52002AE0687

Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem "Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Verbesserung des Zugangs zum Recht bei Streitsachen mit grenzübergreifendem Bezug durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften für die Prozesskostenhilfe und für andere mit Zivilverfahren verbundene finanzielle Aspekte" (KOM(2002) 13 endg. — 2002/0020 (CNS))

Amtsblatt Nr. C 221 vom 17/09/2002 S. 0064 - 0067


Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem "Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Verbesserung des Zugangs zum Recht bei Streitsachen mit grenzübergreifendem Bezug durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften für die Prozesskostenhilfe und für andere mit Zivilverfahren verbundene finanzielle Aspekte"

(KOM(2002) 13 endg. - 2002/0020 (CNS))

(2002/C 221/15)

Der Rat beschloss am 6. Februar 2002, den Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem vorgenannten Vorschlag zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 13. Mai 2002 an. Alleinberichterstatter war Herr Cavaleiro Brandão.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 391. Plenartagung am 29. und 30. Mai 2002 (Sitzung vom 29. Mai) mit 109 gegen 1 Stimme folgende Stellungnahme.

1. Ziele des Vorschlags

1.1. Im Anschluss an das Grünbuch über die Prozesskostenhilfe(1) in Zivilsachen (Februar 2000) und eine Anhörung der nationalen Sachverständigen und der betreffenden Berufsgruppen (Februar 2001) hat die Kommission am 18. Januar 2002 einen Richtlinienvorschlag zur Einführung eines kostenlosen europäischen Prozesskostenhilfesystems für Zivilstreitsachen mit grenzübergreifendem Bezug vorgelegt, um die den Bürgern zur Verfügung stehenden Rechtsmittel zu stärken und ihr Recht auf Zugang zur Justiz zu gewährleisten.

1.2. Als Rechtsgrundlage ihres Vorschlags führt die Kommission Artikel 61 Buchstabe c des EG-Vertrags an, wo das Ziel des schrittweisen Aufbaus eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts genannt und vorgesehen ist, dass der Rat zu diesem Zweck Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen ergreift, welche gemäß Artikel 65 Buchstabe c Maßnahmen zur Beseitigung der Hindernisse für eine reibungslose Abwicklung von Zivilverfahren umfassen.

1.3. Dem Vorschlag zufolge kann jeder, der als Kläger oder Beklagter an einem Zivilverfahren beteiligt ist und nicht über ein genügendes Einkommen verfügt, einen Anwalt in Anspruch nehmen und sich von ihm kostenlos vor Gericht vertreten lassen. Die Unterstützung umfasst auch die gesamte Vorbereitung des Gerichtsverfahrens und die außergerichtlichen Verfahren. Der Staat, in dem sich das Gericht befindet, übernimmt die Prozesskostenhilfe einschließlich der Kosten, die durch den grenzüberschreitenden Bezug des Rechtsstreits entstehen, wie z. B. Dolmetsch-, Übersetzungs- und Reisekosten. Der Staat, in dem der Kläger seinen Wohnsitz hat, trägt die Honorarkosten des Anwalts vor Ort, namentlich während der Vorbereitung des Gerichtsverfahrens. Eine etwaige Ablehnung eines Antrags auf Kostenhilfe muss begründet werden. Das System wird durch ein Netz von Stellen verwaltet, die auf der Ebene jedes Mitgliedstaats ausgewählt werden und befugt sind, die Anträge auf Prozesskostenhilfe zu versenden und zu empfangen. Die Kommission erstellt auch ein Standardformular für die Übermittlung der Anträge.

2. Allgemeine Bemerkungen

2.1. Der Ausschuss begrüßt den Kommissionsvorschlag sehr.

2.2. Die zunehmende europäische Integration und die damit einhergehende Verdichtung des Netzes persönlicher, wirtschaftlicher, kommerzieller und unternehmerischer Beziehungen hat nämlich zu einem starken Anstieg der Streitsachen mit grenzübergreifendem Bezug geführt.

