt. …“

12

Art. 3 („Verbindliche nationale Gesamtziele und Maßnahmen auf dem Gebiet der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen“) der Richtlinie 2009/28 bestimmte in Abs. 4:

„(4) Jeder Mitgliedstaat gewährleistet, dass sein Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen bei allen Verkehrsträgern im Jahr 2020 mindestens 10 % seines Endenergieverbrauchs im Verkehrssektor entspricht.

…“

13

Die Richtlinie 2009/28 in ihrer letzten gültigen Fassung war durch die Richtlinie (EU) 2015/1513 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 (ABl. 2015, L 239, S. 1) geändert worden, die in Art. 4 Abs. 1 bestimmte, dass die Mitgliedstaaten die durch sie erfolgten Änderungen bis zum 10. September 2017 umzusetzen und die Kommission von jeder Umsetzungsmaßnahme unverzüglich in Kenntnis zu setzen haben.

Portugiesisches Recht

14

Art. 11 des Decreto-Lei Nr. 117/2010 (gesetzesvertretende Verordnung Nr. 117/2010) vom 25. Oktober 2010 in der durch das Decreto-Lei Nr. 6/2012 (gesetzesvertretende Verordnung Nr. 6/2012) vom 17. Januar 2012 geänderten Fassung (im Folgenden: gesetzesvertretende Verordnung Nr. 117/2010) bestimmt in Abs. 1:

„Unternehmen, die unter Vorlage der Erklärungen über die Überführung in den freien Verkehr gemäß dem Verbrauchssteuergesetzbuch, angenommen durch das Decreto-Lei Nr. 73/2010 vom 21. Juni 2010, geändert durch das Gesetz Nr. 55-A/2010 vom 31. Dezember 2010, Straßenverkehrskraftstoffe in den freien Verkehr überführen, … sind verpflichtet, in Höhe der folgenden Anteile von Biokraftstoffen (Energiegehalt) an den von ihnen in den freien Verkehr überführten Mengen an Straßenverkehrskraftstoffen außer Flüssiggas (LPG) und Erdgas zur Einhaltung der Beimischungsziele beizutragen.

a)

2011 und 2012 – 5,0 %;

b)

2013 und 2014 – 5,5 %;

c)

2015 und 2016 – 7,5 %;

d)

2017 und 2018 – 9,0 %;

e)

2019 und 2020 – 10,0 %.“

15

In der Präambel der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 6/2012 heißt es: „Mit der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 117/2010 …, mit der die [Richtlinie 2009/28] und die [Richtlinie 2009/30] teilweise in nationales Recht umgesetzt werden, werden die Kriterien für die Nachhaltigkeit der Erzeugung und Verwendung von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen, die Mechanismen zur Förderung von Biokraftstoffen im Landverkehr und die Grenzen für die vorgeschriebene Beimischung von Biokraftstoffen festgelegt“.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16

Vapo Atlantic ist in Portugal auf dem Markt für Kraftstoffe tätig.

17

Die Gesellschaft hat den steuerlichen Status eines registrierten Empfängers und erfüllt deshalb nicht die gesetzlichen Voraussetzungen, um den Straßenverkehrskraftstoffen, die sie in Portugal in den freien Verkehr überführt, physisch Biokraftstoffe beizumischen. Sie bezieht die Straßenverkehrskraftstoffe, die sie in Portugal in den freien Verkehr überführt, deshalb bei einer in Spanien ansässigen Gesellschaft. Die Kraftstoffe enthalten Biokraftstoffe zu einem Anteil, wie er den spanischen Rechtsvorschriften entspricht.

18

Vapo Atlantic legte der ENSE keine Nachweise für die Genehmigung des freiwilligen Zertifizierungssystems des Unternehmens, von dem sie die Straßenverkehrskraftstoffe in Spanien bezieht, durch die Europäische Kommission vor.

19

Im zweiten Quartal 2020 überführte Vapo Atlantic 7582 Tonnen Straßenverkehrskraftstoffe in den freien Verkehr.

20

Die ENSE stellte fest, dass Vapo Atlantic keine Zertifikate für die Biokraftstoffe besitze, obwohl sie, um nachzuweisen, dass sie der Verpflichtung nachgekommen sei, den Straßenverkehrskraftstoffen, die sie im zweiten Quartal 2020 in den freien Verkehr überführt habe, 10 % Biokraftstoffe beigemischt habe, nach der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 117/2010 mindestens 758 Zertifikate hätte besitzen müssen.