2.3. Diese Streitsachen betreffen nicht nur Großunternehmen. Viel häufiger haben Kleinunternehmen und Privatpersonen mit Rechtsfragen und -problemen zu tun, die über die Grenzen des Mitgliedstaats, aus dem sie kommen oder in dem sie leben, hinausreichen.

2.4. Ein Bürger oder ein Unternehmen, der/das in einem anderen Mitgliedstaat Rechte verteidigen oder geltend machen will, hat mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. Noch erheblich größere Probleme stellen sich Personen, die nicht über ausreichende Finanzmittel verfügen und daher staatliche Prozesskostenhilfe benötigen.

2.5. Ein Bürger, gegen den im Ausland ein Gerichtsverfahren läuft oder der ein solches im Ausland anstrengen möchte, kann in drei Phasen Prozesskostenhilfe benötigen: 1. bei der Rechtsberatung vor dem Gerichtsverfahren; 2. für die Unterstützung durch einen Anwalt während des Verfahrens und die Befreiung von den Gerichtskosten; und 3. für die Unterstützung bei der Erklärung der Vollstreckbarkeit eines ausländischen Urteils oder direkt bei der Vollstreckung dieses Urteils(2).

2.6. Der in eine grenzüberschreitende Streitsache verwickelte Antragsteller sieht sich Schwierigkeiten gegenüber, die auf Unterschieden zwischen den einzelstaatlichen Rechtsordnungen, insbesondere hinsichtlich Art und Umfang der Prozesskostenhilfe und bezüglich der Anspruchsvoraussetzungen, beruhen.

2.7. Der Ausschuss unterstützt deshalb das Ziel der Kommission, mit diesem Vorschlag einerseits zu gewährleisten, dass der Antragsteller so behandelt wird, als wäre er im Staat des Gerichtsstands wohnhaft, und andererseits sicherzustellen, dass die durch den grenzübergreifenden Bezug der Streitsache bedingten Schwierigkeiten keine Hindernisse für die Gewährung von Prozesskostenhilfe darstellen.

2.8. Der Ausschuss begrüßt ferner die Wahl einer Richtlinie als ein zweckdienliches Rechtsinstrument, das zur Schaffung eines auf dem Gipfel von Tampere ausdrücklich geforderten europäischen Raums der Freiheit, Sicherheit und des Rechts beiträgt, indem es Verfahren für die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten einrichtet und gemeinsame Mindestvorschriften festlegt. Ein Abkommen als rechtliche Lösung erscheint als Alternative zur Richtlinie angesichts des relativ geringen Erfolges des Haager Abkommens von 1980 nicht angezeigt.

2.9. Ziel dieses Vorschlags ist der "Zugang zum Recht bei Streitsachen mit grenzübergreifendem Bezug", doch geht es namentlich unter Ziffer 3 Absatz 2 der Begründung auch um "die Festlegung gemeinsamer Mindestnormen [zur Harmonisierung] bestimmter einzelstaatlicher Vorschriften" der Mitgliedstaaten. Die sich daraus möglicherweise ergebenden Zweifel hinsichtlich des Gegenstands des Vorschlags müssen ausgeräumt werden. Gleichwohl spricht sich der Ausschuss nicht gegen die angeführte Rechtsgrundlage aus.

3. Besondere Bemerkungen

3.1. In Artikel 3 Absatz 1 wird das allgemeine Ziel des Richtlinienvorschlags definiert. Demzufolge soll eine Person Anspruch auf angemessene Prozesskostenhilfe haben, wenn sie nicht über ausreichende Finanzmittel verfügt. Der Ausschuss unterstützt dieses Ziel uneingeschränkt.

3.2. Artikel 3 Absatz 2 sieht vor, dass die konkrete Unterstützung durch einen Rechtsanwalt und/oder "eine andere zur Vertretung vor Gericht gesetzlich befugte Person" erfolgen kann. Diese Alternativlösung erscheint bedenklich. Die rechtlichen Interessen eines Bürgers werden besser durch zu diesem Zweck ausgebildete, organisierte und spezialisierte Fachleute, d. h. Anwälte, vertreten. Mithin ist es fraglich, ob ein solcher entbehrlicher Hinweis auf vage umschriebene Ersatzlösungen den Interessen der Bürger dient.

3.3. Der Zugang zu den Gerichten ist ein Grundrecht, das allen Bürgern gewährt werden muss, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat haben, so wie dies im Haager Abkommen vom 25. Oktober 1980 über die Erleichterung des internationalen Zugangs zu den Gerichten empfohlen wird.

3.4. Artikel 6 überträgt das Prinzip der Nichtdiskriminierung auf Drittstaatsangehörige. Dies entspricht den Leitlinien des Ausschusses, der diesen Artikel folglich begrüßt.

3.5. Da der Zugang zur Justiz ein Grundrecht ist, bringt der Ausschuss jedoch seine Bedenken darüber zum Ausdruck, dass der Anwendungsbereich des vorgenannten Prinzips insofern eingeschränkt wird, als Drittstaatsangehörige, deren Aufenthaltsstatus möglicherweise nicht legal ist, ausgeschlossen werden.

3.6. Gemäß Artikel 7 Absatz 1 "sollte die Prozesskostenhilfe sinnvollerweise auch die Kosten für die [...] Vollstreckung des Urteils einschließen", wenn diese in dem Staat des Gerichtsstandes stattfindet. Diese Unterstützung muss jedoch noch weitergehen und auch gelten, wenn die Vollstreckung in einem anderen Staat stattfindet (so wenn Eigentum des Verurteilten betroffen ist, das sich in diesem anderen Staat befindet).

3.7. Artikel 12 bezieht sich auf das Dringlichkeitsverfahren. Es wird vorgeschlagen, dass Anträge in diesem Zusammenhang "innerhalb einer angemessenen Frist vor der Verhandlung" geprüft werden. Der Begriff "angemessene Frist vor der Verhandlung", der in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich aufgefasst werden kann, ist kein Garant für einen raschen Beschluss. Es wäre besser, eine konkrete Hoechstfrist festzulegen.

3.8. Die Regelung der Prozesskostenhilfe sollte auch in den in Artikel 13 Absatz 4 beschriebenen Fällen gelten. Diese Fälle stellen keine wirkliche Alternative zum vorgeschlagenen System dar, weil die dabei zugrunde gelegte Vermutung ("es wird davon ausgegangen, dass der Antragsteller die Prozesskosten tragen kann") nicht objektiv genug ist.

3.9. Das von der Kommission vorgeschlagene Systeme der Prozesskostenhilfe bezieht sich augenscheinlich auf natürliche Personen. Der Ausschuss begrüßt die Tatsache, dass der Geltungsbereich in Artikel 15 auf juristische Personen ohne Erwerbszweck ausgeweitet wird.

3.10. Der Ausschuss ist jedoch der Ansicht, dass das Recht zur Beantragung von Prozesskostenhilfe auch jenen Unternehmen zustehen muss, die ihre Rechte als Kläger oder Beklagte vor Gericht aufgrund ihrer nachweislich schlechten wirtschaftlichen Situation andernfalls nicht wahrnehmen könnten. Tatsächlich werden Unternehmen in den nationalen Systemen der Prozesskostenhilfe der meisten Mitgliedstaaten berücksichtigt. Deshalb erscheint es unverständlich, dass sie von einem europäischen System ausgeschlossen und durch dieses diskriminiert werden.

3.11. Der Ausschuss unterstützt ausdrücklich die Ausdehnung der Vorschriften über Rechtskostenhilfe auf alternative Verfahren zur Streitbeilegung, da es sich um zunehmend zweckdienliche und schnelle Verfahren handelt, die als solche verstärkt in die Rechtssysteme integriert werden bzw. werden müssen. Man muss sich vor Augen halten, dass der Fortbestand eines Unternehmens und die Erhaltung seiner Arbeitsplätze davon abhängen können, ob es in der Lage ist, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen.