21

Die ENSE erließ deshalb einen Bescheid, mit dem Vapo Atlantic verpflichtet wurde, als finanziellen Ausgleich 908084 Euro zu zahlen, weil sie nicht nachgewiesen habe, dass sie den Straßenverkehrskraftstoffen, die sie im zweiten Quartal 2020 in den freien Verkehr überführt habe, Biokraftstoffe beigemischt habe, und damit gegen Art. 11 Abs. 1 der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 117/2010 verstoßen habe.

22

Vapo Atlantic erhob gegen diesen Bescheid beim Tribunal Administrativo e Fiscal de Braga (Verwaltungs- und Finanzgericht Braga, Portugal), dem vorlegenden Gericht, Klage.

23

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Kommission der Entwurf der innerstaatlichen Rechtsvorschrift, auf die oben in Rn. 21 Bezug genommen wird, offenbar nicht vor deren Bekanntmachung und Inkrafttreten übermittelt worden sei.

24

Die Fragen des vorlegenden Gerichts betreffen hauptsächlich die Auslegung der Richtlinie 98/34. Es geht darum, ob es sich bei der betreffenden innerstaatlichen Rechtsvorschrift um eine „technische Vorschrift“ handelt, die der Kommission hätte übermittelt werden müssen.

25

Das vorlegende Gericht fragt sich als Erstes, ob Art. 11 Abs. 1 der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 117/2010, in dem lediglich festgelegt werde, in welchem Umfang Straßenverkehrskraftstoffen, die in den freien Verkehr überführt würden, Biokraftstoffe beizumischen seien, ohne dass irgendein Merkmal dieser Biokraftstoffe bestimmt würde, als „technische Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 98/34 anzusehen ist, insbesondere, ob es sich um eine „sonstige Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 98/34 handelt.

26

Als Zweites möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 11 Abs. 1 der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 117/2010 als „vollständige Übertragung einer … europäischen Norm“ unter die Ausnahme gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 fallen kann. Nach Artikel 7a Abs. 2 der Richtlinie 98/70 seien die Mitgliedstaaten nämlich verpflichtet, die Anbieter zu verpflichten, die Treibhausgasemissionen so stetig wie möglich um bis zu 10 % mindern.

27

Als Drittes möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 11 Abs. 1 der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 117/2010 unter Art. 10 Abs. 1, dritter Gedankenstrich der Richtlinie 98/34 fällt, und zwar im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2009/30 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2015/1513. Bei den beiden letztgenannten Bestimmungen könne es sich nämlich um „Schutzklauseln …, die in verbindlichen Gemeinschaftsrechtsakten enthalten sind“, im Sinne von Art. 10 Abs. 1, dritter Gedankenstrich der Richtlinie 98/34 handeln.

28

Als Viertes möchte das vorlegende Gericht hilfsweise wissen, welche Folgen ein Verstoß gegen die Verpflichtung gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 zur Übermittlung des Entwurfs einer Vorschrift hat. Das vorlegende Gericht erkennt an, dass die fehlende Übermittlung nationaler Rechtsvorschriften gemäß dieser Bestimmung grundsätzlich dazu führt, dass diese Einzelnen nicht entgegengehalten werden können. Es hat insoweit aber Bedenken, da eine solche Auslegung bedeuten würde, dass die Verpflichtung, Straßenverkehrskraftstoffen, die in den freien Verkehr überführt werden, Biokraftstoffe beizumischen, allgemein nicht beachtet und damit nicht nur das nationale, sondern auch das europäische Ziel der Minderung der Treibhausgasemissionen und der Förderung erneuerbarer Energien verfehlt würde.

29

Das Tribunal Administrativo e Fiscal de Braga (Verwaltungs- und Finanzgericht Braga) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 1 Nr. 3 der Richtlinie 98/34 dahin auszulegen, dass die Festlegung des Biokraftstoffanteils, den ein Wirtschaftsteilnehmer gemäß dem durch die Richtlinie 2009/30 eingeführten Art. 7a der Richtlinie 98/70 und im Einklang mit dem in Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/28 genannten Ziel den von ihm in den freien Verkehr überführten Kraftstoffen beimischen muss – wie sie in den in Rede stehenden nationalen Vorschriften erfolgt ist –, für die Zwecke des Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie dem Begriff „sonstige Vorschrift“ entspricht?

2.

Ist Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34, soweit es dort heißt „sofern es sich nicht um eine vollständige Übertragung einer internationalen oder europäischen Norm handelt“ dahin auszulegen, dass er eine nationale Rechtsvorschrift ausschließt, die nach dem durch die Richtlinie 2009/30 eingeführten Art. 7a Abs. 2 der Richtlinie 98/70 und im Einklang mit dem in Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/28 genannten Ziel die Prozentsätze der Beimischung von Biokraftstoffen festlegt?

3.

Sind Art. 4 Abs. 1, zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2009/30 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2015/1513 dahin auszulegen, dass sie in verbindlichen Gemeinschaftsrechtsakten enthaltene Schutzklauseln im Sinne von Art. 10 Abs. 1, dritter Spiegelstrich der Richtlinie 98/34 darstellen?

4.

Für den Fall, dass sich die Beantwortung nicht aufgrund der vorangegangenen Antworten erübrigt: Ist Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 dahin auszulegen, dass er bewirkt, dass eine nationale Vorschrift wie die im vorliegenden Verfahren in Rede stehende, die in Umsetzung des durch die Richtlinie 2009/30 eingefügten Art. 7a Abs. 2 der Richtlinie 98/70 den Prozentsatz der Beimischung von Biokraftstoffen festlegt, auf einen Wirtschaftsteilnehmer nicht angewendet werden kann?

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

30

Die ENSE hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig. Der Wortlaut der Vorschriften, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersuche, sei eindeutig. Es gebe deshalb keine zweifelhaften Punkte, die einer Klärung bedürften.

31

Nach ständiger Rechtsprechung ist es in dem Verfahren gemäß Art. 267 AEUV allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die Vorlagefragen einen unmittelbaren Bezug zum Ausgangsrechtsstreit aufweisen und für die Entscheidung des Rechtsstreits durch das vorlegende Gericht erheblich sind. Das Vorabentscheidungsersuchen enthält auch genügend Angaben, um die Tragweite der Vorlagefragen erfassen und die Vorlagefragen angemessen beantworten zu können.

33

Abgesehen davon ist es einem nationalen Gericht keineswegs untersagt, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, deren Beantwortung nach Auffassung einer der Parteien des Ausgangsverfahrens keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt. Daher ist ein Vorabentscheidungsersuchen mit solchen Fragen, selbst wenn dem so sein sollte, nicht schon deshalb unzulässig (Urteil vom 14. Oktober 2021, Viesgo Infraestructuras Energéticas, C‑683/19, EU:C:2021:847, Rn. 26).

34

Das Vorabentscheidungsersuchen ist mithin zulässig.

Zu den Vorlagefragen

Zu den Fragen 1 und 4

35

Zunächst ist festzustellen, dass Vapo Atlantic im Ausgangsrechtsstreit verpflichtet wurde, einen finanziellen Ausgleich zu leisten, weil sie dadurch gegen Art. 11 Abs. 1 der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 117/2010 verstoßen habe, dass sie ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen sei, Zertifikate vorzulegen, aus denen hervorgehe, dass sie den Straßenverkehrskraftstoffen, die sie im zweiten Quartal 2020 in den freien Verkehr überführt habe, Biokraftstoffe beigemischt habe.

36

Frage 1 bezieht sich zwar ausdrücklich auf Art. 1 Nr. 3 der Richtlinie 98/34. Aus ihrem Wortlaut geht aber hervor, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die Verpflichtung, die mit der innerstaatlichen Rechtsvorschrift auferlegt wird, unter den Begriff „sonstige Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 98/34 fällt und damit eine „technische Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 98/34 darstellt.

37

Mit den Fragen 1 und 4 – es bietet sich an, diese beiden Fragen zusammen zu prüfen – möchte das vorlegende Gericht daher im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 98/34 dahin auszulegen ist, dass eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, mit der das Ziel festgelegt wird, dass Straßenverkehrskraftstoffen, die von einem Wirtschaftsteilnehmer in einem bestimmten Jahr in den freien Verkehr überführt werden, 10 % Biokraftstoffe beigemischt werden sollen, unter den Begriff „sonstige Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 98/34 fällt und damit eine „technische Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 98/34 darstellt, die Einzelnen nur entgegengehalten werden kann, wenn der Entwurf der Vorschrift der Kommission gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 übermittelt wurde.