3.12. Der Ausschuss wiederholt an dieser Stelle zwei Empfehlungen aus seiner Stellungnahme zum Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über die Einrichtung eines Europäischen Justiziellen Netzes für Zivil- und Handelssachen(3).

3.12.1. Einerseits wäre die Festlegung einer gemeinsamen "Verkehrssprache" im Hinblick auf die sprachlichen Schwierigkeiten, die im Rahmen der Beziehungen der für die Kommunikation zwischen den nationalen Gerichtsbarkeiten zuständigen Stellen entstehen können, von großem Vorteil.

3.12.2. Andererseits muss im Hinblick auf die Kohärenz und Einheitlichkeit des Kommunikationssystems im Rahmen der internationalen Kontakte auch die Kompatibilität der eingesetzten Computerhardware und -software gewährleistet sein.

3.13. Schließlich ist der Ausschuss der Ansicht, dass der Erfolg des künftigen Systems von seiner Verbreitung und Bekanntheit bei den Bürgern und den betroffenen Fachleuten abhängt. Über die Informationen hinaus sind Bildungsmaßnahmen für diese Fachleute notwendig. Es handelt sich hier um Lücken im Richtlinienvorschlag, die es zu schließen gilt.

4. Zusammenfassung

4.1. Der Ausschuss begrüßt den gesamten Kommissionsvorschlag nachdrücklich, insbesondere seine strukturierend wirkenden Ziele:

- Unzureichende Mittel einer Partei, die als Klägerin oder Beklagte an einer Streitsache beteiligt ist, dürfen den effektiven Zugang zum Recht ebenso wenig behindern wie Schwierigkeiten aufgrund des grenzübergreifenden Bezugs einer Streitsache.

- Die Prozesskostenhilfe gilt als angemessen, wenn sie dem Empfänger einen effektiven Zugang zum Recht ermöglicht. Sie muss zumindest die konkrete Unterstützung durch einen Rechtsanwalt und die Befreiung von den oder die Übernahme der Prozesskosten einschließen.

- Die Unionsbürger müssen unabhängig vom Ort ihres Wohnsitzes die Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen können, die den Bürgern des Mitgliedstaats des Gerichtsstands gewährt wird.

4.2. Dennoch möchte der Ausschuss auf folgende Aspekte aufmerksam machen, die überdacht werden sollten:

4.2.1. Der Zugang zur Justiz ist ein Grundrecht der Bürger, daher müssen die Vorschriften über Prozesskostenhilfe alle Bürger mit gewöhnlichem Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ungeachtet der Rechtmäßigkeit ihres Status erfassen.

4.2.2. Die Kostenhilfe muss auch in der Phase der Urteilsvollstreckung gewährleistet sein, selbst wenn die Vollstreckung in einem anderen Staat stattfindet als dem, in dem sich das Gericht befindet.

4.2.3. Die Vertretung der Interessen der Bürger muss durch den Rechtsbeistand eines entsprechend ausgebildeten Spezialisten, d. h. eines Anwalts, gewährleistet werden.

4.2.4. Die Unternehmen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, dürfen nicht aus dem Geltungsbereich der diesbezüglichen Vorschriften ausgeklammert werden.

4.2.5. Für das reibungslose Funktionieren des künftigen Systems wäre es empfehlenswert, eine gemeinsame Verkehrssprache festzulegen, und notwendig, die Computersysteme und -programme im Kommunikationsnetz der zuständigen nationalen Stellen kompatibel zu gestalten.

4.2.6. Es sind technische und finanzielle Mittel vorzusehen, die geeignet sind, die Bürger mit dem System vertraut zu machen und Bildungsmaßnahmen für die an der Umsetzung des Systems beteiligten Fachleute durchzuführen.

Brüssel, den 29. Mai 2002.

Der Präsident

des Wirtschafts- und Sozialausschusses

Göke Frerichs

(1) Vgl. Grünbuch über die Prozesskostenhilfe, KOM(2000) 51 endg.

(2) Vgl. Grünbuch über die Prozesskostenhilfe, KOM(2000) 51 endg.

(3) ABl. C 139 vom 11.5.2001.