38

Als Erstes ist festzuhalten, dass der Begriff „sonstige Vorschrift“ in Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 98/34 definiert ist als eine „Vorschrift für ein Erzeugnis, die keine technische Spezifikation ist und insbesondere zum Schutz der Verbraucher oder der Umwelt erlassen wird und den Lebenszyklus des Erzeugnisses nach dem Inverkehrbringen betrifft, wie Vorschriften für Gebrauch, Wiederverwertung, Wiederverwendung oder Beseitigung, sofern diese Vorschriften die Zusammensetzung oder die Art des Erzeugnisses oder seine Vermarktung wesentlich beeinflussen können“.

39

Nach ständiger Rechtsprechung fällt in diese Kategorie eine Regelung, die eine Vorschrift festlegt, die die Zusammensetzung, die Art oder die Vermarktung des betreffenden Erzeugnisses wesentlich beeinflussen kann, wobei diese „sonstigen Vorschriften“ die Anforderungen erfassen, die aus der Berücksichtigung des Lebenszyklus des in Rede stehenden Erzeugnisses nach dessen Inverkehrbringen entstehen und sich insbesondere auf seinen Gebrauch beziehen (Urteil vom 28. Mai 2020, ECO-WIND Construction, C‑727/17, EU:C:2020:393, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Im vorliegenden Fall beziehen sich die Fragen des vorlegenden Gerichts auf eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die von den Wirtschaftsteilnehmern, die Straßenverkehrskraftstoffe außer LPG und Erdgas in den freien Verkehr überführen, verlangt, dass sie einen Beitrag zur Erreichung des Ziels leisten, dass den jährlichen Mengen an Straßenverkehrskraftstoffen, die von ihnen in den freien Verkehr überführt werden, Biokraftstoffe beigemischt werden, und zwar in Höhe von 10 % im Jahr 2020. In der Rechtsvorschrift wird zwar nicht angegeben, auf welche Art von Straßenverkehrskraftstoff sie sich bezieht, zu welchem Anteil Straßenverkehrskraftstoffen Biokraftstoffe physisch beigemischt werden sollen und welche Art von Biokraftstoff beigemischt werden soll. Die Verpflichtung, die sie zum Schutz der Umwelt vorsieht, betrifft aber den Lebenszyklus der Straßenverkehrskraftstoffe nach dem Inverkehrbringen und kann deren Vermarktung insoweit wesentlich beeinflussen, als ein Verstoß gegen die in der Vorschrift vorgesehene Verpflichtung zur Beimischung von Biokraftstoffen zur Auferlegung eines finanziellen Ausgleichs führen kann.

41

Eine nationale Rechtsvorschrift, mit der das Ziel festgelegt wird, dass Straßenverkehrskraftstoffen, die von einem Wirtschaftsteilnehmer in den freien Verkehr überführt werden, zu einem Anteil von 10 % Biokraftstoffe beigemischt werden, fällt mithin unter den Begriff „sonstige Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 98/34 und stellt damit eine „technische Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 98/34 dar.

42

Als Zweites ist festzustellen, dass die Richtlinie 98/34 nach ständiger Rechtsprechung durch eine vorbeugende Kontrolle den freien Warenverkehr schützen soll, der zu den Grundlagen der Union gehört. Diese Kontrolle ist insofern sinnvoll, als unter die Richtlinie fallende technische Vorschriften möglicherweise Beschränkungen des Warenaustauschs zwischen Mitgliedstaaten darstellen, die nur zugelassen werden können, wenn sie notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen zu genügen, mit denen ein im allgemeinen Interesse liegendes Ziel verfolgt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. April 1996, CIA Security International, C‑194/94, EU:C:1996:172, Rn. 40, und vom 19. Juli 2012, Fortuna u. a., C‑213/11, C‑214/11 und C‑217/11, EU:C:2012:495, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 sind Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet, der Kommission unverzüglich jeden Entwurf einer technischen Vorschrift zu übermitteln. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt ein Verstoß gegen die Übermittlungsverpflichtung gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 einen wesentlichen Verfahrensfehler dar, der zur Unanwendbarkeit der betreffenden technischen Vorschriften führen kann, so dass diese Einzelnen nicht entgegengehalten werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 1996, CIA Security International, C‑194/94, EU:C:1996:172, Rn. 54).

44

Somit ist auf die Fragen 1 und 4 zu antworten, dass Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 98/34 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Rechtsvorschrift, mit der das Ziel festgelegt wird, dass Straßenverkehrskraftstoffen, die von einem Wirtschaftsteilnehmer in einem bestimmten Jahr in den freien Verkehr überführt werden, zu einem Anteil von 10 % Biokraftstoffe beigemischt werden sollen, unter den Begriff „sonstige Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 98/34 fällt und damit eine „technische Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 98/34 darstellt, die Einzelnen nur entgegengehalten werden kann, wenn der Entwurf der Vorschrift der Kommission gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 übermittelt worden ist.

Zu Frage 2

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Mit Frage 2 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 dahin auszulegen ist, dass es sich bei einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift, die im Einklang mit dem in Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/28 genannten Ziel der Umsetzung von Artikel 7a Abs. 2 der Richtlinie 98/70 dient, um eine vollständige Übertragung einer europäischen Norm im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 handeln kann, für die die in dieser Bestimmung vorgesehene Verpflichtung zur Übermittlung nicht gilt.

46

Nach Art. 1 Nr. 6 der Richtlinie 98/34 ist unter einer „Norm“ im Sinne dieser Richtlinie eine technische Spezifikation zu verstehen, die von einem anerkannten Normungsgremium angenommen wurde, deren Einhaltung jedoch nicht zwingend vorgeschrieben ist und die unter die Kategorie internationale Norm, europäische Norm oder nationale Norm fällt. Eine „europäische Norm“ ist in Art. 1 Nr. 6 der Richtlinie 98/34 definiert als Norm, die von einem europäischen Normungsgremium angenommen wird und der Öffentlichkeit zugänglich ist.

47

Danach fallen unter den Begriff „europäische Norm“ im Kontext der technischen Vorschriften, speziell der Richtlinie 98/34, nur Normen, die von einem europäischen Normungsgremium angenommen werden.

48

Es ergibt sich aber weder aus Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/28 noch aus Artikel 7a Abs. 2 der Richtlinie 98/70, dass der Unionsgesetzgeber mit diesen Bestimmungen „europäische Normen“ im Sinne von Art. 1 Nr. 6 der Richtlinie 98/34 erlassen hätte.

49

Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/28 – in Verbindung mit den Erwägungsgründen 8 und 9 und Art. 1 der Richtlinie – legt lediglich das verbindliche Ziel fest, dass der Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen bei allen Verkehrsträgern im Jahr 2020 in jedem Mitgliedstaat mindestens 10 % des Endenergieverbrauchs im Verkehrssektor entspricht, wobei den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Maßnahmen, die sie für geeignet halten, um dieses Ziel zu erreichen, ein Gestaltungsspielraum eingeräumt wird.

50

In Artikel 7a Abs. 2 der Richtlinie 98/70 kommt der Wille des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck, die Lebenszyklustreibhausgasemissionen pro Energieeinheit des gelieferten Kraftstoffs oder Energieträgers um bis zu 10 % zu mindern. Wie aus dieser Bestimmung in Verbindung mit den Erwägungsgründen 8 und 9 der Richtlinie 2009/30 hervorgeht, verfügen die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Mittel zur Erreichung dieser Minderung – Verwendung von Biokraftstoffen oder alternativen Kraftstoffen oder Verringerung des Abfackelns – jedoch über einen Gestaltungsspielraum.

51

Folglich wird weder durch Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/28 noch durch Art. 7a Abs. 2 der Richtlinie 98/70 eine Vorschrift im Sinne von Art. 1 Nr. 6 der Richtlinie 98/34 festgelegt.

52

Somit ist auf Frage 2 zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 dahin auszulegen ist, dass es sich bei einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift, die im Einklang mit dem in Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/28 genannten Ziel der Umsetzung von Art. 7a Abs. 2 der Richtlinie 98/70 dient, nicht um eine vollständige Übertragung einer europäischen Norm im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 handeln kann, für die die in dieser Bestimmung vorgesehene Verpflichtung zur Übermittlung nicht gilt.

Zu Frage 3

53

Zunächst ist festzustellen, dass die innerstaatliche Rechtsvorschrift, um die es im Ausgangsverfahren geht, am 18. Januar 2012 in Kraft getreten ist, die Richtlinie 2015/1513 auf die sich Frage 3 bezieht, nach ihrem Art. 5 hingegen erst am 5. Oktober 2015. Bei der Antwort auf Frage 3 ist die Richtlinie 2015/1513 daher nicht zu berücksichtigen.

54

Deshalb ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit Frage 3 im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2009/30 dahin auszulegen ist, dass es sich bei dieser Bestimmung um eine in einem verbindlichen Unionsrechtsakt enthaltene Schutzklausel im Sinne von Art. 10 Abs. 1, dritter Gedankenstrich der Richtlinie 98/34 handelt.

55

In Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 der Richtlinie 2009/30 wird den Mitgliedstaaten lediglich eine Frist zur Umsetzung der Richtlinie gesetzt, nämlich spätestens bis zum 31. Dezember 2010, und zwar mit den erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, wobei die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis zu setzen. Und Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2009/30 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie diese Vorschriften erlassen, auf die Richtlinie 2009/30 Bezug nehmen.

56

Es gibt im Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2009/30 aber keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Unionsgesetzgeber in die Richtlinie eine Schutzklausel im Sinne von Art. 114 Abs. 10 AEUV hätte aufnehmen wollen, von der die Mitgliedstaaten hätten Gebrauch machen können.

57

Nach Art. 114 Abs. 10 AEUV sind die Harmonisierungsmaßnahmen in geeigneten Fällen mit einer Schutzklausel verbunden, welche die Mitgliedstaaten ermächtigt, aus einem oder mehreren der in Art. 36 AEUV genannten nicht wirtschaftlichen Gründe vorläufige Maßnahmen zu treffen, die einem Kontrollverfahren der Union unterliegen. Eine solche Schutzklausel muss in dem betreffenden Harmonisierungsrechtsakt mithin ausdrücklich vorgesehen sein. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2009/30 erfüllt diese Voraussetzungen aber nicht und kann daher keine solche Schutzklausel darstellen.

58

Somit ist auf Frage 3 zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2009/30 dahin auszulegen ist, dass es sich bei dieser Bestimmung nicht um eine in einem verbindlichen Unionsrechtsakt enthaltene Schutzklausel im Sinne von Art. 10 Abs. 1, dritter Gedankenstrich der Richtlinie 98/34 handelt.

Kosten

59

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft in der durch die Richtlinie 2006/96/EG des Rates vom 20. November 2006 geänderten Fassung

ist wie folgt auszulegen:

Eine nationale Rechtsvorschrift, mit der das Ziel festgelegt wird, dass Straßenverkehrskraftstoffen, die von einem Wirtschaftsteilnehmer in einem bestimmten Jahr in den freien Verkehr überführt werden, zu einem Anteil von 10 % Biokraftstoffe beigemischt werden sollen, fällt unter den Begriff „sonstige Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 98/34 in der geänderten Fassung und stellt damit eine „technische Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 98/34 in der geänderten Fassung dar, die Einzelnen nur entgegengehalten werden kann, wenn der Entwurf der Vorschrift der Kommission gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 in der geänderten Fassung übermittelt worden ist.

 

2.

Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 in der durch die Richtlinie 2006/96 geänderten Fassung

ist wie folgt auszulegen:

Bei einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift, die im Einklang mit dem in Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG genannten Ziel der Umsetzung von Art. 7a Abs. 2 der Richtlinie 98/70/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über die Qualität von Otto- und Dieselkraftstoffen und zur Änderung der Richtlinie 93/12/EWG des Rates in der durch die Richtlinie 2009/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 geänderten Fassung dient, kann es sich nicht um eine vollständige Übertragung einer europäischen Norm im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 in der geänderten Fassung handeln, für die die in dieser Bestimmung vorgesehene Verpflichtung zur Übermittlung nicht gilt.

 

3.

Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2009/30

ist wie folgt auszulegen:

Bei dieser Bestimmung handelt es sich nicht um eine in einem verbindlichen Unionsrechtsakt enthaltene Schutzklausel im Sinne von Art. 10 Abs. 1, dritter Gedankenstrich der Richtlinie 98/34 in der durch die Richtlinie 2006/96 geänderten Fassung.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Portugiesisch.